Es war eine Woche später, an einem warmen
Spätsommerabend. Da sie sich noch immer davor fürchtete, dass Minos sie finden würde,
verließ Tara die Höhle tagsüber so gut wie gar nicht. Die dunkle, bedrückende,
enge Höhle. Sie war froh, wenn die Sonne sich endlich anschickte, schlafen zu
gehen und sie nach draußen konnte. Wie sie wusste, ging Minos nach
Sonnenuntergang nie nach draußen.
Sie war
gerade ins Freie getreten, als ein erstickter Aufschrei sie beinahe wieder in
die Höhle zurückschickte. Da waren ganz in der Nähe zwei ineinander verkeilt,
und als sie näherkam, sah sie, dass der Größere den Kleineren gehörig im Schwitzkasten
hatte. Es waren zwei aus ihrem neuen Stamm, erkannte sie.
„Hey! Hey! Auseinander ihr beiden!“
Die beiden guckten
erst verdutzt, taten dann aber, wie ihnen geheißen. Sie hatten beide dasselbe
schwarze Haar und dieselben blauen Augen.
„Was tut ihr
denn da? Warum prügelt ihr euch?“
„Ach, guck, du
bist ja die Neue. Du kannst ja doch sprechen“, erwiderte der ältere der beiden.
Der Jüngere derweil stand nur still daneben und sah unbehaglich drein.
„Wieso sollte
ich denn nicht sprechen können?“
„Naja, du hast
ja nie geredet.“
Sie hatte in
der Tat bislang versucht, im Hintergrund zu bleiben. So wie Dala es ihr gesagt
hatte. Es war ihr schwer gefallen, da sie ansonsten eigentlich eine gesellige
Person war, aber sie hatte nicht unnötig auffallen wollen.
„Ich kann sehr wohl reden“, sagte sie und stemmte dabei
die Fäuste in die Hüften. „Und ich sage auch, wenn mir was nicht passt. Also,
warum prügelt ihr euch denn wie wilde Tiere?“
„Wir prügeln
uns nicht“, behauptete der Größere. „Ich helfe meinem Bruder hier nur, stärker
zu werden.“
„So sah das
aber nicht aus! Das sah eher so aus, als ob du ihn drangsaliert hast! Er hatte
ja gar keine Chance gegen dich!“
„Ja, weil er sich überhaupt nicht anstrengt“, tadelte der
Beschuldigte mit Blick auf seinen Bruder.
„Das tu ich
sehr wohl!“, empörte der sich.
„Tust du
nicht!“, versetzte der Ältere scharf. „So wirst du nie von den Anderen als Mann
erstgenommen.“ Er schüttelte den Kopf. „Du bist kein Kind mehr, Enn. Mama und
Papa sind schon zu den Geistern gegangen und ich bin auch bald nicht mehr da, um auf
dich aufzupassen.“
Als der Andere jetzt anfing zu schmollen, fragte Tara den
älteren Bruder: „Wo gehst du denn hin?“
„Ach, da ist
ein Mädchen, das nicht genug von mir kriegen kann. Sie lebt aber woanders“,
erzählte er grinsend. „Da geh ich hin.“ Plötzlich fing er an, sie von oben bis
unten zu mustern. „Aber wenn ich dich so ansehe, bist du auch nicht schlecht.
Vielleicht nehm ich mir auch dich und bleibe einfach hier.“
„Du würdest
gar nicht mit mir zurechtkommen, glaub mir!“, lachte Tara.
Er grinste.
„Lass es uns doch herausfinden!“
„Nein, danke.
Sag, wie heißt du eigentlich?“
„Ich bin Tann, und das ist mein Bruder Enn.“
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Tuck erhob sich von dem Krankenlager und schüttelte den
Kopf. „Es tut mir leid, Enn, er ist tot“, sagte er und legte dem Jungen, dessen
Wangen und Kinn inzwischen ein lichter Bart zierte, die Hand auf die Schulter.
Enn starrte
ihn an, als könne er nicht verstehen, was der Andere zu ihm sagte. Sein Blick
glitt vom Stammesführer zu seinem Bruder, der mit totenblassem Gesicht an
seinem Schlafplatz lag. Die Augen, die sich nie wieder öffnen würden, waren
erst vor einigen Momenten ein letztes Mal zugefallen.
Tara legte
automatisch eine Hand auf ihren inzwischen leicht gewölbten Bauch. Als müsste
sie beschützen, was unter ihrem Herzen heranwuchs.
„Schon gut“,
hörte sie Enn jetzt tapfer sagen. „Jetzt ist er wieder bei Mama und Papa und
bei den Geistern, von denen er immer gesprochen hat.“
Er biss sich auf die schon heftig zitternde Unterlippe
und man sah, dass seine Augen längst in Tränen schwammen. Doch dann ließ Tuck
ihn gehen, und Enn nutzte die Chance, nach draußen zu fliehen. Tara hatte sofort
den Drang, ihm nachzugehen. Die letzte Zeit hatte sie ein bisschen auf ihn
aufgepasst, und sie musste gestehen, dass sie noch immer ein Kind in ihm sah,
obwohl er sich immer darüber aufregte.
Mehr noch
hatte sie jedoch mit seinem Bruder Tann zu tun gehabt. Während alle anderen
(außer Tuck) sie nach wie vor mieden, hatte er immer mit ihr gesprochen. Er
hatte ihr von den Geistern erzählt, die in allem lebten, was man sehen konnte.
Davon, wie er ihnen opferte, damit sie auf ihn und seinen Bruder aufpassten. Wie
es schien, hatten sie das aber nicht getan. Er war vor einigen Tagen schwer
krank geworden und dann war alles sehr schnell gegangen. Sie hatten nichts für
ihn tun können.
Deshalb war auch Tara nun ziemlich betroffen. Sie ging
nach draußen, obwohl die Sonne noch am Himmel stand, um nach Enn zu sehen. Aber
anstatt den letzten seiner Familie zu finden, fand Tuck sie. Wie so oft in
letzter Zeit, wenn er ihr gegenüberstand, sah er besorgt aus.
„Es geht euch
doch gut, Tara, oder?“, wollte er wissen.
Seitdem sie
schwanger war, fragte er sie das andauernd. Verstärkt nun, nachdem eine Krankheitswelle ihnen erst einige Stammesmitglieder genommen hatte.
Sie und Tuck hatten vor einiger Zeit
angefangen, das Lager zu teilen, was ziemlich merkwürdig für sie beide gewesen
war. Aber Tuck war sehr liebevoll gewesen, und er war es noch immer. Er
kümmerte sich rührend um sie, dass Dala beinahe grün vor Eifersucht war. Tara
konnte sich ja eigentlich gut vorstellen, so einen Mann wie ihn zu haben,
weshalb es ihr gleich doppelt so schwer fiel zu tun, was sie vorhatte. Wenn nur
nicht Dala gewesen wäre…
„Natürlich.
Mach dir keine Sorgen!“
Da kam Tuck an, um ihr die Hand auf den Bauch zu legen.
Als würde es das merken, fing das Kleine in ihrem Bauch da an, sich zu regen.
Schon als Tara das erste Mal das neue Leben gespürt hatte, das in ihr
heranwuchs, hatte das alles verändert. Da hatte sie gewusst, dass sie ihr Kind
nicht weggeben wollte. Also hatte sie sich entschlossen, heimlich
davonzulaufen.
Als sie jetzt
jedoch in Tucks strahlendes Gesicht sah, brachten die Schuldgefühle sie beinahe
um.
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