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Sonntag, 22. Mai 2022

Kapitel 153 - Warum du fortgehen musst


„Warum hast du es mir nicht gesagt?“, forderte Luis zu wissen, als sie ungestört waren.
     „Ich wusste ja nicht… ich konnte ja nicht ahnen, dass du derjenige bist, den meine Göttin mich ausgesandt hat, zu finden. Ich dachte immer, dass es sich bei der Kreatur, die ich finden sollte, um ein Tier oder eine Art Mischwesen aus Mensch und Tier handeln müsse.“
     „Ich weiß, dass das vielleicht etwas merkwürdig klingen mag, aber weißt du etwas von einer großen, aufrecht gehenden Gestalt, die zwei spitze Ohren auf dem Haupt hat, langes Fell und Schnurrharre?“
      Luis erinnerte sich noch genau an diese Worte. Er hatte sie bislang vergessen, war von seinem Herzen abgelenkt worden, aber seitdem er diese schauerliche Vision gehabt hatte, waren die Worte kristallklar zu ihm zurückgekehrt. Seitdem er das Feuer gesehen hatte, den Tod, die Zerstörung, die über sie kommen würden, wenn Luna diese Kreatur nicht finden und an einen anderen Ort bringen würde.


„Ich habe die Kreatur bislang immer nur als schattenhafte Gestalt gesehen“, fuhr Luna fort, „und hatte nicht bedacht, dass es ein Mensch sein könnte. Jemand mit langem Haar, einer Mütze auf dem Kopf und Bemalung im Gesicht. Jemand… wie du.“
     Er wollte ihr liebend gern sagen, dass es gar nicht sicher war, dass er diese Gestalt war, aber er wusste es leider besser. Er hatte ihre Vision schließlich geteilt. Er hatte es ebenso gefühlt, dass er der Gesuchte war, wie sie, als sie ihn berührt hatte.
     „Und was soll das jetzt heißen?“, fragte er stattdessen aufgekratzt. „Dass ich meine Heimat verlassen soll, um – was? Wo soll ich eigentlich hingehen?“
     „Ich weiß es nicht.“ Sie machte eine bedeutungsschwere Pause. „Ich weiß nur, dass du von hier fortgehen musst.“


„Warum sollten die Götter von mir verlangen, meine Heimat zu verlassen? Meine Familie, meine Freunde, meine Aufgabe – warum sollten sie verlangen, dass ich all das zurücklasse und ins Unbekannte ziehe?“
     „Um die Katastrophe zu verhindern“, führte sie das Offensichtliche an.
     „Wir wissen nicht einmal, was das für eine Katastrophe ist, wodurch sie ausgelöst wird und ob es überhaupt diese Gegend ist, über die sie hereinbrechen wird.“
     Es stimmte. Er hatte zwar Tod und Zerstörung gesehen, aber das konnte ja vielerlei Ursachen haben. Von dem Krieg, der ihnen bevorstand, bis zu Naturkatastrophen. Und in der Vision, die er vorher mit Luna geteilt hatte, hatte er auch kaum eine Örtlichkeit erkannt. Es konnte genauso gut die Gegend sein, wo er hingehen sollte. Oder eine ihm gänzliche Unbekannte.


„Aber selbst, wenn es nicht deine Heimat ist, die verwüstet werden soll: Könntest du wirklich verantworten, dass eine andere Gegend dieses Schicksal erleidet, wenn du es verhindern könntest?“
     „N…nein, natürlich nicht…“, erwiderte er geschlagen. „Ich kann nur nicht verstehen, warum die Götter das ausgerechnet von mir verlangen. Wer bin ich schon, und was soll ich schon gegen Krieg oder Naturgewalten ausrichten?“
     „Wer sind wir schon, dass wir das wissen könnten? Die Pläne der Götter sind manchmal zu groß und nicht ersichtlich für uns, aber wir müssen darauf vertrauen, dass sie uns sicher durch diese schweren Zeiten führen, die vor uns liegen.“
     „Ja, du hast recht…“ Er seufzte schwer. „Ich wünschte nur, ich müsste dafür nicht meine Heimat verlassen, um irgendwohin zu gehen, wo ich nichts und niemanden kenne. Wo ich niemanden habe…“


Es war einen Moment lang bedrückend still, Luis rutschte in seine schwermütigen Gedanken über das, was ihm bevorstand, ab, und Luna sagte auch nichts mehr. Erst, als er plötzlich ihre kleinen, kalten Finger an seinem Arm spürte, kehrte er in die Wirklichkeit zurück, und obwohl er momentan alles andere wollte als das, beschleunigte sich sein Puls augenblicklich und die Aufregung, die er verloren gehofft hatte, kam zu ihm zurück.
     „Ich kann dir natürlich nicht deine Familie oder deine Freunde ersetzen, aber… du hast ja noch mich. Also, ich werde dich natürlich begleiten“, fügte sie hastig hinzu. „Dann kennst du wenigstens schon jemanden in der Ferne.“


Er hörte die Aufregung in ihrer Stimme, aber es erreichte ihn nicht. Ein ekliger, bitteren Klumpen hatte sich in seinem Magen gebildet. Er entzog sich ihrem Griff, erwiderte kalt: „Ich brauche dein Mitleid nicht. Ich komme sehr wohl ohne Hilfe zurecht. Ich bin nicht lebensunfähig, wie du glaubst, nur, weil ich nicht sehen kann.“
     „T-tut mir leid! Ich wollte dich nicht beleidigen…“
     Der Klumpen löste sich, wich einem anderen Gefühl, das überhaupt nicht zu seiner Bitterkeit passte: Unsicherheit. Warum fühlte er sich plötzlich so? Warum brachte allein Lunas Anwesenheit ihn so sehr aus der Fassung, dass er nicht einmal normal mit ihr reden konnte? Sicher, er war in sie verliebt, hatte seine Aufregung ihr gegenüber bislang immer darauf geschoben gehabt, aber jetzt, als dieses völlig unpassende Gefühl ihn erreichte, fragte er sich plötzlich: Fühlt sie das? Sind das etwa ihre Gefühle, die ich gerade spüre?


Als ihm das aufging, ging er wieder zu ihr, näher noch, als zuvor, und sofort flammte die Aufregung erneut in ihm auf wie ein alles verzehrendes Feuer, obwohl er vorher ganz ruhig gewesen war. Er war es noch immer irgendwie.
     „Ich glaube, dass es einfach eines mutigen ersten Schrittes deinerseits bedarf“, kamen ihm die Worte seines Vaters in den Sinn.
     Also tat er den Schritt. Nahm allen Mut zusammen, kämpfte ihre und auch seine Aufregung, die ihn zurückzuhalten versuchte, nieder, und tastete nach ihrem Gesicht. Er legte ihr die Hand auf die Wange, nahm ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, beugte sich zu ihr und küsste sie erneut.


Wie schon damals, erstarrte sie dabei, bewegte sich keinen Millimeter breit, doch diesmal konnte er genau spüren, was sie dabei empfand. Die Aufregung, die Hitze, dass er glaubte, sein Herz würde versagen. Der Schrecken, als er schließlich wieder von ihr zurücktrat. Und plötzlich nur noch Bedauern. Abgrundtiefes, vernichtendes Bedauern.


„Warum kann ich fühlen, was du fühlst?“, fragte er sie geradeheraus. Jegliche Aufregung, die er einst vor ihr empfunden hatte, war vergessen, seitdem ihm das bewusst geworden war.
     Sie brauchte eine ganze Weile, um stotternd zu antworten: „Weil ich mich – unabsichtlich – spirituell mit dir verbunden habe, als wir uns das erste Mal getroffen haben…“
     „Du gabst mir, „was mir fehlte“.“
     „Das hat Silberauge einst zu mir gesagt“, stellte sie überrascht fest.
     „Ich weiß. Ich habe es gesehen. Ich habe Visionen, seitdem ich dich damals getroffen habe.“


„Oh, Luis, es tut mir so schrecklich leid, dass ich dir das angetan habe! Dass ich so vermessen gewesen war, dir diese Last der Sicht aufzubürden!“
     „Warum meinst du, es sei eine Bürde für mich?“
     „Ich habe mich schon einmal mit jemandem verbunden“, erzählte sie betrübt. „Ihr Name war einst Luna, aber den alten Traditionen meiner Heimat gemäß trägt sie jetzt den Namen, der mir bei meiner Geburt verliehen wurde: Mari. Doch bei der Verbindung habe ich ihr ebenfalls etwas von meiner Sicht aufgebürdet, die mir von der großen Göttin gegeben wurde. Und Mari hat es immer als Last empfunden.“


„Ich empfinde es aber nicht so. Ich will nicht lügen, ich wollte diese Gabe am Anfang auch liebend gern wieder loswerden, doch inzwischen empfinde ich das nicht mehr so. Denn sie – und du – ihr habt mich auf meinen Weg zurückgeführt. Zu den Göttern.“ Er nickte, seiner selbst endlich wieder sicher. „Das darf ich nicht vergessen. Wo auch immer ich hingehe, bin ich niemals allein, weil mich die Götter begleiten werden“, wiederholte er Janas Worte. „Und – du hast recht – wenn es ihr Plan ist, dass ich von hier fortgehen muss, dann werde ich das tun.“
     Erneut breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus. Luna freute sich still für ihn, dass er sein Schicksal akzeptiert hatte, und Luis dachte über die Fragen nach, die er ihr noch stellen wollte.


„Luna, da gibt es noch zwei Dinge, die ich dich unbedingt fragen muss, und ich möchte, dass du ehrlich zu mir bist.“
      „Was denn?“, fragte sie, und er konnte genau die Sorge in ihrer Stimme hören. Er brauchte sie nicht einmal zu fühlen.
      „Diejenige, die mir bei unserem ersten Treffen diese Pilze gegeben und mich… überfallen hat, das war diese Xanthippe und nicht du, oder?“
     Luna wollte ihm dasselbe antworten, was sie auch Jana gesagt hatte, aber dann entschied sie sich anders. Er würde es sowieso wissen, wenn sie ihm nicht die Wahrheit erzählte, weil er es spüren würde.


Also gab sie zu: „Ja, sie war es. Sie war eine arme Frau, die sehr gelitten hat und die ihrem Schmerz mittels dieser Pilze entkommen wollte. Sie wusste gar nicht, was sie tut, als sie dir davon gegeben hat.“


„Es war meine Schuld, dass ich nicht auf sie aufgepasst habe. Auch wenn es dafür keine Entschuldigung gibt, tut mir das schrecklich leid. Ebenso das, dass ich dir nicht von ihr erzählt habe.“


Statt nach ihrem Beweggrund zu fragen, nahm er das so hin und fragte: „Und warum bedauerst du es danach, wenn wir uns küssen? Ganz offensichtlich hast du ja nichts dagegen. Das konnte ich spüren.“
     Darauf antwortete sie eine ganze Weile lang nur mit Stottern, bevor sie es schließlich aufgab.
     „Hör zu Luis, ich habe dich sehr gern, das stimmt“, gestand sie resigniert. „Um ehrlich zu sein, habe ich noch nie für jemanden so empfunden, wie für dich, aber… mein Herz gehört schon meiner Göttin. Und entgegen dem, was deine Schamanin sagte, bin ich mir nicht sicher, ob ich großherzig genug bin, dass du noch Platz darin finden kannst…“
     Er verstand das. Es gefiel ihm nicht, aber er verstand es. Deshalb sah er auch davon ab, sie davon zu überzeugen, dass ihr Herz sehr wohl groß genug für ihre Göttin und ihn war und sagte ihr: „Dann nimm dir die Zeit, es herauszufinden. Ich werde warten.“
     Sie antwortete nicht darauf, sodass er nicht sagen konnte, ob sie glücklich oder unglücklich darüber war. Das Gefühl, das er von ihr spürte, konnte er jedenfalls nicht deuten. Sie war wohl selber zerrissen. Aber dann fiel ihm sowieso etwas auf, das ihn ablenkte.


„Warte… „meine Schamanin“? Was wollte Jana denn von dir?“
     „Sie hat für dich gesprochen und versucht, mich davon zu überzeugen, dass ich mich meinen Gefühlen für dich stellen soll.“
     Luis sollte es nicht überraschen, dass sie das getan hatte. Jana hatte noch nie ein Blatt vor den Mund genommen und nie lange gezögert. Zudem war sie die Hilfsbereitschaft in Person. Deswegen konnte er ihr auch nicht böse sein, dass sie sich eingemischt hatte. Sie hatte ja nur helfen wollen.
     „Du bist ihr sehr wichtig…“, hörte er Luna sagen, aber er hörte den besorgten Unterton in ihrer Stimme nicht. Er spürte es nicht mal, weil er plötzlich selber besorgt war.


„Sie ist mir auch sehr wichtig.“
     Und er hasste die Vorstellung schon jetzt, ihr sagen zu müssen, dass er fortging. Die Vorstellung, dass er seine beste Freundin, seinen Anker, zurücklassen musste.


Während Luna und Luis geredet hatten, hatte Jana doch schnell selber die Stammesführerzeremonie durchgezogen, sodass Luis noch bis nach der Zeremonie warten musste, um den Anderen von der Katastrophe zu berichten, die wohl über sie hereinbrechen würde, wenn er nicht fortging. Er hatte sich jedoch dazu entschlossen, erstmal nur den engsten Kreis zu unterrichten. Minus seiner Mutter, die momentan noch bei ihrem Verlobten im Handelsposten war und von der er jetzt schon wusste, dass sie sein Fortgehen nicht gut aufnehmen würde.
     „Und wenn du fortgehst, bleibt die Katastrophe aus?“, fragte Malah, nachdem er fertig erzählt hatte.
     „So sieht es aus. Ihr braucht euch also keine Sorgen zu machen, da ich diese Gegend im Frühjahr verlassen werde. Vorher sollte die Katastrophe auch nicht eintreten. In der Vision sah die Gegend eher sommerlich aus, wenn ich das so sagen kann.“


„Moment mal!“, hörte er schon Janas aufgebrachte Stimme dazwischenfahren. „Warum musst ausgerechnet du weggehen? Was hast du denn mit dieser Katerstrophe zu tun?“    
     „Das wissen wir leider auch nicht so genau“, antwortete Luna ihr, als Luis sich im unglücklichen Schweigen übte. „Wir wissen nur, dass er von hier fortgehen muss, um sie zu verhindern.“
     „So ein Unsinn!“, ging Jana sie wütend an. „Als ob Luis gegen sowas ankommen würde! Er ist nur ein Mensch!“
     „Vielleicht bin ich ja auch dafür verantwortlich…“


„Blödsinn! Lass dir doch nicht so einen Mist von der da einreden! Du hast ihm das eingeredet, nicht wahr?“, warf sie Luna vor. „Das war gar keine Vision von den Göttern, das warst du! Du bist eine böse Hexe, bist du, dass du ihm mit deinen Zaubereien das gezeigt hast!“
     „Jana, bitte, Luna hat nichts getan – “
     „Seitdem sie da ist, bist du wie toll! Du weißt gar nicht mehr, was du eigentlich machst! Sie hat dich verzaubert, merkst du das nicht?“
     Da musste er ihr recht geben. Aber was Jana für einen bösen Zauber hielt, war in Wahrheit der Zauber der Liebe.


Doch was er sagte, war: „Die Vision war mir von den Göttern gesandt. Das weiß ich. Denn kein Zauber kann das bewirken, was ich gesehen habe. Hättest du es gesehen, würdest du es verstehen. Deshalb“, er schüttelte den Kopf, „kann ich das auch nicht einfach ignorieren. Ich muss von hier fortgehen.“
     „Du willst also weggehen?“
     „Ich muss.“
     „Und für wie lange?“
     Er zögerte. „Für immer.“
     Da hatte Jana nichts mehr zu sagen, und es war einer dieser Momente, die sehr selten geworden waren, dass er sich wünschte, sehen zu können. Sehen zu können, was ihr Gesicht offenbarte, was ihre Stimme zu verstecken suchte.


Plötzlich hörte er Schritte, und im nächsten Moment spürte er die Anwesenheit von jemandem, der vor ihm stand. Er wusste sofort, dass es Jana war. Es brauchte gar nicht erst ihren rüden Stoß, den sie ihm nun versetzte, dass er stolperte und zu Boden ging. Die Schritte waren wieder zu hören, leise und geschmeidig, wie er es von Jana kannte. Dann das laute Knallen einer Tür.
     Danach saß er einfach nur da, auf dem Boden, und fühlte sich elend. Niemand kam, um ihm Hilfe anzubieten, worüber er froh war, alle waren sie mit Schweigen und Starren beschäftigt (mutmaßte er).


Schließlich hörte er, wie sich jemand bewegte. Dann die Stimme seines Vaters.
    „Warte! Es ist nicht du, der ihr nachgehen sollte“, sagte er, und Luis fühlte sich zu Recht angesprochen.
     „Verlangst du etwa von mir, dass ich meine Gefährtin im Stich lasse?“, gab Aan aggressiv zurück.
     „Nein, aber…“
     Luis erhob sich und ohne ein Wort zu verlieren, ging er Jana nach.


Als er fort war, riss Aan sich von Lus Griff los. „Was sollte das?“, forderte er gereizt eine Antwort.
     „Jana braucht jetzt nicht ihren Gefährten, sie braucht ihren einzigen Freund, der fortgehen wird. Verstehst du? Das ist der Grund, warum sie so traurig ist. Weil sie ihren einzigen Freund verlieren wird.“
     „Erzähl keinen Unsinn! Jana hat genügend andere Freunde!“
     „Ist das so? Jemanden, mit dem sie gern ihre Zeit verbringt? Mit dem sie viel gemeinsam hat? Jemanden, dem sie alles erzählen kann, was sie dir vielleicht nicht erzählen kann?“, zeigte Lu auf, und Aan konnte nichts mehr dazu sagen.
     Denn Lu hatte recht. Wenn er es so sah, war nicht einmal er wirklich ein Freund von Jana.


Das sagte Lu, um die Situation zu entschärfen, obwohl er sehr wohl gesehen hatte, dass es nicht nur der einzige Freund war, den sie verlieren würde, was Jana so sehr getroffen hatte. Aber wie er es sich vorgenommen hatte, würde er sich nicht in die Beziehungsangelegenheiten seines Sohnes einmischen.


Er sah auf seine Hände hinab, die vom Blut noch immer ganz rot waren, sein eigenes Gesicht schaute ihm verzerrt aus dem Wasser entgegen. Hektisch tauchte er die Hände ins kalte Wasser und schrubbte sie kräftig, bis das Rot in seine Haut übergegangen zu sein schien.
     ‚Ich habe ihn getötet‘, dachte er immer wieder, durchflutet von einer Mischung aus Aufregung und Angst. Seine Hände zitterten. ‚Ich habe ihn endlich getötet. Bin ihn endlich los.‘
     „Was hast du nur getan?“ 


Er wirbelte herum. Sah ihr ins Gesicht. Ihr schönes, engelsgleiches, wundervolles Gesicht. Ihre helle Haut, die Haare, die beinahe die Farbe von Schnee hatten und die gerade mit der Sonne um die Wette strahlten. Ihre himmelblauen Augen, die plötzlich voller Schrecken waren. Warum waren sie plötzlich voller Schrecken?      
     Er hörte auf, seine Hände zu schrubben, trocknete sie an seiner Robe ab und ging auf sie zu. Der Schrecken in ihrem Gesicht, doch sie wich nicht vor ihm zurück.
     „Luna! Ich habe es endlich getan! Ich habe ihn endlich aus dem Weg geschafft!“
     Der Schrecken vor ihm wurde größer. Sie schüttelte den Kopf, legte die Hände auf den Mund. Das Blau verschwand beinahe in dem Weiß ihrer Augen.  


Er packte sie an den Schultern. „Ich habe es für uns getan! Jetzt steht er nicht mehr zwischen uns! Jetzt können wir endlich zusammen sein!“
     Sie wandte den Blick ab, sah zu Boden. Schrecken wechselte sich mit Bedauern ab. Er ließ sie los, stolperte zurück, als er das sah.
     „Ich habe alles für dich getan! Ich bin sogar Schamane für dich geworden!“, rief er verzweifelt.
     Doch sie sagte nur mit brechender Stimme: „Die Göttin möge sich deiner Erbarmen…“


Angst. Die Angst ergriff von ihm Besitz und übernahm das Ruder, ließ ihn davonlaufen wie ein kleines Kind, das etwas Verbotenes getan hatte. Er lief und lief, und erst, als er nicht mehr wusste, wo er war, hielt er wieder an.
     Leere. Eine unfassbare, alles verschlingende Leere in ihm.
     „Was hast du nur getan?“, hörte er Lunas Worte erneut.
     Was hatte er nur getan?
     „Ich habe dir ja gesagt, dass sie dich nicht erhören wird.“


Er sah sich nach der Stimme um, blickte einer Frau mit schwarzem Haar ins Gesicht, die ihm bekannt war, Luis aber noch nicht. Er wollte sie nicht mehr sehen, also wandte er den Blick ab, starrte ins Leere.
     „Du hast geglaubt, dass sie dich retten würde, doch das war eine törichte Hoffnung von dir. Sie spielt die Gute, die Heilige, aber im Endeffekt interessiert sie sich nur für sich selber. Du warst ihr immer egal. Du hast so vieles für sie getan, hast so viel auf dich genommen, aber sie hat das alles nicht interessiert, weil sie sich nicht für dich interessiert. Weil sie nicht gut ist. Weil sie eine Heuchlerin ist, die bestraft gehört.“
     Wut. Alles verzehrende Wut, die in ihm aufflammte.


Sie kam an, berührte ihn an der Schulter, schmiegte sich an ihn, säuselte in sein Ohr: „Aber nicht mit dir! Zeig ihr, dass sie so nicht mit dir umspringen kann! Zeig es ihnen allen! Töte sie!“
     Ja, zeig es ihnen!


Also zeigte er es ihnen. Ging los, holte sich eine Fackel und kehrte zum Hof zurück. Er war gerade dabei, den Stall in Flammen aufgehen zu lassen, als man ihn fand.
     „Ich wusste gleich, dass man dir nicht trauen kann. Lass das fallen!“


Er drehte sich um, sah dem Mann ins Gesicht, den er beinahe noch mehr hasste als den, den er getötet hatte. Der Mann, mit dem er gezwungen gewesen war, die letzte Zeit zusammenzuarbeiten.  
     Der Bürgermeister starrte ihn wütend an, den Bogen auf ihn gerichtet, aber er sah sie nicht. Sie war so schnell und unauffällig wie immer. So geschickt, dass er nicht einmal einen Mucks von sich gab, als sie das Messer in seinem Hals versenkte und er zu Boden ging.


Sie gab ihm das Messer, dass er zu Ende brachte, was sie angefangen hatte, und es war ihm eine unendliche Genugtuung, dem Anderen beim Sterben zuzusehen und dafür verantwortlich sein.
     „Ja!“, rief sie begeistert. „Das ist es, wie es sein sollte, nicht wahr?“
     Ja, das war es, wie es sein sollte! So war es richtig! Das war er!
     Also setzte er sein Werk fort, die Welt in Flammen aufgehen zu lassen. Und als sie schließlich verzehrt wurde, erwachte Luis.


„Geht es wieder?“, drang Janas Stimme nach unendlich langen Minuten endlich zu ihm durch.
     Luis fühlte sich elend, zittrig und fürchterlich krank. Er musste sich auf ihre Hand konzentrieren, die ihm immer wieder über den Rücken strich, dass er überhaupt zurückfinden und einen klaren Gedanken fassen konnte.
     „Bist du wieder da?“
     Er zwang sich, zu nicken.
     „Ich glaub, ich hab dich angesteckt.“ Pause. „Entschuldige.“
     Er schüttelte den Kopf, dass ihm wieder schlecht wurde.
     „Luna“, brachte er raus. „Ich muss unbedingt mit Luna sprechen.“


Sie antwortete nicht, er hörte sie auch nicht aufstehen und gehen. Sie hörte einfach nur auf, ihm über den Rücken zu streichen.
     „Was hast du gesehen?“, fragte sie, als hätte sie ihn nicht gehört, und ihre Stimme klang merkwürdig erstickt dabei.
     „Luna“, beharrte er.
     „Warum erzählst du es mir nicht?“
     „Ich kann nicht… ich… ich hab Angst, Jana…“
     Er hatte Angst vor dem, was er gesehen hatte. Was er tun würde. Er wollte nicht, dass sie es wusste.


Sie erhob sich jetzt endlich, aber sie ging nicht, kam nur um ihn herum und nahm ihn in den Arm.
     „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin bei dir. Du kannst mir alles sagen.“
     Doch er konnte es nicht. Seine Stimme versagte ihm den Dienst, und er konnte nichts anderes tun, als stumm zu weinen und sich von Jana dabei festhalten zu lassen.
     Er konnte ihr nicht sagen, was er einst tun würde. Dass er derjenige war, der Tod und Zerstörung in diese Gegend bringen würde. Denn er wollte nicht, dass sie es erfuhr und ihn dafür hasste, wie er es gerade selber tat.


Am nächsten Morgen kam Jana allein ins Haus zurück. Es war schon weit nach dem Frühstück, als sich alle anderen schon um die Feuerstelle herum versammelt hatten. Seitdem sie von Idas Kriegsplänen erfahren hatten, war es für sie zur Gewohnheit geworden, jeden Morgen nach dem Frühstück eine Versammlung abzuhalten.
     Aan, der beinahe kein Auge die Nacht über zubekommen hatte, kam seiner Gefährtin sogleich entgegen, aber Jana ließ ihn gar nicht an sich heran. Als sie in den Feuerschein kam, sah sie immer noch so blass und krank aus wie am vorigen Tag, und sie roch auch dementsprechend.
     „Wo ist Luis?“, fragte Lu sie.    
     „Krank“, erwiderte sie kurz angebunden. „Er hat vorhin gekotzt und will seine Ruhe und ist deshalb im Stall geblieben. Ich leg mich hin.“


Und sie ging, legte sie sich wie sie war in ihr Bett und rollte sich in die Decke ein. Sie sahen ihr alle dabei zu, und auch danach war es weiterhin still, bis Malah sich räusperte.
     „Ich würde gerne die Möglichkeit nutzen, etwas zu verkünden, wenn es recht ist. Ich habe mich nämlich dazu entschlossen, dass ich euch im Frühjahr gerne begleiten würde, wenn ihr von hier fortgeht“, sagte sie an Luna gewandt.
     „Du willst von hier weggehen?“, war Tann schlecht überrascht.
     „Nun ja, ich möchte vor allen Dingen meinen Vater und seine Frau besuchen gehen. Und danach… danach sehe ich weiter. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich das brauche. Abstand von hier, meine ich.“
     Nach dieser Offenbarung war es erstmal wieder still, sodass das Knacken eines Holzscheites beinahe so laut wie ein Peitschenschlag in der bedrückenden Stille erklang.


„Und natürlich willst du nach Nila suchen, nicht wahr?“, warf Nero ihr schließlich missbilligend vor.
     Malah zog den Kopf ein. „Nun ja… ich… ja“, gab sie zu. „Ich weiß, dass ihr das vielleicht nicht gutheißt, aber das ist es, was ich tun will und tun werde. Er ist mein Bruder, und ich möchte ihn wiedersehen. Ich möchte ihm helfen.“
     Und ihn dazu überreden, dass er es sich doch nochmal überlegte, hierher zurückzukehren und Nara und sein Kind mit sich zu nehmen. Aber das sagte sie natürlich nicht. Und als sie in die umliegenden Gesichter sah, die ihr jetzt mal mehr und mal weniger missbilligend entgegensahen, wusste sie, dass dies die richtige Entscheidung war. Lediglich ihr Großvater nickte ihr wohlwollend zu. Sie wusste ja, dass er eigentlich nach seinem Enkel hatte suchen wollen, wenn er nicht die Stammesführung übernommen hätte.


Plötzlich trat Alek vor, erklärte: „Ich werde dich begleiten.“
     „Das musst du nicht.“
     „Ich möchte es aber.“
     „Nila – “
     „Es ist nicht wegen Nila“, fuhr er dazwischen. „Ja, ich will ihn am liebsten den Hals umdrehen für das, was er Nara angetan hat, aber… ich verspreche, dass ich es dir überlassen werde, was mit ihm zu tun ist, wenn wir ihn finden. Ich möchte einfach nur mit dir kommen. Um auf dich aufzupassen.“
     Und weil er sowieso nichts mehr hatte, für das es sich lohnte, hierzubleiben, wenn Malah nicht mehr hier war.


Der wiederum gefiel das ganz und gar nicht. Es war nicht so, dass sie Alek nicht gern um sich hatte – er war schließlich ihr bester Freund – doch trotz seines Versprechens machte sie sich einfach Sorgen, dass er es nicht würde halten können, wenn sie Nila erst einmal gefunden hatten. Vielleicht dachte er auch gar nicht daran, es zu halten.
     ‚Nein, das würde Alek niemals machen. Er würde mich niemals anlügen‘, war Malah sich sicher. Sie vertraute ihm.
     „In Ordnung. Wenn es das ist, was du möchtest.“
     Alek nickte ihr zu, und damit war es beschlossen. Malah und Alek würden Luis und Luna im Frühjahr begleiten und die Gegend verlassen.


Luis blieb den Tag über verschwunden, und als Wulfgar und Jin von der Stallarbeit zurückkehrten, konnten sie bestätigen, dass er im Stall war und schlief. Sie ließen ihn dort.


Erst am Abend glaubte Luna, zu spüren, dass er seinen Aufenthaltsort verändert hatte. Also ging sie nach draußen, um nachzusehen, und tatsächlich sah sie schon von weitem ein Feuer im Tempel brennen. Da die Schamanin schon den ganzen Tag über flach lag, nur einmal kurz aufgestanden war, um die täglichen Opfer darzubringen, nahm Luna an, dass es Luis sein musste, der dort vor der heiligen Feuerschale hockte.


Sie ging zu ihm, rief ihn, dass er erschrocken aufsprang und sich zu ihr drehte. Er sah wirklich genauso krank aus wie die Schamanin, und bei seinem Anblick war da wieder dieser Stich in Lunas Herzen.
     „Was machst du denn hier draußen? Eure Schamanin erzählte, dass du krank seist, also solltest du lieber reinkommen anstatt hier draußen in der Kälte zu sein.“
     „Ich bin nicht krank“, erwiderte er niedergeschlagen. „Ich musste mich nur übergeben wegen der Vision, die ich hatte.“
     „Du hast wieder gesehen?“


Er zögerte, aber dann erzählte er ihr schließlich, was er gesehen hatte. Und als er fertig war, war Luna ein bisschen kalt geworden.
     „Bist du dir sicher, dass du dich gesehen hast?“, fragte sie ihn.
     „Ziemlich… Ich habe mein Gesicht zwar nur verschwommen im Wasser gesehen, doch ich erkenne ja meine Stimme. Außerdem hast du mich in der ersten Vision ja auch gesehen. Mich. Vorm Feuer.“
     „Schon, aber nur von hinten.“
     „Ich war das“, beharrte er verbittert. „Und das weißt du auch. Auch wenn ich wünschte, dass es anders wäre, ist es so. Ich werde zu einem Mörder werden. Und deswegen muss ich von hier fortgehen.“


Luna zog die Jacke enger um sich, doch es brachte leider überhaupt keine Besserung. Sie fror noch immer.
     „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du dich so sehr veränderst.“
     „Tja, so ist es aber.“ Er wandte sich von ihr ab. „Und du hast ja auch gehört, warum.“
     Sie fror plötzlich noch mehr, dass es ihr beinahe wehtat.
     „Es ist deshalb vielleicht besser“, fuhr er fort, „wenn wir nicht zusammen fortgehen. Ich werde alleine gehen. Ohne dich.“
     Sie bedauerte das. Das konnte er ganz genau spüren. Aber sie sagte nichts dazu, weil sie wusste, dass es nur vernünftig war.
     „Luna?“
     „Ja?“
     „Bitte behalte das mit der Vision für dich. Das, was ich tun werde.“
     „Du hast es der Schamanin nicht erzählt?“
     „Nein. Niemandem. Nur dir.“


Und das war ihm schon schwer genug gefallen. Ihr die Wahrheit zu erzählen und Gefahr zu laufen, dass sie ihn dafür verabscheute, was er einst tun würde. Aber sie tat es nicht. Das spürte er. Denn sie war eben gutherzig, würde ihm sogar einst verzeihen, wenn er morden würde.
     „In Ordnung“, versprach sie ihm, und danach herrschte wieder das allseits bekannte, bedrückte Schweigen zwischen ihnen, bis ein infernalisches Magenknurren von Luis mitten in die Szene fuhr.


„Entschuldige. Ich habe heute noch nichts gegessen“, erklärte er verlegen.
     „Dann solltest du das tun.“
     „Ich weiß. Ich… brauche nur noch einen Moment. Lässt du mich solange allein?“


Sie nickte, und dann hörte er ihre Schritte und war wieder für sich. Allein mit seinen Gedanken und seiner Angst.
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Zur Vision will ich jetzt gar nicht so viel schreiben, weil ich sonst spoilern würde ohne Ende. Nur dass ein paar aufmerksame Leser aus dem Forum vielleicht den getöteten Herrn mit dem Bogen erkannt haben könnten. Da ist mir leider ein kleiner Fehler unterlaufen, da er zu der Zeit eigentlich schon ein Erwachsener wie Luna sein sollte und kein junger Erwachsener mehr. Aber da er momentan auch jünger als sie ist (Teen), nehmen wir einfach an, dass er kurz vor seinem Geburtstag zum Erwachsenen stand.

Noch was Erklärendes: Wo die von Silberauge sprechen, geht es um Kapitel 99, in dem Rahn im Sterben lag und Luis, in dem Versuch, ihm zu helfen, eine Vision von Luna hatte, die den alten Herzenheiler Silberauge besucht hat, um ihr Herz zu heilen. Wie wir jetzt wissen, ging es ihr dabei wohl um ihre Liebe zu Luis, die sie nicht haben und deshalb geheilt haben wollte. 
     Aber die unerfüllte Liebe ist momentan wohl Luis' kleinstes Problem. Jetzt scheint er also auch weggehen zu müssen, wodurch die arme Lulu auch noch ihren letzten Sohn "verliert".

Sorry übrigens, dass ich in der ernsten Szene zwischen Luna und Luis oben immer wieder Hündin Tama ins Bild gelassen habe, aber die hat sich beim Bildermachen damals immer so dazwischengedrängt, dass ich das mal zeigen musste. Und ihre Gesichtsausdrücke waren einfach zu herrlich XD . Sie ist auch die Tochter der berüchtigen Takka, die damals ebenfalls die Angewohntheit hatte, mir durch ernste/traurige Szenen zu rennen und sie unwillkürlich lustig zu machen.
 
Nächstes Mal muss Jade die Konsequenzen für ihre Handlungen tragen, und dann geht alles plötzlich drunter und drüber.
 
Bis dahin, danke euch fürs Vorbeischauen, passt auf euch auf, und ich verabschiede mich!

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