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Montag, 2. Mai 2022

Kapitel 150 - Nila und Nara


Als Rufus und Nara den Uruk-Hof erreichten, war die Kriegsbesprechung längst zu Ende, alle, die nicht im Uruk-Stamm heimisch waren, waren nach Hause gegangen und Malah hatte die Heimischen nach drinnen zur Stammesversammlung gerufen.
     Sie betraten ungesehen das Haus, während gerade über einen dunkelhaarigen Kerl mit gemeinem Gesicht Gericht gehalten wurde. Wie Rufus schnell heraushörte, handelte es sich dabei um den berühmt-berüchtigten Nila. Nara wurde sofort unruhig, als sie ihn sah, trippelte aufgeregt von einem Bein aufs andere.
     „Dass die Götter über dich richten, wenn du lügst!“, hörten sie eine blonde Frau in einer langen Robe mit ehrfurchtgebietender Stimme noch sagen.


„Nila, Sohn des ehrwürdigen Alt-Stammesführers Elrik“, übernahm eine andere Frau in noch prächtigerer Montur, die Rufus schon als Malah kannte, „dir werden zahlreichen Verbrechen zur Last gelegt, die da wären: Verrat am Stamm, die Ermordung von Lin aus dem Ahn-Stamm, Schändung und der Versuch einer gewaltsamen Kindesabtreibung bei Nara aus dem Ahn-Stamm. Ich, Malah, Tochter des ehrwürdigen Alt-Stammesführers Elrik, Stammesführerin des Uruk-Stammes, werde über dich richten, doch zuvor mögest du zu den Vorwürfen Stellung beziehen. Was hast du dazu zu sagen?“


Nila, umringt von seinen eigenen Leuten, sah genauso aus, wie man das von einem schuldigen Angeklagten erwartete: Als wäre er lieber ganz woanders. Er warf nervöse Blicke hin und her, nestelte an seinen Fingern und der Kleidung, auf seiner Stirn ließ selbst der schummrige Feuerschein den Angstschweiß deutlich sichtbar glänzen.
     „Es… es stimmt, dass ich Lin getötet habe.“ Hastig fügte er hinzu: „A-aber ich hatte keine andere Wahl! Es war Reinards Schuld!“
     „Erläutere das.“


„Er hat mich angelogen!“, rief Nila verzweifelt. „Er erzählte mir, dass Lin angeblich mit den Räubern, die Roah entführt hätten, unter einer Decke steckte. Er kam damit zu mir, weil ich als einziger wusste, wo Lin sich versteckt hielt. Ich hatte Lin zuvor immer wieder Essen gebracht, weil ich dachte, dass Reinard ihn vor die Tür gesetzt hatte. Wir waren ja sowas wie Freunde. Aber Lin hatte gelogen. Er war weggelaufen, wie sich später herausstellte, weil er gegen Reinards Beschluss gewesen war, Jade zu heiraten, die Lin ja eigentlich hatte haben wollen.
     Reinard kam jedenfalls zu mir. Ich habe ihm erst nicht glauben wollen, dass Lin was mit den Räubern zu tun hat. Doch ich habe trotzdem mitgespielt. Ich dachte, dass ich dadurch beweisen könnte, dass er unschuldig ist. Doch als er dann durchgedreht ist und Jade entführt hat, hatte ich keine andere Wahl, als ihn zu töten. Er war kurz davor, ihr was anzutun!“


„Erzähl keinen Mist!“, mischte sich Wulf ein. „Du warst es, der kurz davor war, uns zu töten! Du hast mich in erster Linie ja erst niedergeschlagen gehabt!“
     „Seine Anschuldigungen muss ich mir nicht anhören!“, protestierte Nila. „Er gehört nicht mal zum Stamm!“
     „Da Lu ihn als Sohn angenommen hat, gehört er zu uns und hat jegliches Recht, dich anzuklagen“, erklärte Malah ruhig, auch wenn ein merkwürdig verbissener Ausdruck um ihre Lippen herum lag.
     Nila schnaubte, sagte widerwillig zu Wulf: „Ich habe nur so getan, als würde ich dich niederschlagen. Der Stein hat dich kaum berührt! Du warst so besoffen, dass du einfach umgefallen bist! Außerdem habe ich Jade und dich gerettet, indem ich Lin ausgeschaltet habe, nicht wahr?“


Malah warf einen Blick zu Jade, die außerhalb des Kreises stand. „Als ehemaliges Stammesmitglied und Zeugin darfst du antworten, Jade.“
     Die Angeprochene trat vor, machte ein unglückliches Gesicht und gab schließlich zu: „Ja, das stimmt. Aber das heißt nicht, dass du uns nicht auch töten wolltest! Das wolltest du nämlich! Das habe ich genau in deinen Augen gesehen!“
     „Und daran machst du das fest?“, erwiderte Nila gespielt belustigt. „Du weißt überhaupt nicht, was ich vorhatte, da der da“, er zeigte auf Wulf, „mich ja einfach über den Haufen gerannt hat und mit dir abgehauen ist. Und damit das klar ist: Nein, ich hatte nicht vor, euch etwas anzutun. Reinard hätte mich kalt gemacht, einfach verschwinden lassen wie Roah, wenn sein neues Frauchen gestorben wäre.“
     Jade sah ihn böse an, erwiderte jedoch nichts mehr. Sie konnte ganz genau sehen, dass er log. Sie hatte ihm bisher ja geglaubt, aber seitdem sie wusste, dass er tatsächlich für so vieles verantwortlich war, was ihm vorgeworfen wurde, wusste sie es besser. Doch sie hatte keine anderen Beweise als ihre Menschenkenntnis, und das würde nicht ausreichen, um die Anderen zu überzeugen.


„Du lügst ja, dass sich die Balken biegen!“, sprang Wulf an ihrer Stelle ein. „Einen Scheiß hast du getan, Roah finden zu wollen! Du hast sie nicht mal erwähnt! Alle wissen doch, dass du Lin nur umgebracht hast, weil Reinard dir seine Schwester dafür überlassen hat. Sie hingegen hast du nämlich erwähnt.“
     „Das habe ich nicht!“, rief Nila aufgesetzt empört.


„Zu den anderen Vorwürfen kommen wir noch“, schritt Malah konsequent ein. „Nila, du gibst also zu, dass du Lin getötet hast?“
     „Ja, aber – “
     „Und behauptest“, schnitt sie ihm das Wort ab, „es sei auf Reinards Befehl hingeschehen?“
     „Ja.“
     „Wulfgar und Jade wiederum werfen dir vor, du hättest sie ebenfalls töten wollen.“ Sie sah die beiden Kläger an. „Ist das richtig?“
     Beide bestätigten, und Nila sah zwar sauertöpfisch drein, tat sich aber – endlich einmal – den Gefallen, ruhig zu sein.
     „Und du dementierst das, Nila? Bleibst du dabei?“
     „Natürlich!“
     „Dann die anderen Anklagepunkte“, fuhr Malah gefasst fort. „Dir wird vorgeworfen“, sie musste tief Luft holen, um es überhaupt aussprechen zu können, „dich an Nara vom Ahn-Stamm vergriffen zu haben. Was hast du dazu zu sagen?“


Malah hatte ihrem Bruder immer wieder gesagt, was er aussagen sollte – woran er sich schon nicht richtig gehalten hatte – aber als er jetzt: „Das habe ich ganz sicher nicht getan!“, sagte, konnte sie nicht verhindern, dass ihr der Mund ein klein wenig aufklappte.


„Du widerlicher Bastard hast allen Ernstes jetzt noch die Nerven, zu lügen?“, fauchte Nero, den Malah schon die ganze Verhandlung lang mit Sorge betrachtet hatte. Sein Gesicht war mit jedem Wort, das Nila gesprochen hatte, immer röter geworden. Sein Vater war zum Glück sofort zur Stelle, um ihn zurückzuhalten, und das war auch bitter nötig. Er war völlig außer sich. „Du hast die Arglosigkeit und die Gutgläubigkeit dieses armen Mädchens schamlos ausgenutzt und sie vergewaltigt! Du bist der Abschaum der Menschheit und gehörst aufgehängt für alles, was du getan hast!“
     „Nero!“, schalt Malah ihn streng. „Wenn du dich nicht beruhigst und aufhörst, die Verhandlung zu stören und Drohungen auszusprechen, muss ich dich des Hauses verweisen!“


„Ich habe lange genug gedroht!“, knurrte er, nahm seinen bedrohlichen Blick nicht eine Sekunde von Nila, dem plötzlich angst und bange wurde. „Und das weißt du auch, Nila! Ich habe dir gesagt, was ich tun werde, wenn du dir jemals etwas zuschulden kommen lassen solltest, und ich habe das nicht vergessen!“
     „Was soll das heißen, Nero? Erkläre dich!“, forderte Malah.
     „Nichts soll das heißen.“ Er riss sich von seinem Vater los, sah Malah direkt in die Augen, sein Blick todernst. „Ich hoffe, dass du eine gerechte Entscheidung treffen wirst, Stammesführerin. Ansonsten… werde ich mich selber aus der Versammlung entfernen, denn du weißt ja bereits, für was ich gestimmt habe.“


Er verließ das Haus durch die Hintertür, und Malah blieb mit einem bösen Gefühl zurück. Er hatte es zwar nicht ausgesprochen, aber sie wusste, was er eigentlich an sein „ansonsten“ hatte anfügen wollen. Nämlich: Werde ich dich um die Stammesführung herausfordern. Damit hatte er schließlich schon mehr als einmal gedroht.
     Sie war so eingeschüchtert von dem gerade Geschehenen, dass es erst Aans Erinnerung bedurfte, um mit der Verhandlung fortzufahren.


„Du sagst also, dass du dich nicht an Nara vergriffen hast?“, wiederholte sie die Frage an ihren Bruder.
     „Ich habe diese Missgeburt niemals angefasst!“, behauptete Nila. „Alle wissen, dass ich sie widerlich finde und nicht ausstehen kann!“


Nara, die zuvor schon immer unruhiger geworden war, stieß jetzt einen kleinen, spitzen Schrei aus und machte damit alle im Raum auf die heimlichen Zuschauer aufmerksam. Es war nur ein klitzekleiner Moment, in dem alle Nara anstarrten, inklusive Nila, ein Moment, in dem Nila und Nara sich ansahen. Ein Moment, in dem Nara noch hoffte. Hoffte, dass Nila zurücknehmen würde, was er gesagt hatte. Dass er wenigstens so aussehen würde, als würde es ihm leidtun, sowas gemeines gesagt zu haben. Wenn sie sich doch nur verhört hätte…


Aber der Moment verstrich, Nila brach den Blickkontakt ab, starrte angestrengt irgendwohin, Hauptsache nicht in ihre Richtung, und Nara verstand. Das erste Mal verstand sie und sah ein, was alle ihr zuvor immer und immer wieder gesagt hatten: Nila hatte sie nur benutzt und scherte sich keinen feuchten Dreck um sie.


Und als sie das verstand, brach ihr Herz und sie mit ihm. Ihr ganzer Körper zitterte, die Sicht verschwamm ihr vor Augen, und als sie anfing, bitterlich zu weinen, legte sich etwas Großes, Warmes um sie und versuchte sie vor den Blicken der Anderen zu verbergen.
     Rufus, der den Arm um Nara gelegt und sie tröstend an sich gezogen hatte, wollte nichts lieber, als rüberzugehen und diesem Dreckschwein seine Faust schmecken zu lassen. Immer und immer wieder. Aber er tat es nicht. Er musste jetzt für Nara da sein.


„Tut mir leid, wenn wir euch stören“, fing er mit schwer verhohlener Wut an. „Aber ich würde gerne etwas vor der Versammlung loswerden, wenn ich darf.“
     Malah sah in die Runde, und als die Anderen zustimmend nickten, sagte sie: „Du darfst sprechen!“
     „Wulfgar“, sagte er und fing den Blick des Älteren auf, „ich möchte dich um Verzeihung bitten, dafür, dass ich versucht habe, dich umzubringen. Ich hege keinen Groll mehr gegen dich, und da ich mich gerne hier in der Gegend niederlassen würde, möchte ich nicht, dass Zwist zwischen uns herrscht.“
     „Mach dir keine Gedanken“, erwiderte Wulfgar verständnisvoll. „Ich hege ebenfalls keinen Groll gegen dich und habe bereits erklärt, dass ich nicht wünsche, dass irgendjemand anderes das tut. Also geh ruhig. Kümmere dich um sie.“


Rufus nickte und führte Nara, die noch immer bitterlich weinte, nach draußen, während Nila sie ignorierte, als sei sie gar nicht da.
     Weil er auch die beiden letzten Vorwürfe dementierte, musste Malah am Ende abstimmen lassen. Und mit überwältigender Mehrheit befand der Stamm Nila für schuldig.


Nachdem sie die letzte halbe Stunde, seitdem sie in den Stall gekommen war, nur geschwiegen hatte, wandte sich Malah jetzt so heftig an ihren Bruder, dass der tatsächlich aus seinem seichten Schlaf schreckte, in den er gerade gefallen war. Dass er jetzt überhaupt noch an Schlaf denken konnte! Aber nach all dem, was er heute getan hatte, sollte Malah eigentlich nichts mehr wundern.
     „Ich weiß nicht, was du dir dabei gedacht hast“, fing sie kopfschüttelnd an. „Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe dir doch immer und immer wieder gesagt, was du sagen sollst, aber du hast es trotzdem ignoriert. Wie“, wurde sie lauter, „bitte soll ich dir helfen, wenn du meine Anweisungen einfach ignorierst? Wie stellst du dir das vor? Ich bin verwundert, dass sich die Anderen überhaupt dazu haben überreden lassen, die Todesstrafe in Verbannung abzumildern! Nero hatte recht, du gehörst eigentlich aufgehängt für das, was du getan hast! Du kannst froh sein, dass wir dich noch gegen Reinard brauchen, ansonsten würdest du da draußen jetzt schon an einem Baum hängen!“


„Pff! Das werde ich sowieso, wenn Nero mich kriegt.“
     „Oh, nicht nur er! Du glaubst doch nicht, dass du für die ganze Sache mit Nara ungeschoren davonkommst, oder? Die Verbannung ist nur die Strafe für den Mord und den Verrat, weil wir dich für die Schändung nicht bestrafen können. Das ist Sache der Familie der Geschädigten. Wenn Nara das will, können sie dich jagen und aufknüpfen, denn auf den Schutz unseres Stammes hast du ja gepfiffen!“
     Nila wandte sich ab, sein Gesicht nicht etwa voller Angst oder Verzweiflung, sondern voller Bitterkeit.
     „War’s das? Du hast mich verurteilt, jetzt lass mich in Ruhe!“


Er ging davon, legte sich auf das Lager, das er sich aus Stroh geschichtet hatte. Seitdem er wieder hergebracht worden war, hatte er nicht mehr im Haus geschlafen. Als Malah ihm nachsah, wie er in der Dunkelheit verschwand, war es ihr mit einem Mal, als würde sie ihren Bruder das letzte Mal sehen. Etwas stach ihr böse in den Magen.
     „Was hast du jetzt vor?“, fragte sie ihn ruhiger.
     „Was glaubst du denn? Glaubst du echt, dass ich hier darauf warte, dass Nero mich abfängt und umbringt, sobald ich meine Schuldigkeit wegen Reinard getan habe?“
     „Du willst also weglaufen.“
     „Das hast du gesagt.“
     Malah schwieg einen Moment, beobachtete den dunklen Fleck, der ihr Bruder war. Er bewegte sich überhaupt nicht.


„Warum hast du das getan, Nila? Warum hast du das mit Nara nicht zugegeben? Du wusstest, dass sie da war, oder? Ich habe gesehen, wie du zu ihr gesehen hast, und da habe ich sie auch erst bemerkt. Du wusstest also, dass sie dich hört.“
     „Lass mich in Frieden.“
     „Warum, Nila? Du bist mir schuldig, dass du darauf antwortest!“
     Plötzlich lachte er, und sie war so davon überrascht, dass sie sich fragte, ob er nicht den Verstand verloren hatte.


 
„Was glaubst du denn, was passiert, wenn herauskommt, dass sie mein Kind in sich hat, hm?“, fragte er mit bitterer Stimme. „Sie werden sie zwingen, es wegzumachen. Sie hat mir genug darüber erzählt, wie sie sie da drüben behandeln. Hat sie dir je davon erzählt? Wie sie geschlagen wird, wenn sie etwas falsch macht? Wie sie dabei ins Feuer gefallen ist und sich den halben Rücken verbrannt hat?“


„Oder wie es die Lieblingsbeschäftigung ihrer Schwester war, sie mit dem Messer zu schneiden, bis sie vor Schmerz ohnmächtig geworden ist? Sie unter Wasser zu tauchen, bis sie keine Luft mehr bekam?“


 
„Und ihr Bruder, Lin, das Schwein, der sie angefasst hat wie ein Bruder seine Schwester nie anfassen sollte? Soll ich dir den wahren Grund verraten, warum ich ihn umgebracht habe? Weil mich die Vorstellung krank gemacht hat, dass er das getan hat. Es war mir scheißegal, was Reinard gesagt hat. Ich wollte nur, dass sie aufhört, zu mir zu kommen und zu weinen, während ihre Beine voller Blut waren, weil sie versucht hat, sich gegen ihn zu wehren. Ich wünschte nur, er wäre nicht so verdammt vorsichtig gewesen, dass ich nicht erst dieser dämlichen Entführung von Jade hätte zustimmen müssen. Aber er hat was gerochen, hat mir nie den Rücken zugekehrt und sich nur mit mir an vorher vereinbarten Stellen getroffen. Doch es war mir egal, dass ich Zeugen hatte. Ich musste ihn töten, als ich die Chance dazu hatte, für das, was er Nara angetan hat!“


 
„Und wenn sie erfahren, dass das mein Kind in ihr ist, werden sie sie zwingen, es wegzumachen, und dann wird sie diesmal vielleicht wirklich sterben. Und selbst wenn sie es bekommt, was glaubst du, wie sie es behandeln werden? Ein Kind mit einem Vater wie mir? Hm? Nein, ich habe sehr lange darüber nachgedacht, seitdem du mir gesagt hast, dass sie noch schwanger ist und beschlossen, dass es besser so ist. Ich werde weggehen. Ich hätte nie hierbleiben sollen. Ich hoffe nur, dass es nicht nach mir kommen wird…“
     „Du bist wegen ihr extra wieder hergekommen, nicht wahr?“, flüsterte sie erschüttert, als ihr das klar wurde. „Du hast dich fangen lassen.“


Plötzlich kam er aus der Dunkelheit zurück, stellte sich direkt vor ihr auf, und als Malah ihm jetzt in die Augen sah, war es das erste Mal, dass sie sehen konnte, dass er nicht lügen würde. Das erste Mal, dass ihr die tiefdunklen Ringe unter seinen Augen und die eingefallenen Wangen auffielen.
     „Versprich mir nur eines, Malah. Sorg dafür, dass sie und das Kind nicht mehr dort leben müssen. Es ist mir egal, wie du das machst, aber sie müssen beide da raus. Besser jetzt als später.“
     „Warum nimmst du sie nicht einfach mit dir?“
     Er antwortete nicht darauf, schwieg nur unglücklich, bevor er wiederholte: „Versprichst du mir das?“
     „Ich werde alles dafür tun, Nila.“


Er nahm den Blick von ihr, lächelte. Ein letztes Mal. „Danke, Malah.“ Dann ging er wieder in die Dunkelheit zurück.
     Und alles, was sie dachte, war: ‚Ich habe ihm Unrecht getan. Er hat sie wirklich geliebt.‘


Als der Wind, der schon seit Stunden immer mehr an Stärke zugelegt hatte, sich pfeifend durch die Ritzen des Scheunentores bemerkbar machte, hatte Nila sein Bündel, das größtenteils Proviant beinhaltete, fertig geschnürt. Er ging zielstrebig zur Tür, Malah stand wie ein Schatten unbehaglich daneben, aber sie sagte nichts zu ihm, ließ ihn einfach gehen.


Erst, als er einen Schritt nach draußen gemacht hatte und der raue Wind ihm die Haare zerzausen konnte, regte sie sich, kam um ihn herum und nahm ihn in den Arm, sagte: „Pass auf dich auf!“
     Nila konnte sich gar nicht daran erinnern, ob sie das je zuvor getan hatte – nein, ob er es je zugelassen hatte. Es gab so viel, was er seiner Schwester in diesem Moment sagen sollte, so viel, für das er sich entschuldigen sollte, aber er konnte es nicht. Mal wieder. Also ließ er es einfach zu, dass sie ihn umarmte, stand still, und ging dann ohne ein Wort zu sagen in die anbrechende Dunkelheit hinein, nachdem sie ihn wieder losgelassen hatte. Er schaute nicht zurück.


Es wurde beinahe im Minutentakt kälter, kam es ihm vor. Aber das lag nur an dem Wind, der immer erbarmungsloser an ihm riss. Er wusste, dass es das denkbar ungeeignetste Wetter war, um hinaus in die Ungewissheit zu fliehen, und damit war es das Beste. Niemand würde denken, dass er ausgerechnet jetzt abhauen würde.
     Das dachte er zumindest. Doch er hatte gerade erst die Hälfte des Grabhügels hinter sich gelassen, als sich jemand aus dem Schatten des Stalles löste und sagte: „Glaubst du wirklich, dass du so einfach davonkommst?“


Es war Nero. Natürlich. Nila wollte ihn am liebsten ignorieren, aber er wusste, dass es schon aus gesundheitlichen Gründen besser war, ihm nicht den Rücken zuzudrehen. Also drehte er sich lieber zu ihm um, und er hatte noch nie so viel Hass beim Anblick des alten Erzfeindes empfunden. Hass und die unausweichliche Erkenntnis, dass dies wahrscheinlich sein Ende werden würde. Er schluckte schwer.
     „Du weißt, was jetzt kommt. Ich habe dich gewarnt.“


Nero trat in sicherer Entfernung vor ihn. Ein Messer blitzte in seiner Hand. Nila wunderte sich nur, dass er nicht den Bogen genommen hatte. Sein Blick war erbarmungslos.
     „Willst du dich also in dein Schicksal ergeben oder…“


Nila rannte, was das Zeug hielt. Er wusste, dass es ein sinnloses Unterfangen war – Nero würde ihn mühelos einholen – aber was sollte er auch anderes tun? Er gab keinen Ausweg mehr.
     Der Schnee knirschte unter seinen Füßen, und obwohl sein schwerer Atem ihn beinahe taub machte, hörte er ein zweites Knirschen hinter sich, das immer lauter wurde. Die Haare an seinem Nacken stellten sich auf, er konnte beinahe schon Neros Griff spüren.
     Da stolperte er auch noch über einen spitzen Stein, verhedderte sich in seinen eigenen Füßen und fiel hin. Dann das Gewicht, das ihn niederdrückte, zurück in die Vergangenheit warf. Nur statt Gras, bekam er diesmal Schnee zu schmecken. Er wurde heftig herumgerissen, sah in Neros wütendes Gesicht.


„Dann halt so“, knurrte er, hob das Messer.
     Nila rief aus Verzweiflung: „Warte!“, versuchte die Hände nach oben zu reißen, die unter seinem eigenen Körper festgenagelt waren.
     „Glaubst du, du kannst mir auch nur irgendetwas sagen, dass ich dich verschone? Glaubst du etwa, ich werde zögern? Du hast es nicht verdient, zu leben!“, rief Nero und dann senkte er das Messer blitzschnell herab, zielte direkt auf seinen Hals.
     Die Tränen kamen unvermittelt, liefen brennend heiß seine Wangen hinab in seine Ohren hinein. Er heulte Rotz und Wasser, bevor er sich aufhalten konnte, sodass er die Stimme, die Nero jetzt innehalten ließ, zuerst nicht hörte. Und als er es tat, reagierte er blitzschnell und instinktiv. Er drehte sich umständlich, bekam eine Hand frei, warf Nero Schnee ins Gesicht, zog die freigekommenen Beine an und verpasste dem Anderen einen Volltreffer zwischen die Beine, dass er mit einem Schmerzensschrei aufsprang und sich wehrlos die Beine von ihm wegfegen ließ.


Er sah nicht einmal zu, wie Nero in den Schnee fiel, er sprang auf und rannte so schnell er konnte. Fort von hier, seiner Heimat, hinein in die Dunkelheit und das Ungewisse. Und alles, was er von hier mitnahm, war Reue. Reue, dass es so und nicht anders gelaufen war. Reue, dass er Nara nie wieder sehen und auch sein Kind nie kennenlernen würde.


Obwohl der Schmerz ihn noch immer betäubte, rappelte sich Nero verbissen auf, um Nila unverzüglich nachzusetzen. Er hatte die Störenfriede längst ausgeblendet. Aber die ihn nicht.
     „Nero!“, machte eine davon auf sich aufmerksam.
     „Was?“, fauchte er in ihre Richtung, wollte sie stehen lassen, aber dann realisierte er endlich, wen er vor sich hatte.


Es war Mai. Ihr Gesicht voller Sorge. Und ein kleines, schreiendes Bündel auf dem Arm. Er versuchte, sich zu beruhigen, den immerzu an ihm nagenden Gedanken, dass Nila entkommen würde, zur Seite zu schieben. Es gelang ihm nicht gänzlich.
     Aber was Mai dann sagte, schaffte es dafür: „Gabriela... sie ist tot.“ Sie kam näher, streckte ihm das Bündel hin. „Wir sind gekommen, um dir deine Kinder zu bringen.“
      Er sah von ihr zu der anderen Gestalt hinter ihr. Es war Gael, ihr Mann, der ebenfalls ein Kind bei sich hatte.
     „Gabriela ist tot?“, fragte Nero, als würde er nicht verstehen.
     „Ja, sie hat die Geburt nicht überstanden“, berichtete Mai traurig.


Als er immer noch keine Anstalten machte, das Kind zu nehmen, sie nur weiter begriffsstutzig anstarrte, drückte sie es ihm einfach in die Arme. Das Kind hörte jetzt auf zu schreien, sah ihn einen Moment mit äußerster Anstrengung an, dann fielen ihm die Augen zu und es schlief ein. Nero nahm das alles wie durch einen Schleier wahr. Es fühlte sich einfach nicht echt an.
     „Ich… ich kann mich doch nicht… um zwei Kinder…“, stammelte er überfordert.
     „Du musst“, erwiderte Mai gnadenlos. „Es ist niemand anderes mehr da. Wenn du sie nicht nimmst…“
     Sie brach ab, sah sich um, kam näher und flüsterte: „Ich weiß, dass es nicht deine sind. Ich weiß, dass es die… meines Bruders sind. Gabriela hat es mir gestanden. Aber das weiß niemand. Nur wir drei. Und es darf auch niemand erfahren. Wenn es jemand erfährt – wenn Gabrielas oder meine Leute davon erfahren, werden die Kinder dort aufwachsen müssen, wo ich aufgewachsen bin und…“


Sie trat zurück, schüttelte den Kopf, dass die Haare flogen, die Augen weit aufgerissen. „Das kannst du ihnen nicht antun. Bis ich Gael geheiratet habe, habe ich nie gewusst, wie schrecklich es dort eigentlich ist. Dass ich bislang nie eine Familie hatte… Nero, wenn du ein Herz hast, behalte sie und zieh sie als deine auf. Die Blums sagen, dass sie sie nicht behalten können.“
     Nero war noch immer völlig von der Situation überfahren. Er hatte ja gewusst, dass er sich bald um Frau und Kind hätte kümmern müssen, aber jetzt gleich um zwei Kinder, und dann auch noch allein…
     „Wie heißen sie?“, hörte er sich fragen.


„Das ist Gabriela, die du da hältst und Gael hat… Lin.“ Sie schwieg betreten. „Gabriela hat die Namen ausgesucht, bevor sie gestorben ist. Du kannst sie ja anders nennen.“
     Nero nickte mechanisch, und Gael kam an, um den kleinen Lin an ihn zu übergeben, den gerade nichts auf der Welt aufwecken zu können schien.
     „Wir müssen jetzt zurück, bevor der Sturm noch schlimmer wird“, erklärte Mai. „Reinard war schon dagegen, dass ich Gabriela überhaupt besuchen gehe.“
     Sie gingen am frischgebackenen Zwillingsvater vorbei.


„Wenn es dort so schlimm ist“, hielt Nero sie auf, „warum geht ihr dann nicht von dort weg?“
     Mai blieb stehen, sagte: „Das werden wir eines Tages. Darauf kannst du dich verlassen.“
     Sie nahm Gaels Hand, tauschte einen Blick mit dem Stummen und ging mit ihm zusammen in die Nacht hinein, die immer stürmischer wurde. Während Nero völlig überfordert mit zwei Kindern zurückblieb, die nicht die seinen waren, aber wohl als solche aufwachsen würden.
     Und über all das hatte er es nicht mal geschafft, Nila seine gerechte Strafe zukommen zu lassen.


Kurz zuvor, Momente nachdem Nila gegangen war, war Malah gebrochen ins Haus zurückgekehrt. Es herrschte überall heiteres Gerede, aber sie blieb in der Dunkelheit der Küche stehen, beobachtete mit leerem Blick das Leben der Anderen und fragte sich, wie oft ihr Bruder sich wohl so gefühlt hatte. So völlig fremd und weit weg von allen anderen.


Sie musste ihren Großvater gar nicht suchen, er fand sie von sich aus. „Malah, Liebes, ist alles in Ordnung?“, fragte er sie behutsam.
     Malah schüttelte den Kopf, starrte vor sich hin. Sie konnte ihn nicht ansehen. Niemanden von ihnen. „Er ist weg“, sagte sie nur mit tonloser Stimme.
     „Nila“, kam ihr Großvater von ganz allein drauf.
     „Ja… Er ist weg. Und ich habe ihn gehen lassen…“ Jetzt sah sie doch mal auf, suchte Halt in den verständnisvollen Augen ihres Großvaters. Sie wünschte, sie hätte weinen können, aber es kamen ihr einfach keine Tränen, obwohl ihr zum Heulen zumute war. „Ich habe ihn gehen lassen!“


Bevor ihr Großvater etwas sagen konnte, ging die Tür hinter ihnen auf und Nero kam hinein. Zu ihrer Überraschung hatte er zwei Neugeborene bei sich. Er sah ironischerweise genau so aus, wie Malah sich momentan fühlte.
    „Gabriela hat also entbunden, wie ich sehe“, fand Tann als Erster seine Stimme wieder.
    Es war kurzzeitig eine große Sache, aber schnell abgehandelt gewesen, nachdem Nero vor ein paar Stunden gefunden worden war und vor allen erklärt hatte, dass es gestimmt hatte, was Gisa gesagt hatte: Gabriela war schwanger und er beabsichtigte, sie zu heiraten.
     „Ja…“, kam von Nero entgeistert. „Aber sie ist tot.“ Plötzlich sah er so hilflos aus, wie Malah ihn selten gesehen hatte. „Was soll ich denn jetzt mit zwei Kindern?“
     Und das war noch nicht einmal alles, was bald auf ihn zukommen würde.
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Und was das sein wird, werden wir das übernächste Mal erfahren. Weil dass Malah ihren verurteilten Bruder einfach hat gehen lassen, wird nicht ohne Konsequenzen für die Stammesführerin bleiben. Nila ist jetzt also verschwunden, und ich kann jetzt schon mal spoilern,  
     Ich hätte es ja wirklich nicht gedacht, dass mir Nila so sehr ans Herz wachsen würde. Am Anfang war ja geplant, dass er wie sein Großvater Dia Hell sein sollte, was ich schon ein bisschen abgemildert habe, als ich mich entschloss, dass er an Nara "geraten" soll und er sich wirklich in sie verlieben soll. Nara sollte bei der Abtreibung ursprünglich ja sterben, woraufhin Nila ihren Tod nicht verkraftet hätte und Selbstmord hätte begehen sollen. 
     Aber zu beidem konnte ich mich ja nicht bringen, und ich muss sagen, dass ich echt froh darüber bin. Nila ist dann unerwartet zu einem viel komplexeren Charakter geworden, als dass ich das gedacht hätte. Er hat grausame, unverzeihliche Dinge getan, für die er bestraft gehört. Auch Nara hat er etwas unverzeihliches angetan. Aber gleichzeitig hat er sie auch beschützt, ihr aufgezeigt, dass sie etwas wert ist. Und letztendlich hat er sie von sich befreit, weil er glaubt, nicht gut für sie zu sein. 
     Ja, Nila ist sich bewusst, dass er auch in der Zukunft Probleme damit haben wird, auf dem rechten Pfad zu bleiben, und das will er Kind und Frau nicht antun. Er traut es sich nicht zu. Und ja, die öffentliche Meinung, dass er eine geistig behinderte Frau hat, ist ihm auch immer noch nicht egal. Aber er hat sie wirklich geliebt, und das hat ihn in einen ziemlichen Gewissenskonflikt gestürzt. Ich persönlich weiß jedenfalls immer noch nicht, wie ich das letztendlich werten soll, aber ich weiß, dass Nila einer meiner liebsten Charaktere geworden ist. Vor allen Dingen mit seiner Schwester zusammen, deren Geschwisterbeziehung sich ebenfalls ganz unerwartet herzlich entwickelt hat. Wenn auch erst auf dem letzten Meter. 
 
Hier habt ihr jedenfalls noch ein paar Bilder davon, wie sich die beiden voneinander verabschiedet haben. Die beiden Sims sind im Spiel übrigens richtig gute Freunde (Beziehungswert von 100). 



 
Nächstes Mal hat Jade dann mit einem ganz neuen Gefühl zu kämpfen: Eifersucht. 
 
Bis dahin, passt auf euch auf, und ich verabschiede mich!

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