Tara knetete nervös ihre Finger, lief auf und ab wie ein
Luchs auf der Pirsch, und sandte unentwegt Blicke zur Feuerstelle hinüber, wo
ihre Anführerin Luma vorm Feuer saß. Sie war die Einzige, der sie sich
anvertraut hatte. Die Einzige, die es wusste. Konnte sie sie also jetzt um
Hilfe bitten? Durfte sie das überhaupt, nachdem sie all die Jahre nicht für ihn
dagewesen war?
Sie war so auf
die Gestalten vorm Feuer fokussiert, dass sie beinahe geschrien hätte, als sich
ihr plötzlich eine Hand auf die Schulter legte. Es war Sen, dem sie nun ins
Gesicht blickte.
„Was ist denn mit dir los? Du tigerst schon seit Stunden
hier hinten herum.“
Tara hatte
keine Ahnung, was tigern bedeutete, aber sie war sowieso mehr um eine Antwort
verlegen, als dass sie das hätte kümmern können. „Oh, es ist nichts! Es ist
alles gut“, log sie schließlich.
„Ist es wegen
deinem Jungen?“, riet Sen jetzt, und ihr Herz blieb beinahe stehen.
„Nein, mit Lu
ist doch alles gut.“
„Ich weiß. Ich
habe gerade erst mit ihm geredet“, merkte er an. „Ich meine deinen anderen
Jungen. Wie hieß er noch gleich? Tucks Sohn.“ Er überlegte. „Rahn, glaube ich.“
Tara
erstarrte augenblicklich, als der Name fiel, den sie vor so vielen Jahren
selber vergeben hatte und der doch so lange schon ihren Mund nicht mehr
verlassen hatte. Und dabei hatte er sie immer beschäftigt. Es hatte keinen Tag
gegeben, an dem sie nicht an ihren ersten Sohn gedacht hatte. An dem sie nicht
bereut hatte, ihn damals zurückgelassen zu haben.
„Ich… ich
weiß nicht, was du meinst“, versuchte sie mit einem schlechten falschen
Lächeln. „Da musst du etwas falsch verstanden haben. Ich bin nicht Rahns
Mutter.“
„Du weißt
schon, dass ich damals bei der Geburt dabei war, oder?“
Da fielen Taras Schultern schließlich mutlos herab und
das immerzu fröhliche Lächeln, das sie schon all die Jahre über wie eine Maske
trug, zerbrach. Für ihren Sohn Lu und ihre Tochter Tanna hatte sie stets
gelächelt, aber es war niemals ganz echt gewesen. Denn seitdem sie ihren ersten
Sohn verloren hatte, war nie wieder alles in Ordnung gewesen. Es hatte immer
etwas gefehlt. Er hatte immer
gefehlt.
„Warum
verleugnest du ihn denn?“, hörte sie Sen jetzt fragen, aber sie antwortete ihm
nicht. „Er ist ein guter Junge, dein Rahn. Tapfer und ehrgeizig. Du schienst
mir auch nie wie jemand, der sein Kind einfach so zurücklässt.“
Damals hatte
ihn das auch nicht gekümmert, aber jetzt war das anders. Jetzt, wo sie eine
Familie waren. Das wusste auch Tara und deshalb sagte sie nun: „Es ist…
kompliziert, aber wenn du mir versprichst, es für dich zu behalten und dich
nicht einzumischen, werde ich es dir erzählen.“
Vielleicht würde er auch wissen, was zu tun ist.
Vielleicht würde er auch wissen, was zu tun ist.
Denn sie hatte so eine Angst um Rahn. Jetzt, wo Dala
gestorben war, und niemand mehr ihn würde schützen können vor ihm.
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Es geschah viele Jahre zuvor...
„Wir haben das Ganze noch einmal besprochen, Tuck und ich“,
sagte Dala, und endlich einmal hielt sie an. „Wir können dich nicht aufnehmen,
so leid uns das auch tut, wenn du uns nicht sagst, woher du kommst und warum du
von dort weggegangen bist. Das wirst du sicherlich verstehen.“
Sie warf der anderen Frau, die erst am vorigen
Tag in ihre Höhle gekommen war, einen bohrenden Blick zu, dass sie sich noch
erbärmlicher fühlte, als sie es ohnehin schon tat.
„Also?“
Doch die
Angesprochene schwieg, zog die Schultern nach oben und richtete den Blick zu
Boden. Sie hatte nicht einmal ihren Namen verraten.
Dala setzte es nun fort, wie ein Raubtier um ihre bedrängte
Beute herumzuschleichen. „Du kannst
gern von hier fortgehen, aber ich sage dir, dass du da draußen niemanden findest,
der dich aufnehmen wird. Nicht, wenn du tatsächlich etwas getan hast, um Minos
zu verärgern.“
Da erschrak
die Andere gewaltig, und Dala lächelte berechnend.
„Ja, ich weiß,
dass du von seinem Stamm kommst. Was hast du also getan, hm? Bist du eines
seiner Kinder? Oder eine seiner Frauen?“ Plötzlich erschien das Gesicht des
Raubtieres direkt vor ihr. „Wenn du willst, dass wir dich aufnehmen, musst du
uns schon die Wahrheit sagen. Du weißt, dass Minos ein… gefürchteter Mann ist.“
Es stimmte.
Minos war überall nur als „der Stier“ bekannt. Er war riesig und kräftig, und
er trug den gewaltigen Schädel eines gehörnten Stieres als Trophäe auf dem
Kopf, den er einst mit bloßen Händen bezwungen hatte. Sein Stamm war groß, und
ebenso die Schar seiner Frauen und Kinder. Aber am größten war sein
Jähzorn. Wenn er sie fand, würde er nicht milde mit ihr umspringen, das wusste
sie. Deshalb war sie auch in diese abgelegene Gegend geflohen, in der Hoffnung,
dass er sie hier nicht finden würde.
Dala zog sich nun wieder zurück. Ihr Gesicht lag im
Schatten, aber dennoch konnte man die Enttäuschung in ihrer Stimme hören. „Wenn
du nicht sprichst, dann musst du gehen.“
Sie wandte
sich ab, ließ sie zurück, und es erzielte genau die Wirkung, die sie sich
erhofft hatte. Die Eingeschüchterte begann zu sprechen. „Ich sollte Feuerwache
halten, aber ich habe nicht aufgepasst und das Feuer ist mir ausgegangen“,
gestand sie.
Das war in der
Tat eine schlimme Sache. Das Feuer war überlebenswichtig und deshalb musste
immer jemand da sein, der es mit Holz fütterte und darauf aufpasste, dass es
nicht ausging, weil niemand wusste, wie man neues machen konnte. Erlosch es
doch einmal, musste man neues Feuer von einem anderen Stamm besorgen, aber Minos
hatte sich alle umliegenden Stämme zum Feind gemacht. Und selbst wenn sie
irgendwie neues Feuer besorgt hätte, wäre es schon zu spät gewesen. Minos hätte
ihr Vergehen längst bemerkt, und sie wusste, wie schrecklich seine Bestrafungen
sein konnten. Flucht war die einzige Möglichkeit gewesen.
Dala sah sie eine ganze Weile lang schweigend an, bevor
sie sagte: „Da hast du ganz schön Mist gebaut. Minos wird nicht erfreut darüber
sein. Dich aufzunehmen bedeutet für uns alle Gefahr.“
„Bitte! Du
hast doch gesagt, ihr nehmt mich auf, wenn ich die Wahrheit sage!“
„Ich sagte
nichts dergleichen, aber sowieso: Minos ist
mächtig. Und sein Stamm ist groß. Wenn du willst, dass wir dich schützen,
muss sich das auch für uns lohnen.“
Die Andere zog
sich zurück. „Was wollt ihr, dass ich tue?“, fragte sie vorsichtig.
„Ich will ein
Kind“, offenbarte Dala unverblümt. „Und wenn du es mir austrägst, kannst du
bleiben.“
Da war die
Flüchtige erstmal eine Weile still. Sie dachte nach, während Dala immer
ungeduldiger wurde. Für die Frau eines Stammesführers war es eine Katastrophe,
keine Kinder bekommen zu können. Das war allgemein bekannt.
„Ich will aber keine Kinder“, gab sie trotzdem zur
Antwort.
„Du sollst ja
auch nicht die Mutter sein!“, fauchte Dala gereizt. „Ich werde es sein, und du wirst dich gefälligst davon fernhalten
und so tun, als hättest du es nicht geboren!“
„Na schön“,
willigte die Flüchtige ein. Hauptsache, sie konnte bleiben.
Da machte sich
wieder ein zufriedenes Lächeln auf Dalas Gesicht breit. „Wie ist dein Name?“,
fragte sie.
„Tannaharahna.“
„Von heute an
wirst du Tara sein. Wir schneiden dir die Haare und du bekommst neue Kleider,
und dann hältst du dich schön im Hintergrund.“
Tara nickte
zaghaft, dann fragte sie: „Und wer soll der Vater für das Kind sein?“
„Mein Mann
Tuck natürlich. Aber du wirst ihm nichts von unserer Abmachung erzählen,
verstanden? Er will schon jetzt nicht, dass du bleibst, und ich muss zusehen,
dass ich ihn überrede, dass du doch bleiben kannst.“
Das stimmt natürlich nicht. Tuck hatte sie freundlich
empfangen, auch wenn er vorsichtig gewesen war. Er war schließlich das
Oberhaupt des Zoth-Stammes und hatte die Verantwortung für alle anderen in seinem
Stamm, und sie hatte sich über ihren Hintergrund ausgeschwiegen wie ein Grab.
Sie hätte sonst wer sein können. Eine Diebin oder Mörderin gar.
Aber trotzdem
hatte Tuck sie über Nacht bleiben lassen und er hätte sie auch aufgenommen,
wenn sie weiter geschwiegen hätte. Er war ein herzensguter, tapferer Mann, wie
sie bald schon herausfinden sollte, und manches Mal sollte sie sich fragen, ob
es nicht besser gewesen wäre, bei ihm zu bleiben. Nicht, dass Dala das
zugelassen hätte.
Dala, die das
eigentliche Biest im Stamm war. Sie konnte freundlich, warm und liebevoll sein,
aber auch gnadenlos und kaltherzig. Sie war eine berechnende Person, die andere, inklusive Tuck,
nach ihrem Willen manipulierte, und Tara fiel an diesem Tag das erste Mal auf
sie herein.
Auch tat Dala die nächste Zeit alles in ihrer Macht
stehende, damit die andere Frau nicht ihren Platz an Tucks Seite einnahm. Sie
sorgte dafür, dass Tara eine Außenseiterin im Stamm blieb.
____________________________Hier weiterlesen -> Teil 2
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