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Freitag, 27. April 2018

Kapitel 47 - Die Dinge, die wir tun, und deren Auswirkungen I

WARNUNG: Dieses Kapitel behandelt sexuelle Gewalt. Für alle diejenigen, denen dieses Thema nahegeht, und die es deshalb nicht lesen wollen, gibt es nachfolgend eine kurze Zusammenfassung. Einfach auf den Spoilerbutton klicken.  

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Aan war der Erste, der am nächsten Morgen auf den Beinen war. Noch bevor die Sonne auch nur daran denken konnte, sich am Horizont zu zeigen, war er aufgewacht, hatte sich hastig sein am Vorabend zusammengepacktes Frühstück gegriffen und war mit einem Speer bewaffnet aufgebrochen, bevor ihn irgenjemand hätte sehen können. Er hatte niemandem außer Elrik Bescheid gegeben, weshalb es auch nur sein Freund war, der ihn an diesem Morgen noch ein Stück weit begleitete und der nicht aufhören konnte, ihn von seinem Vorhaben abbringen zu wollen.
     Doch obwohl Aan sonst nicht gerade für seine Sturheit bekannt war, ließ er sich diesmal nicht reinreden. Er hatte sich ein Ziel gesetzt und er würde es mit aller Kraft versuchen zu erreichen. Das hatte er sich geschworen. Und wenn er dabei draufgehen würde!


Es brauchte Mut und Stärke, um Jana zu beeindrucken, aber als der Wald, der ihn noch immer an den unheilvollen Tag erinnerte, an dem er auf einem Auge erblindet war, groß und dunkel vor ihm aufragte, wurde ihm doch etwas flau im Magen. 
     Er hielt inne und warf dem Speer in seiner Hand einen unsicheren Blick zu. Auch damals waren sie bewaffnet gewesen, aber es hatte ihnen nichts genützt. Sicher, Elrik hatte ihren einzigen Bogen gehabt, aber Aan wusste, dass er an seiner Stelle ebenfalls nicht hätte schießen können. Er war selber von der Angst überrumpelt gewesen und war dann feige weggerannt, hatte alle im Stich gelassen, obwohl er davor noch so große Töne gespuckt und Jana ausgelacht hatte.


Doch diesmal würde er nicht kneifen. Er würde hoch erhobenen Hauptes in den Nebelwald gehen, den er schon seit Jahren um jeden Preis mied, würde ordentlich Beute machen und damit zum Stamm zurückkehren, um Jana zu beweisen, dass er inzwischen ein gestandener Mann war. Ein Mann, der dazu taugte, ihr Gefährte zu werden. Nie wieder sollte sie denken, dass er schwach oder gar feige war.


Doch leider war das einfacher gesagt als getan. Es war ja nicht so, dass er bei den gelegentlichen Jagdübungen sonderlich aufgepasst hätte. Er hatte ja, wenn er ehrlich war, auch nicht damit gerechnet – oder besser gesagt, nicht gehofft –  solch ein Wissen jemals zu brauchen.
     Jetzt jedoch stellte sich heraus, dass er es brauchte. Und dass diese veraltete Sache gar nicht so einfach war wie gedacht. Spuren finden, Fährtenlesen, schleichen.


Er scheiterte schon daran, Wild zu finden. Vom Erlegen konnte da gar keine Rede sein.


Er war ja schon froh, wenn er nicht zur Beute wurde.


Als der goldene Morgen schließlich einem blauen Mittagshimmel gewichen war, hatte er beinahe den gesamten Wald einmal von vorne bis hinten durchquert, ohne auch nur ein Tier erlegt zu haben. 
     Er erreichte gerade die Lichtung, an deren Ende er einst gesessen und sich die Augen aus dem Kopf geweint hatte. Es war keine schöne Erinnerung, aber momentan war er viel zu frustriert über seine fehlende Ausbeute, um daran zu denken. Mut und Entschlossenheit waren ja schön und gut, aber sie machten leider fehlendes Fachwissen und mangelndes Talent nicht wett, wie er nun einsehen musste.


Während er sich dessen bewusst wurde, und er schon darüber nachdachte, nicht doch einfach umzudrehen und aufzugeben, glitt sein Blick über die Lichtung aus seiner Kindheit. Für einen Moment drohten düstere Erinnerungen hochzukommen, doch dann wurde er auf etwas anderes aufmerksam. 
     Ein kleiner, heller Fleck in der Ferne. Das Weiß des Fells hob sich beinahe etwas unnatürlich von dem umgebenden Grün ab, lag da ein kleines Lamm an beinahe der Stelle, an der er selben vor vielen Jahren einst gesessen und geweint hatte. Ein Muttertier war nirgends zu sehen. 
     Er konnte sein Glück kaum fassen. Das würde leichte Beute werden. 


Jana rannte aufgeregt durch den Wald. Baumstämme preschten an ihr vorbei und das ein oder andere Mal verfing sich ihr langer Zopf im Gestrüpp oder eine Wurzel meinte, mit ihrem Fuß Bekanntschaft machen zu müssen. Doch obwohl sie schon dreimal gestürzt war, hatte sie den Schmerz abgeschüttelt, hatte sich aufgerappelt und war weitergerannt. Nicht einmal der widerliche Schmerz, der ihr inzwischen in die Seite stach, konnte sie aufhalten.


Als sie an diesem Morgen aufgewacht war, war sie eigentlich erstaunlich bester Dinge gewesen und das, obwohl sie am Abend zuvor noch voller Sorge eingeschlafen war. 
     Aan war erst sehr spät zurückgekommen. Sie hatte sich schon früh in ihr Schlaffell eingerollt, aber sie hatte dennoch wachgelegen, bis alle um sie herum schon tief geschlafen hatten und Aan dann schließlich als Letzter aufgetaucht war. Sie hatte sein Gesicht nicht gesehen – sie hatte sich ja schlafend gestellt und nur einen vorsichtigen Blick unter ihren Lidern hindurch gewagt – aber allein der Gedanke, wie erbärmlich er wohl gerade aussehen mochte, hatte ihr dann noch ein paar mehr Stunden an Schlaf gekostet.
     Doch obwohl sie kaum geschlafen hatte, hatte dieser Morgen immerhin mit einer guten Sache aufzuwarten. Denn ihre Mutter hatte sich gestern endlich dazu bereit erklärt, ihre Kleidung zu ändern. Sie hatte den ganzen Abend daran gesessen und heute Morgen hatte Jana endlich ordentliche Kleidung erwartet. Ein solides, festes Hemd und ein Fellwickel, ähnlich dem, den ihr Vater trug. Auch wenn sie es bevorzugte, Hosen darunter zu tragen. Sie konnte der Beinfreiheit, die ihr Vater so sehr liebte, jedenfalls nicht so viel abgewinnen.    


Doch dann war plötzlich Elrik aufgetaucht, mit einem Gesicht, als hätte er etwas verbrochen und Jana hatte sofort böses geahnt. Und sie hatte Recht behalten sollen. Wie er erzählt hatte, war Aan gegangen, um im Nebelwald zu jagen. Zu jagen! Um sie zu beeindrucken! 
     Jana wusste wirklich nicht, was er sich davon versprach, aber sie wusste, dass es ihr einen riesigen Schrecken eingejagt hatte und dass sie zusehen musste, ihn zu erreichen, bevor er etwas Dummes tat. Wie, sich in Gefahr zu bringen. Gefressen zu werden. Sich zu verletzen. Und zu zerstören, was er war. 
     Das durfte nicht passieren! Sie würde nie zulassen, dass Aan zerstörte, was er für sie war!


Also war sie überstürzt aufgebrochen. Sie hatte weder gefrühstückt, noch daran gedacht, sich ordentlich zu bewaffnen. Sicher, sie trug immer ein Messer bei sich, aber das würde ihr auch nicht viel helfen, wenn sie einem Raubtier gegenüberstand. 
     Doch obwohl sie das wusste und obwohl sie wusste, dass sie besser leise sein und keine Jäger auf sich aufmerksam machen sollte, achtete sie nicht einmal darauf, wohin sie trat. Die Angst um Aan trieb sie vorwärts und hatte jegliches Denken aus ihrem Kopf verbannt. Doch um ihn zu beschützen, würde sie auch ihr eigenes Leben riskieren.
     Eine flüchtige Bewegung, die sie aus den Augenwinkeln heraus wahrnahm, ließ sie abrupt innehalten. Sie hatte beinahe den Rand des Waldes erreicht und schon befürchtet, umdrehen und in einer anderen Richtung suchen zu müssen. Doch da war Aan. Er hockte jenseits einer großen Lichtung, einen Speer in der Hand und bewegte sich nicht. Und war das da etwa ein Lamm zu seinen Füßen?
     Jana erstarrte, als sie das sah. Hatte er tatsächlich bereits etwas erlegt? Hatte er etwa wirklich getötet? Zerstört, was er war? Die Angst darüber ließ ihr Herz erschrocken aussetzen, bevor sie sich wieder zusammenreißen und gehen konnte, um nachzusehen. Wenigstens schien er unverletzt. Auch wenn man das über die Entfernung schlecht sagen konnte.


Der Angesprochene fuhr in die Höhe, als sie seinen Namen laut über die Lichtung hinweg rief, jegliche Vorsicht vollkommen in den Wind geschlagen. Er ließ vor Schreck seinen Speer fallen, aber als sie vor ihm zum Stehen kam, hatte er ihn bereits wieder in der Hand. In seinem Gesicht ein Ausdruck grimmiger Entschlossenheit, den sie so gar nicht von ihm kannte.
     Zu ihrer unendlichen Erleichterung sah sie jetzt auch, dass er tatsächlich unverletzt war, ebenso wie das Lamm, das gerade putzmunter in die Büsche davon sprang.


„Was soll das hier werden?“, stellte sie ihn zur Rede. „Was zum Kuckuck machst du hier?“
     Sie hatte solche Angst gehabt, ihm nach dem gestrigen Tag gegenüber-
zutreten, aber jetzt war sie einfach nur noch wütend. Wütend von der Angst durchgeschüttelt, und erleichtert.
     „Nach was sieht es denn aus?“
     „Ich weiß, was du hier machst, verdammt!“, fuhr sie ihm dazwischen. „Aber was soll das? Bist du lebensmüde, oder was? Glaubst du, ich bin beeindruckt, wenn du sowas Bescheuertes machst?“
     „Ich werde dir nur beweisen, dass ich sehr wohl stark und mutig sein kann“, behauptete er.


Doch das reichte ihr jetzt. Sie wollte nicht mehr über dieses Thema reden. Sie hatte alles dazu gesagt, was es zu sagen gab. Also riss sie ihm kurzerhand den Speer aus der Hand, bevor er sich noch ernsthaft damit verletzen konnte. Er wusste doch nicht einmal, wie man damit umging.
     Das hielt ihn aber trotzdem nicht davon ab, sich zu beschweren, als sie ging, um den Speer außerhalb seiner Reichweite an einen Baum zu lehnen.


„Dann sag mir, was ich sonst tun soll, um dich zu beeindrucken!, entgegnete er wütend. Ich versuche mein Bestes, um dir zu gefallen, aber anscheinend war ich nicht gut genug für dich. Aber wenn ich es versuche, lässt du mich nicht und behandelst mich wie ein Kind, das nicht weiß, was es tut. Ich bin aber kein Kind mehr! Ich bin inzwischen ein Mann, Jana!“
     Jana hatte genug. Sie hatte gehofft, dass er ihre Abweisung hinnehmen würde und sich eine andere Frau suchte, die besser zu ihm passte. Eine, die ihn nicht dauernd in Gefahr brachte. Aber stattdessen hatte er genau das Gegenteil getan. Er war gegangen, um sich selber in Gefahr zu bringen.


Sie atmete tief durch, schalt sich, ruhig zu bleiben. Wenn sie es nur schaffen könnte, wütend zu werden. Das hatte ihr zwar gestern auch nicht geholfen, aber es war dennoch besser, als gar nicht zu wissen, was sie tun sollte.


Als sie sich umdrehte und zu ihm zurückging, war sie deshalb ungewöhnlich ruhig. 
     Bevor er wusste, wie ihm geschah, hatte sie die Hände gehoben und ihm die Augenklappe entwendet. Hatte entblößt, was er noch nie jemandem gezeigt hatte.
     Oder zumindest hatte sie es versucht. Aan jedoch reagierte geistesgegenwärtig. Er schloss sein erblindetes Auge, bevor sie auch nur einen Blick darauf erhaschen konnte.
     „Zeig es mir!“, forderte sie entschlossen. „Oder bist du zu feige dafür?“


Sie hatte genau ins Schwarze getroffen. Das sah sie in seinem Gesicht. Er brauchte aber dennoch eine Weile, bis er sich schließlich auch dazu durchringen konnte, ihr zu zeigen, was er all die Jahre immer versucht hatte zu verstecken. Nicht einmal beim Schlafen hatte er seine Augenklappe abgenommen.
     Und als er sein Lid schließlich öffnete und Jana in das trübgewordene, pupillenlose Auge blickte, erschrak sie. Da war nur noch weiß. Die Pupille war ein klein wenig grauer, aber der schwarze Punkt in der Mitte war vollkommen verschwunden.
     Das war es, was sie ihm angetan hatte. Dafür war sie verantwortlich. Das durfte sie nie vergessen. So sehr sie seit gestern auch immer wieder in ihrem Entschluss geschwankt hatte, sie durfte ihn nie wieder in Gefahr bringen. Sie würde nie wieder zulassen, dass er sich wegen ihr verletzte.


Sie schluckte schwer, dann versteckte sie wieder unter der Augenklappe, was sie nicht länger sehen konnte. Die Schuld wog momentan einfach zu schwer und sie hatte Angst, bald davon erschlagen zu werden.
     „Siehst du und deswegen sollst du nicht sowas Gefährliches machen“, mahnte sie ihn streng. „Sonst verletzt du dich nur wieder.“


Dann trat sie an ihn heran und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Es war das Einzige, was sie ihm jemals würde geben können.
     „Ich weiß, dass du inzwischen ein Mann bist, und du bist ein toller Mann, Aan. Du wirst bestimmt irgendwann eine Frau sehr glücklich machen, aber das werde nicht ich sein. Tut mir leid.“


Sie hatte versucht, einfühlsam zu klingen, obwohl sie wusste, dass sie darin nicht sonderlich gut war. Jetzt versuchte sie zu lächeln, als sie ihm die Hand hinstreckte, die er nicht ergreifen sollte. Ihr Lächeln bröckelte.
     „Komm, lass uns zusammen nach Hause gehen!“, schlug sie vor. „Es ist zu gefährlich für dich allein im Wald.“


Doch Aan, der sie ihren ganzen Monolog über nur verstört angesehen hatte, fand in diesem Moment seine Fassung wieder. Und seinen Stolz.
     „Ich brauche deinen Schutz nicht!“, sagte er mit brüchiger Stimme, die Jana sagte, dass er wahrscheinlich seine Tränen zurückhielt. „Ich kann allein auf mich aufpassen!“


Dann ging er, nahm den Speer, den er hierher gebracht hatte, und ließ sie stehen. Seine Sturheit hatte die Wut in sein Gesicht gemeißelt. Er würde nicht zulassen, dass sie ihn weinen sehen würde. Dass sie ihn jemals wieder wanken sehen würde. Er war damit fertig. Mit ihr fertig. Er würde nie wieder so schwach sein zu weinen.
     Doch alles, was Jana in diesem Moment beschäftigte, waren seine letzten Worte. Die Worte, die sie tief drinnen getroffen und etwas in ihr zerbrochen hatten.
     „Ich brauche deinen Schutz nicht! Ich kann allein auf mich aufpassen!“, hatte er gesagt.
     Und dabei hatte sie alles, was sie bislang getan hatte – die Trainingseinheiten, ihre Entschlossenheit doch nur dafür getan, um Aan beschützen zu können.


Rahn war Dia Hell bis an den Rand des Nebelwaldes gefolgt. Seitdem er sein Haus verlassen hatte, hatte Rahn ihn beobachtet. Er war ihm dicht auf den Fersen gewesen, aber immer so weit entfernt, dass er nicht gehört werden würde. Und Dia Hell hatte ihn nicht gehört. Rahn war der beste Jäger in der Gegend und seine Beute war vollkommen ahnungslos.


Er hatte gewartet. Auf die perfekte Gelegenheit, darauf, freies Schussfeld zu haben, das er schon lange gehabt hatte. Jetzt, da Dia Hell auf den Wald zusteuerte, konnte er jedoch nicht länger warten. Also legte er an. Der Pfeil eingespannt, zielte er das erste Mal in seinem Leben auf einen Menschen.
      Es war nicht anders, als bei einem Tier. Zumindest hatte er sich das immer wieder gesagt. Doch jetzt, als er den Mann, der wahrscheinlich nicht einmal seinen Namen kannte und über den sein Hass die letzten paar Tage dennoch bis ins Unermessliche gestiegen war, ins Visier nahm, zitterte sein Pfeil plötzlich.


Nein, nicht sein Pfeil. Er war es, der zitterte. Der zweifelte. Konnte er das wirklich tun? War es wirklich das Richtige zu tun? 
     Er hatte schon so viele Leben beendet, aber nie war eines davon menschlich gewesen. Er hatte schon so oft getötet, aber immer aus der Notwendigkeit heraus. Niemals hatte er dabei Hass oder Wut empfunden. Es waren arglose, unschuldige Tiere gewesen. Jetzt aber war er dabei, auf einen arglosen Menschen zu schießen, der alles andere als unschuldig war.


Ja, er war nicht unschuldig. Dia Hell war abgrundtief böse. Wenn er allein daran dachte, was Anya ihm erzählt hatte. Er war kein Tier, nicht einmal das wollte Rahn ihm zustehen. Er war ein Unmensch, ein Monster, das aus dem Verkehr gezogen gehörte, bevor er weiteren Schaden anrichten konnte.
     Also legte Rahn erneut auf ihn an, bevor er die Chance erhalten würde, in die Sicherheit des Waldes abzutauchen. Er würde es tun! Er würde Dia Hell töten! Ihn aufhalten und all seinen schrecklichen Taten endlich ein Ende bereiten!


Er konzentrierte sich. Zielte. Doch in seinem Fokus geriet ihm seine Umgebung scheinbar aus dem Auge. Vielleicht war es auch seinem Zweifel zuzuschreiben. Jedenfalls tauchte Jana so plötzlich vor ihm aus, dass es ihm schien, als sei sie aus dem Nichts erschienen. Sie hatte die Arme verschränkt und starrte wütend zu ihm herauf.
     „Was, verdammt nochmal, machst du da, Rahn?“
     „Geh aus dem Weg, Jana!“, erwiderte er unbeeindruckt, ohne sein Ziel dabei aus den Augen zu lassen.
     „Sag mal, spinnen heute alle, oder was? Du kannst doch nicht auf jemanden schießen! Das hast du mir selber beigebracht!“
      Das stimmte. Es war eines der Dinge, die er ihr einmal gesagt hatte, als sie zusammen auf der Jagd gewesen waren. Es war eine selbstverständliche Sache, aber er hatte einfach sichergehen wollen. Er hätte auch nie gedacht, dass sie ihm einmal seine eigenen Worte vorhalten würde. Er hätte auch niemals gedacht, jemals einen Menschen töten zu wollen.


Er ließ den Bogen sinken und sah ihr nun erstmals ins wütende Gesicht. „Geh bitte aus dem Weg, Jana! Dieser Mann da hat deinen Schutz wirklich nicht verdient! Im Gegenteil! Du kannst dir gar nicht vorstellen, was er bereits alles getan hat!“, versuchte er zu erklären. „Er muss aufgehalten werden und ich werde derjenige sein, der das tut!“
     Doch Jana blieb uneinsichtig und unverrückt an Ort und Stelle stehen. „Du hörst dich schon fast an wie Tann! Du kannst doch nicht einfach losgehen und Leute erschießen! Woher weißt du überhaupt, was er so alles Böses getan hat?“


Er würde ihr eine Antwort jedoch schuldig bleiben. Unbeeindruckt ging er an ihr vorbei und sagte: „Das geht dich nichts an, Jana! Geh nach Hause!“
    

Jana konnte ihn nicht aufhalten. Aber sie würde ihn auch nicht so einfach gehen und jemanden umbringen lassen. Waren heute nur alle vollkommen verrückt geworden?
     Also holte sie ihren Bogen, den sie für ihre gelegentlichen Jagdausflüge mit Rahn in einem unweit gelegenen ausgehöhlten Baumstamm versteckt hielt. Sie hatte nicht vor, auf Rahn zu schießen, aber sie war trotzdem lieber bewaffnet. Gegen wilde Tiere, aber auch gegen Dia Hell, von dem so viele sagten, dass er böse war.


Sie wusste nicht, ob das stimmte. Aber was sie wusste, war, dass sie Rahn finden musste. Das Problem war nur, dass sie ihn nirgends finden konnte. Wie es sich für einen Jäger seines Kalibers gehörte, hatte er kaum Spuren hinterlassen. Dafür jemand anderes schon. Zumindest fand sie bald schon große Fußspuren, denen sie folgen konnte. Sie mutmaßte, dass es Dias waren. Und wo Dia Hell war, würde mutmaßlich auch Rahn sein.
     Doch sie hatte schon wieder die Stelle erreicht, an der sie Aan zuvor hatte stehen lassen und er blieb noch immer verschwunden. Sowohl er als auch Rahn.


Ihre Lungen protestierten inzwischen brennend, weshalb sie sich eine Verschnaufpause erlaubte. Sie fluchte. Sie hätte Rahn lieber doch sofort folgen sollen.


Alles, was sie hörte, war ihr eigener Atem und ihr Herzschlag, der ihr viel zu schnell in ihren Ohren schlug. Deswegen hörte sie nicht, wie sich ihr jemand von hinten näherte. 
     Im nächsten Moment hatten sich zwei Arme wie Seile um sie geschlungen. Jana keilte ganz automatisch nach hinten aus, doch ihre Arme waren gefangen und ihre Beine verursachten nur unzureichenden Schaden, dort, wo sie trafen.
     „He! Was soll das? Lass mich los!”, forderte sie.
     „Ach, wen haben wir denn da?“ Es war eine tiefe Stimme, die nahe an ihrem Ohr erklang und sie erkannte Dia Hell in ihr.


Sie begann sich nach allen Kräften zu wehren, aber er hielt sie fest umschlossen. Im nächsten Moment hatte er sie herumgeworfen und der Boden an ihrem Rücken und sein Gewicht pressten ihr die Luft schmerzhaft aus den Lungen.
     „Wenn das mal nicht die Kleine von diesem Mistkerl ist, der mich geschlagen hat. Hätte nicht gedacht, dass er so eine ansehnliche Tochter hat.“
     Janas Forderungen waren inzwischen zu einem wütenden Schreien geworden, doch egal, wie laut sie auch war, ihre Schreie verhallten ungehört in der Tiefe des Waldes. Niemand konnte sie hören. Sie wand sich unter ihm, stemmte sich mit aller Kraft gegen ihn, aber es war ihr unmöglich, sich zu befreien. Seine Arme und Beine nagelten sie an den Boden.
     „Mit dir werde ich viel Spaß haben.“


Und da erstarrte sie schließlich. Als sie in die erbarmungslosen, grünen Augen sah, die sie gierig anstarrten, wusste sie, dass Rahn recht gehabt hatte. Und dass sie nicht gegen Dia Hell würde bestehen können. Sie war ihm wehrlos ausgeliefert.
     Als ihr das bewusst wurde, gefror ihr das Blut in den Adern. 

Hier weiterlesen -> Kapitel 48 

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