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Mittwoch, 9. Dezember 2020

Kapitel 128 - Das Mädchen, das einst keinen Namen hatte

 
Es war am Tag zuvor, noch bevor Wulfgar zurückgekehrt war, während der Sturm gerade dabei war, richtig an Fahrt aufzunehmen, dass Lulu und Alin im Handelsposten die letzten Sicherungsarbeiten abschlossen. 
     Lulu war mit ihrem Bruder Tann am gestrigen Abend hergekommen, um Kräuter für den kranken Lu zu besorgen, und sie war geblieben, als sie gesehen hatte, dass Alin und Isaac ganz allein waren, um den gesamten Posten vor dem Sturm abzusichern. Isaac war am Morgen noch aufs Dach geklettert, um ein paar lose Schindeln zu befestigen, was nicht nur sie für vollkommen verrückt gehalten hatte, und war danach verschwunden, um Medizin für den Kranken im Uruk-Stamm zuzubereiten.
     Er war gerade erst wieder in die Schankstube zurückgekommen, in der Alin und Lulu in diesem Moment die letzten Handgriffe erledigten. 

 
„Die Medizin ist fertig“, verkündete er. „Ich werde sie schnell abliefern gehen.“
     „Ich kann sie auch mitnehmen, wenn ich nachher zurück nach Hause gehe“, bot Lulu hastig an.
     „Dann begleite ich dich“, beschloss er einfach.
     „Ich… brauche aber noch einen Moment. Wir sind mit den Arbeiten noch nicht ganz fertig.“
     „Geh ruhig!“, rief Alin quer durch den Raum. „Ich schaffe den Rest auch allein.“
     Isaac nickte und ging zur Tür, doch Lulu zögerte. „Bist du sicher, dass du allein zurechtkommst?“
     „Ja. Und jetzt geht, bevor der Sturm euch gar nicht mehr gehen lässt.“
 

Sie ging Richtung Tür, hielt wieder inne, warf einen Blick zu dem Händler, der die letzten Fenster mit Brettern vernagelte. Wenn sie gehen würden, würden sie höchstwahrscheinlich während des Sturmes im Uruk-Haus festsitzen – Lulu glaubte nicht daran, dass Isaac, so wagemutig er auch war, es rechtzeitig zurückschaffen würde.
     Aber das bedeutete, dass Alin hier vollkommen allein die Stellung halten musste. Marduk war erst kurz vor dem Sturm in eine nahegelegene, kleine Siedlung geritten, um dort vielleicht noch ein Schiff zu erwischen, das dort losfahren sollte, und Hana war geschäftlich in Goldhain unterwegs. Köchin Cordelia war mit ihrer Tochter Adelaide gegangen, um deren Verlobten zu treffen, begleitet von Thorben, der behauptet hatte, Bekannte in der Gegend zu haben. Sie war sich jedoch ziemlich sicher, dass der umsichtige Fischer die beiden Frauen nur der Sicherheit wegen begleitet hatte. Selbst Isaacs Nichte Eris war momentan im Hell-Haus untergekommen, da sie sich jüngst mit Greta angefreundet hatte, wie Lulu gehört hatte.
 

„Ich glaube, ich bleibe während des Sturms lieber hier“, entschied sie deshalb, und schon als die Worte ihren Mund verlassen hatten, war sie überrascht, dass sie es gesagt hatte. Es war ihr einfach so gekommen und herausgerutscht. Ganz spontan. Das passierte ihr normalerweise nie.
     „Das brauchst du nicht.“
     „Aber sollte etwas passieren, wenn du ganz allein bist“, protestierte sie, und dann wurde sie ein bisschen streng, dass er genau die Mutter in ihr erkannte, „so wie letztens, als du krank warst.“
 

Tatsächlich war Alin vor knapp einer Woche bei der Arbeit umgefallen. Er war danach zwar umgehend wieder aufgestanden und hatte weitergearbeitet, aber Lulu, die ihm beim Aufstehen hatte helfen müssen, hatte festgestellt, dass er hohes Fieber gehabt hatte. Daraufhin hatte sie ihn, in einem ungeahnten Anflug von Mut, dazu verdonnert gehabt, sich hinzulegen und auszuruhen.
 

Sie hatte unter seinem Protest das Geschäft für den restlichen Tag übernommen, obwohl sie eine Heidenangst davor gehabt hatte, und sie war letztendlich heilfroh gewesen, dass keine Kunden mehr in den Laden gekommen waren.
 
 
Alin, der gerade den letzten Nagel in die Wand geschlagen hatte, legte jetzt den Hammer weg, verzog den Mund, so wie vor einer Woche, als er sie eine Vollblutmama genannt hatte, nachdem sie ihn zum Ausruhen gezwungen hatte.
     „Wenn es dich beruhigt“, sagte er. „Aber es ist wirklich nicht nötig.“
     Lulu nickte dem noch immer wartenden Isaac zu, dass er gehen konnte, und einen kalten Schwall stürmischen Windes später, war sie allein mit dem Händler in der Schankstube.
 
 
Und da fiel ihr dann auch auf, dass sie eigentlich nicht so gut darin war, allein mit anderen Leuten zu sein. Aber jetzt würde sie allein mit Alin sein. Die ganze Zeit des Sturmes über. Und als ihr das bewusst wurde, wurde ihr doch ein bisschen anders.
     Glücklicherweise hatte Alin aber Erfahrung im Umgang mit unsicheren Menschen wie ihr. Das hatte sie schnell erkannt. Er war niemals aufdringlich, stets höflich, zuvorkommend und verständnisvoll.


Ganz anders als Marduk, der sie immer gleich zur Schnecke gemacht hatte, wenn sie sich auch nur einen kleinen Fehler geleistet hatte. Sie war damals kurz davor gewesen, alles hinzuwerfen, als sein junger Neffe sie in ihre Aufgaben als Schreiberin eingewiesen hatte – wenn sie es sich nur getraut hätte. 
     Stattdessen hatte sie schnell gelernt, Fehler akribisch zu vermeiden.


Und sie war heilfroh und erleichtert gewesen, als Alin endlich von seiner Fahrt zurückgekommen war und ihre Ausbildung übernommen hatte. Er war ein wesentlich angenehmerer Vorgesetzter.  


Noch während Lulu sich überlegt hatte, zur Salzsäule zu werden, hatte er deshalb schnell die Arbeit ausgepackt gehabt. Es gab noch einiges an Schreib – und Rechenarbeit zu erledigen, die liegengeblieben war, und Lulu stürzte sich an diesem Abend mit doppeltem Feuereifer hinein.
     Den restlichen Abend verbrachten sie also bei schummrigem Licht über Papiere gebeugt, nur unterbrochen von dem aufgewärmten Abendessen, das Köchin Cordelia dagelassen hatte. Alin sagte, er bedaure, dass sie nicht wieder für ihn kochte, was sie ihm zwar nicht glaubte, aber mit einem freundlichen Lächeln beantwortete.


Dann fokussierte sie sich wieder ein bisschen zu sehr auf die Arbeit, um auszublenden, dass sie ganz allein mit jemandem war.
     Dennoch war sie den Großteil der Zeit vor allen Dingen damit beschäftigt, auf ihre Haltung zu achten. Saß sie richtig da? Waren ihre Beine in Ordnung so? Und wohin nur sollte sie mit ihren Händen, wenn sie nicht gerade schrieb? Sie versuchte, ihre Mimik und Gestik unter Kontrolle zu bekommen, um nicht komisch zu erscheinen, während sie so starr und mechanisch wie eine Puppe dabei aussah. Sie schien jeden Zentimeter ihres Körpers zu spüren, und der fühlte sich momentan einfach nicht richtig an.


Als sie dann doch einmal einen Blick zur Seite riskierte, sah sie genau in Alins dunkle Augen, woraufhin sie sich hastig wieder ihrer Arbeit zuwandte. Doch sie konnte trotzdem nicht verhindern, dass ihr die Frage in den Kopf schlich, ob er sie wohl beobachtet hatte.  


Die nächste Stunde war sie deshalb damit beschäftigt, verstohlen herauszufinden, ob sie etwas im Gesicht hatte. Vielleicht hatten sich auch Haare aus ihrer Frisur gelöst. Oder hatte sie etwas vom Abendessen zwischen den Zähnen?


Sie redeten kaum, und wenn sie es taten, ging es nur um die Arbeit. 
     Als Alin sich nach ein paar Stunden streckte und gähnte, verirrte sich sein Fuß zu ihrem, woraufhin sie heftig erschrak und den ihren hastig einzog, um ihm Platz zu machen.  


Er war es schließlich auch, der meinte, für heute genug zu haben und ins Bett gehen zu wollen. Sie war erleichtert, es hinter sich zu haben, raffte hastig die Papiere zusammen, die sie den Abend über bearbeitet hatte – ihr Stapel war wesentlich kleiner als der seine, da ihre Konzentration schon von dem Moment an im Eimer gewesen war, als ihr bewusst geworden war, dass sie allein mit ihm sein würde.
     Er nahm ihr den kleinen Stapel aber ohne Kommentar ab, wobei seine kräftigen Hände die ihren einen Moment lang umschlossen und sie eine Gänsehaut davon bekam. Sie betete, dass er es nicht merken würde, und dann war sie damit beschäftigt, sich zu fragen, ob es nicht Ordnung war, wenn sie schon nach oben fliehen würde, um sich in ihrem Zimmer einzuigeln und sich in Ruhe schämen zu können.


Da sie sich nicht entscheiden konnte, bis er wiederkam, blieb sie jedoch, wo sie war, und stakste mechanisch mit ihm zusammen nach oben. Vor ihrer Tür verließ er sie schließlich, wünschte ihr eine Gute Nacht, und sie konnte nicht schnell genug von ihm weg in ihr Zimmer schlüpfen.


Und sofort, nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, fiel eine riesige Last von ihr ab. Sie war heilfroh, dass das vorüber war.
     Aber dann kam die Scham mit voller Wucht über sie, weil sie sich gewahr wurde, dass sie sich den Abend über sicherlich irgendwann und irgendwie blamiert hatte, und das fegte die Erleichterung augenblicklich wieder hinweg.
     Zum Glück hatte sie aber jahrelange Übung darin, sich nach überstandener Blamage wieder einigermaßen zu beruhigen, sodass sie keine Stunde damit zubringen musste, sich zu schämen


Schließlich ging sie zu ihrem Bett hinüber, setzte sich darauf, schlüpfte in ihr Ersatznachthemd, das sie immer hier hatte, für den Fall, dass sie länger arbeiten und die Nacht im Handelsposten verbringen musste. Sie öffnete den straffen Knoten auf ihrem Kopf, sodass sich ihr Haar warm an Gesicht und Nacken schmiegte, dunkel über ihr weißes Hemd fiel, und kämmte es sich.
     Dabei fiel ihr die blankpolierte Bronzescheibe auf, die unweit entfernt auf dem Tisch lag. Alin hatte ihr die von seiner letzten Handelsfahrt mitgebracht und zum Geschenk gemacht, was sie ein bisschen in Verlegenheit gebracht hatte, da sie nicht wüsste, womit sie so etwas verdient gehabt hätte. Sie hatte sich bei ihrer Arbeit schließlich bislang nicht mit Ruhm bekleckert.


Als sie die Scheibe nahm und vor sich hielt, sah ihr ihr eigenes Gesicht, überzogen mit der rötlich schimmernden Farbe von Bronze, entgegen. Sofort sah sie sich da einem Abbild von Unglück gegenüber.
     ‚Wie ich nur aussehe! Grässlich!‘
     Sie folterte sich noch einen Moment länger mit ihrem eigenen Anblick – immerhin hatte sie nichts im Gesicht oder zwischen den Zähnen gehabt – und legte den Spiegel dann, noch unglücklicher als sie es ohnehin schon war, wieder zur Seite.


Zur Scham hatte sich jetzt auch noch das schrecklich selbstgeißelnde Gefühl von Minderwertigkeit gesellt. Sie seufzte schwer, einmal, zweimal, ein paarmal. Dann fluchte sie, als ihr auffiel, dass sie ihre Nachthaube Zuhause hatte liegen lassen. Also ließ sie ihr Haar, wie es war, löschte das Licht und ging zu Bett.


Doch der Schlaf wollte nicht so recht kommen. Der Sturm hatte kräftig zugelegt und zerrte mit allen Kräften am Gebäude, dass es überall im Gebälk über ihr knarzte. Sie drehte sich auf die rechte Seite. Hasste sich. Drehte sich wieder auf die Linke. Versuchte an nichts zu denken und fragte sich die ganze Zeit, was sie wohl alles die letzten Stunden über falsch gemacht hatte. Erneut umdrehen.


Sie stellte sich schläfrig vor, wie Alin zu ihr ins Zimmer kommen und sich zu ihr ins Bett legen würde. Sie mit seinen großen, warmen Händen umarmen würde. Sie wurde wach, schämte sich, schalt sich, nicht dumm zu sein und sich keine unsinnigen Hoffnungen zu machen, drehte sich. Dreimal, dann glitt sie endlich in einen seichten Schlaf hinüber.


Ein Krachen riss sie aus einem weiteren Traum. Sie saß mit klopfendem Herzen im Bett, der Boden an ihren Füßen war eiskalt, doch sie dachte trotzdem nicht an ihre Stiefel und rannte barfuß nach draußen. Es krachte wieder, als sie die Tür erreichte. Sie zuckte zusammen, schrie, hastete auf den Flur hinaus.


Und dann sah sie wieder in Alins Augen, die beinahe schwarz in der Dunkelheit waren. Er stand vor seiner offenen Zimmertür, sah sie an.
     „Ist alles in Ordnung?“, fragte er. „Ich habe dich schreien hören.“
     Es krachte erneut. Sie machte einen erschrockenen Satz nach vorne, klammerte sich an ein Hemd.


„Das Dach!“, rief sie panisch, kniff die Augen zusammen und verbarg sich an seiner Schulter, als es erneut heftig krachte.
     „Hab keine Angst, das ist nur der Sturm“, hörte sie ihn sanft sagen.
     Sie warf einen zögerlichen Blick über die Schulter, starrte ins Dunkel über ihren Köpfen.
     „Es bewegt sich! Siehst du, da bewegt sich was am Dach!“
     „Ich sehe nichts.“´


Sie sah zu ihm, sah wieder seine Augen, die auf sie gerichtet waren. Ließ ihn los. Trat einen Schritt zurück. Jetzt war sie richtig wach, wusste, was sie tat.


„J-ja. Du hast recht. En-Entschuldige. Ich war schon eingeschlafen“, stotterte sie, hin- und hergerissen zwischen Panik und Scham. „Ich gehe besser wieder schlafen.“
     Sie ging ein paar Schritte, es krachte, sie schrie.
     „Wenn du willst, kann ich dir unten im Wirtsraum was herrichten, dass du dort schlafen kannst.“
      Sie schüttelte zögerlich den Kopf. Doch als der Sturm am Dach zog, zuckte sie trotzdem wieder zusammen.
     „Würdest du dich sicherer fühlen, wenn du nicht allein wärst?“, fragte er und trat zur Seite, um ihr eine Einladung in seine Räumlichkeiten zu signalisieren.


Sie wollte es nicht, aber das nächste Krachen ließ sie trotzdem unbeholfen zu ihm stolpern. Hastig schlüpfte sie an ihm vorbei in sein Zimmer, in dem sie noch niemals zuvor gewesen war.
     Es war größer als alle anderen, hatte zwei Fenster, die momentan mit Brettern vernagelt waren, und zwei wuchtige Schränke zu ihrer Linken und Rechten. Doch ansonsten war es sparsam eingerichtet. Ein großes, einfaches Bett, eine Liege, ein Tisch und ein Stuhl davor. Der Tisch war übersät mit unordentlichen Stapeln an Dokumenten, daneben brannte unruhig eine Flamme in einer kleinen Lampenschale.


„Du kannst das Bett haben. Ich schlafe dann auf der Liege.“
     „Das ist wirklich nicht nötig“, wehrte sie hastig ab. „Ich nehme natürlich die Liege.“
     „Ich bestehe darauf. Ich habe dich in meinen Raum eingeladen, also lass mich auch ein guter Gastgeber sein“ Er lächelte beruhigend, als er ihr unglückliches Gesicht sah. „Mach dir keine Gedanken. Ich habe schon die ein oder andere Nacht auf der Liege verbracht, wenn ich beim Lesen eingeschlafen bin. Sie ist recht bequem.“


Lulu machte sich aber Gedanken. Sie schämte sich, dass sie Alin solche Umstände bereitete, doch sie widersprach kein zweites Mal. Sie wollte auch nicht unhöflich sein. 
    Also schlüpfte sie unter die Bettdecke, die genauso rau wie die ihre war, und wünschte sich, nicht hergekommen zu sein. Die Decke war kalt, was sie ihr sagte, dass sie ihn immerhin nicht aufgeweckt hatte.  


Das Drehen von neuem, aber diesmal wollte sie partout nicht in den Schlaf finden. Sie fühlte sich überhaupt nicht wohl, musste immer daran denken, dass sie nicht allein war und wie viele Umstände sie dem eigentlichen Bewohner des Zimmers bereitete.
     Zudem riss der Sturm inzwischen recht regelmäßig am Dach und neben das leise Knarzen hatte sich jetzt wieder das ungute Krachen gesellt. Ein paarmal glaubte sie, Holz splittern zu hören, doch alles blieb dunkel und unbewegt über ihr. Der Wind pfiff ohrenbetäubend laut durch jede Ritze in der Wand.


Als ihr der Rücken begann, wehzutun, gab sie auf, schlug die Decke zurück und setzte sich auf den Bettrand. Sie wollte sich ein wenig die Beine vertreten, doch daraus wurde nichts, da sie feststellen musste, dass Alin noch gar nicht schlief. Er saß an dem überladenen Tisch und studierte die Dokumente. Seine Gestalt verdeckte das Lämpchen und malte einen riesigen Schatten an die Wand hinter ihr.


Sie überlegte, sich lieber wieder hinzulegen, aber da wurde er dummerweise auf sie aufmerksam.
     „Habe ich dich wach gemacht?“, fragte er. „Entschuldige.“
     Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht schlafen. Und du? Warum bist du noch wach?“
     Als ihr bewusst wurde, dass sie eine überflüssige Frage gestellt hatte, weil es ja offensichtlich war, was er tat, wurde sie ein bisschen rot. Aber das sah er in dem Dunkel seines Schattens, der auf ihr lag, glücklicherweise nicht.
     „Ich hatte noch zu tun. Ich arbeite jeden Abend vorm Zubettgehen noch ein wenig. Es macht mich müde und hilft mir beim Einschlafen, dass ich den Kopf von meiner Arbeit frei habe.“
     „Und dabei kam es mir so vor, als ob deine Arbeit nie endete“, kicherte sie verhalten.
     Er warf einen gequälten Blick auf den Berg an Dokumenten hinter sich, der noch größer geworden zu sein schien. „Stimmt. Das tut sie auch nicht.“ Er stand er auf, streckte sich. „Wir könnten uns ein wenig unterhalten, wenn du möchtest. Vielleicht lenkt es dich vom Sturm draußen ab, und dann kannst du einschlafen. Und ich könnte auch eine kleine Pause gebrauchen.“


Sie wollte eigentlich alles andere als das, aber sie nickte aus Höflichkeit. Da nahm er seinen Stuhl, kam zu ihr und ließ sich ihr schräg gegenüber nieder.
     „Du kannst mir ja etwas über dich erzählen“, schlug er vor. „Ich weiß so gut wie gar nichts über meine neuste Mitarbeiterin. Und dabei sehe ich uns hier doch so gerne allesamt als Familie.“
     „Ach! Da gibt es nichts zu erzählen.“
     „Ich bin mir sicher, dass du untertreibst.“
     „Nein, wirklich nicht. Mein Leben war völlig unspektakulär. Vor allen Dingen im Gegensatz zu deinem. Du hast bestimmt schon viel gesehen und kannst viel Spannendes erzählen.“
     „Wenn du endlose Zahlentabellen und Diskussionen über Preise spannend findest, kann ich eine ganze Menge erzählen, ja.“
     „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das alles ist, was ein Händlerleben ausmacht.“


„Nein, aber einen Großteil davon. Den anderen Teil machen endlose Fahrten zu Land und Wasser aus. Es ist immer dasselbe. Verhandlungen, Einkauf, Transport und Weiterverkauf. Deswegen habe ich auch irgendwann hier eine Niederlassung gegründet und die Fahrten größtenteils meinen Geschäftspartnern überlassen. Ich war das andauernde Herumreisen leid. Falls du dich erinnerst, wollte ich ja ursprünglich nie Händler werden.“
     „Aber was dann?“, fragte sie interessiert, völlig ihrer Umgebung vergessen, gefesselt von seinen dunklen Augen. „Wolltest du etwa ein ganz banales Leben als Bauer führen?“
     „Daran ist nichts verkehrt. Das ist ein ehrliches und anständiges Leben.“


„Ich war aber trotzdem zuerst bei einem Töpfer in die Lehre gegangen, nachdem mir klar geworden war, dass ich nicht in die Fußstapfen meines Vaters treten wollte.“
     „Wirklich?“
     „Ja.“ Er lächelte ein wundervolles Lächeln. „Aber nur weil ich mich in seine Tochter verguckt hatte. Ich war als Töpfer völlig ungeeignet.“


„Doch ich durfte seine Tochter trotzdem haben, und nachdem wir geheiratet hatten, kam ich über die Verbindungen meines Vaters günstig an ein recht gutes Stück Land. Ich musste zwar einen Kredit aufnehmen, aber wir kamen zurecht, Nindada und ich.“


„Nindada war deine Frau?“
     Er nickte, und auch wenn er es versuchte, zu verstecken, wurde er schwermütig beim Gedanken an seine erste Frau. „Sie hat’s sieben Jahre bei mir ausgehalten.“
     „Und dann ist sie einfach gegangen?“
     „Nein, dann stand sie plötzlich mit dickem Bauch vor mir. Du kannst dir meine Freude sicherlich vorstellen. Versteh mich nicht falsch, ich wusste, dass es nie und nimmer nicht meins sein konnte – ich bin ja nicht dumm.“


„Wir hatten es schließlich sieben Jahre versucht und“, er stockte und wandte das erste Mal den Blick von ihr ab, „ich hab’s mitbekommen, wie sie mit meinem besten Freund... du weißt schon. Sie waren nicht sehr vorsichtig.“
     Er sah sie wieder an, versuchte zu lächeln, aber es sah gequält aus. „Ich habe trotzdem mitgespielt. Dachte, wir ziehen es zusammen auf. Doch sie hat mir ins Gesicht gesagt, wie es war und mich gebeten, sie gehen zu lassen.“
     „Also hast du sie gehen lassen? Einfach so?“


„Was sollte ich auch anderes machen? Klar hätte ich einfach nein sagen können und sie hätte nichts dagegen tun können. Schließlich war ich ihr Mann. Ich hätte sie auch des Ehebruchs anklagen können – das wäre ihr Tod gewesen. Das wusste sie auch. Aber sie ist trotzdem ehrlich zu mir gewesen. Das habe ich ihr hoch angerechnet. Mein Freund, der danach nicht mehr mein Freund war, wie du dir vorstellen kannst, hatte kurz zuvor seine Frau an eine Krankheit verloren und er wollte Nindada heiraten. Also habe ich sie gehen lassen.“
     „Das tut mir leid…“


„Muss es nicht. Ich habe mich damals lange genug in Selbstmitleid gesuhlt, aber das liegt alles längst hinter mir.“
     „Was hast du danach gemacht? Du hast ja nochmal geheiratet, soweit ich mich richtig erinnere.“


„Ja.“ Er verzog das Gesicht. „Aber das war ein großer Fehler. Nachdem Nindada fort war, hat mein Vater mich beredet, dass ich mein Haus und das Land verkaufen und endlich bei ihm ins Geschäft einsteigen soll. Ich bin sein einziger Sohn, musst du wissen. Es war für ihn eine Katastrophe, dass ich kein Interesse daran hatte, seine Geschäfte zu übernehmen. Er war stinksauer, hat sieben Jahre lang nicht mit mir geredet, aber trotzdem ein gutes Wort für mich eingelegt, als es darum ging, Land für mich nach der Hochzeit mit Nindada zu kaufen.
     Und dann, nachdem meine erste Frau weg war, kam er sofort wieder an. Ich hätte auf ihn hören sollen, doch ich war stur wie ein Esel. Ich dachte, dass, wenn es nicht mit Nindada klappte, es vielleicht mit einer anderen klappen würde. Also habe ich mich auf die Suche nach einer anderen Frau gemacht.“


„Und ich fand sie in der Tochter des Verbindungsmannes meines Vaters, der mir damals das Land vermittelt hatte. Er war inzwischen in ziemlichen finanziellen Schwierigkeiten und hoffte wohl, über die Hochzeit die Verbindung zu meinem Vater zu stärken, der gerade eine lukrative Karawane verkauft hatte.“
     „Wie hieß deine zweite Frau?“, fragte Lulu, als Alin nicht weiter erzählte.
     „Enheduana.“
     „Mochtest du sie?“
     Er sah sie ein bisschen überrascht an, beinahe so, als würde er sich erst jetzt gewahr werden, dass sie überhaupt da war. Dann lachte er plötzlich.


„Oh, sie hat mich gehasst, aber ich habe sie trotzdem irgendwie liebgewonnen. Sie war unheimlich gut mit Worten, konnte sogar schreiben, und ich habe es geliebt, wenn sie gesungen hat. Das war, als würde man der Sonne beim Aufgehen zuhören können.“
     „Und wie ist es diesmal passiert?“
     „Enheduana war noch sehr jung. Vierzehn, glaube ich, als wir geheiratet haben. Da war ich schon dreiundzwanzig. Und nach vier Jahren dann, in denen die Kinder natürlich ausblieben, hat ihr Vater einen ziemlich hohen Posten ergattern können, und er hat gesehen, dass aus der erhofften Verbindung zwischen unseren Familien nichts geworden ist, weil ich plötzlich ein Taugenichts von einem Bauern in seinen Augen war und zwischen mir und meinem Vater wieder Funkstille herrschte. Viel mehr war das inzwischen eine ziemliche Schande für ihn, dass er so einen nichtsnutzigen Schwiegersohn hatte.“  


„Enheduana hat Brief um Brief an ihren Vater geschrieben und sich bei ihm beklagt, dass sie das Landleben hasst. Das war einfach nichts für sie. Ich sagte ja, dass sie gut mit Worten war. Sie hat gern geschrieben und ihr Herz hat dem Mondgott Nanna gehört. Also habe ich gehandelt, bevor ihr Vater es tun konnte und habe sie gehen lassen. Er hätte nichts gegen unsere Ehe tun können, aber ich wollte lieber nicht provozieren, dass ich einen „tragischen Unfall“ erleide, wenn du verstehst, was ich meine.“
     „Ich verstehe aber nicht, warum du dann trotzdem Händler geworden bist, wenn du es so sehr nicht wolltest. Es passt auch gar nicht zu dir, finde ich.“
     „Findest du?“, fragte er überrascht.


„Ja. Du bist viel zu… hm… gutherzig dafür. Ich will damit nicht sagen, dass alle Händler kein Herz haben, aber du wärst, ganz ehrlich, ein besserer Schamane gewesen, als ein Händler. Deswegen fragen sich auch alle in der Gegend, warum du überhaupt Händler geworden bist.“
     „Tun sie das?“, fragte er schmunzelnd, und als sie nickte, erklärte er: „Das ist interessant, weil es auch das war, was mein Vater mir damals immer gesagt hat.“


„Er hat immer ganz missbilligend den Kopf geschüttelt und gesagt: „Junge, wenn du unsere Waren weiter zu solchen Niedrigpreisen verscherbelst, kannst du sie auch gleich beim Tempel an Arme verschenken.“ Trotzdem hat er mich mit offenen Armen empfangen, als ich angekrochen kam. Ja, ich hätte weiter in meinem Haus als Bauer leben können, aber“, er zuckte mit den Schultern, „es war wohl Trotz, dass ich Haus und Land verkauft habe und dann doch ins Geschäft meines Vaters eingestiegen bin.“


„Ich hatte eine genaue Vorstellung, wie mein Leben laufen sollte. Heiraten, Familie gründen, auf meinem Land alt und grau werden und sterben, während ich dabei zusehe, wie meine Söhne und Töchter mein Land bestellen. Und als das nicht geklappt hatte, war es zu schwer, dort zu bleiben. Ich wollte nicht dauernd daran erinnert werden, dass mein Traum aus und vorbei war. Dass ich ihn nie erreichen würde und höchstens allein und einsam dort sterben konnte. Deswegen bin ich zurück nach Hause gegangen. Zu meinen Eltern, der einzigen Familie, die ich noch hatte, und bin letztendlich Händler geworden.“
     „Aber deine Eltern sind inzwischen tot, hast du erzählt.“
     „Ja, das stimmt.“


„Bist du da jetzt nicht schrecklich einsam?“, fragte sie so inbrünstig, dass es ihm einen Moment lang die Sprache verschlug.
     Er musste sich erst von ihrem Anblick losreißen, um antworten zu können: „Nein, eigentlich nicht“, sodass er nicht sah, wie Lulus Schultern nun hoffnungslos einsackten. „Wie ich dir schon damals sagte, als dein Junge weg ist, habe ich durch meinen Beruf viele Menschen kennengelernt.“
     Und viele Affären gehabt, aber das erwähnte er lieber nicht. Er schwieg stattdessen einen Moment, bevor er hinzufügte: „Vielleicht bin ich auch deshalb Händler geworden. Um der Einsamkeit zu entkommen.“
     Danach war es eine Weile still, jeder von ihnen in seine eigenen Gedanken versunken, sodass das Knarzen und Knacken von Wänden, Balken und Dach wieder zu hören war. Der Sturm tobte unbeirrt heftig.  


„Und du? Was gibt es über dich zu erzählen?“, fragte Alin schließlich und riss Lulu ins Diesseits zurück.
     „Nichts wirklich. Ich und mein Leben sind furchtbar langweilig.“
     „Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendetwas, was mit dir zu tun hat, langweilig sein könnte.“


Sie hörte das Kompliment gar nicht und erwiderte: „So ist es aber. Das einzig Spektakuläre war vielleicht, dass ich beinahe nicht auf die Welt gekommen wäre, weil ich damals so krank und schwach war.“
     „Da bin ich ja heilfroh, dass du es geschafft hast.“



„In meiner Kindheit ist dann überhaupt nichts passiert“, überhörte sie die netten Worte ein zweites Mal.




„Die Geburt meiner drei Söhne und der Tod meines Jüngsten, wie du vielleicht weißt, ist alles, was in meinem späteren Leben da noch erwähnenswert ist.“
     Auch wenn sie Letzteres noch immer nach Kräften zu verdrängen versuchte.


„Ich bin mir ziemlich sicher, dass du mir eine ganze Menge unterschlägst“, lenkte Alin sie glücklicherweise von ihren aufkommenden, trüben Gedanken ab.
     Sie antwortete nicht darauf, zog nur unbestimmt die Schultern in die Höhe. Einen kurzen Moment, den er damit zubrachte, auf seine Hände zu starren, war es danach wieder still zwischen ihnen.
     „Darf ich dich etwas persönliches fragen?“, setzte er das Gespräch schließlich fort, und als sie zögerlich nickte, fragte er: „Warst du eigentlich jemals verheiratet? Oder… hattest du einen Gefährten, wie ihr hier sagt?“


Sie wandte den Blick ab. „Nein.“
     „Wie kommt das?“
     Wieder das unbestimmte Schulterzucken. Jetzt war sie es, die auf ihre Hände hinabsah.
     „Wolltest du denn niemanden?“
     „Doch. Schon. Aber…“
     „Aber?“
     „Mich wollte halt niemand“, antwortete sie leise.
     „Das kann ich gar nicht verstehen.“


Sie hatte nichts mehr zu sagen. Sie fühlte sich so elend. Die letzte Zeit, die Alin erzählt hatte, war das glücklicherweise nicht so gewesen. Sie war so fasziniert von seiner Geschichte gewesen, dass sie sich und ihre Umgebung vollkommen vergessen hatte. Wie in den wunderbaren Momenten, wenn sie mit den wenigen Menschen zu tun hatte, denen sie wirklich nahe stand. Ihre Familie, ihre wenigen Freunde.
     Doch nun war der magische Moment vorüber und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als auf der Stelle verschwinden zu können. Sie fühlte sich plötzlich so bloßgestellt vor ihm. Sie hatte noch nie mit jemandem über ihre Einsamkeit gesprochen. Nicht einmal mit Wulfgar, der für eine Weile ihre größte Vertrauensperson gewesen war.


„Du fragst mich, ob ich einsam bin“, fing er plötzlich – zögerlich, wie es sich anhörte, aber was sie nicht glaubte – an, „doch wie sieht es bei dir aus?“
     Ein verbaler Schlag in ihren Magen. Ihr Herz fühlte sich zerquetscht, es war ihr, als ob sie kaum atmen konnte. Sie wollte nicht antworten, aber sie wusste, dass sie es tun musste. Nur, als sie den Mund öffnete, kamen einfach keine Worte heraus. Es war, als ob sie stumm war. Stattdessen kamen die Tränen, und sie hatte keine Chance, rechtzeitig das Gesicht abzuwenden, bevor er es sehen konnte.


„Warum weinst du denn?“, hörte sie ihn erschrocken fragen. „Ich wollte dich nicht kränken. Wenn ich dich gekränkt habe, tut mir das leid. Das wollte ich nicht.“
     Sie antwortete ihm nicht. Reagierte überhaupt nicht. Hatte nur das Gesicht in den Händen vergraben und weinte leise. Es war ihr einfach nicht möglich, aufzuhören, und sie schämte sich so sehr dafür.
     Dann, nach einer Ewigkeit, spürte sie eine kräftige Hand an ihrer Schulter, und da erst bemerkte sie, dass sie zitterte.
     „Wein doch nicht…“
     Es verging eine weitere Ewigkeit, in der sie nur lautlos weinte, bis sich plötzlich zwei Arme um sie schlossen.


Sie spürte eine unheimliche Hitze von ihm ausgehen, hörte leise seinen Herzschlag. Er strich ihr beruhigend übers Haar, das noch immer offen war und das sie völlig vergessen hatte, in Ordnung zu bringen.
     Sie hatte immer Angst davor gehabt. Sich einzugestehen, was sowieso eine vergebliche Hoffnung sein würde. Einsam zu sein war eine Sache, aber zu hoffen und letztendlich enttäuscht und verletzt zu werden, war beinahe noch schlimmer. So wie damals bei Wulfgar. Deshalb hatte sie sich geschworen, sich nie wieder Hoffnungen bei jemandem zu machen – es würde ja sowieso nichts dabei herauskommen. Und so hatte sie es auch bei Alin gehalten. Doch hier und jetzt, in seinen Armen, erlaubte sie sich zu fühlen, was sie so lange verleugnet hatte.


Nur einen Moment. Nur einen klitzekleinen Augenblick lang. Sie krallte sich in sein Hemd, klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende, genoss die Nähe, die sie so viele Jahre lang entbehrt hatte. Die Kälte verschwand langsam aus ihren Gliedern, wich einer blühenden Wärme, die ihr Herz schlagen und ihre Wangen heiß werden ließ.
     Wie gern nur würde sie hier bleiben, in diesem Moment, doch sie wusste, dass sie bald in die Kälte zurückkehren würde, die Einsamkeit hieß. Und als ihr das bewusst wurde, als der wundervolle Moment endete, kamen die Tränen, die versiegt waren, erneut zu ihr zurück. Und die Angst kam mit ihnen.


„Nein… nein… ich will nicht, dass das endet… ich will nicht wieder… ich will nicht wieder einsam sein! Ich bin es so satt! Immer nur allein zu sein. Jahr um Jahr zu warten und zu hoffen, dass jemand mich endlich sieht. Aber… aber da war niemand. Da ist nie jemand gekommen. Ich war immer nur unsichtbar. Alle haben sie nach und nach jemanden gefunden. Alle waren sie glücklich um mich herum, aber ich war immer nur allein. Warum nur? Was ist nur falsch mit mir? Warum bin ich so hässlich und warum bin ich so langweilig, dass mich niemand haben will? Warum kann ich nicht so interessant und gutaussehend sein wie die Anderen? Ich… ich… das tut so weh! Das tut mir so verdammt weh! Ich will doch auch mal gesehen werden! Nur einmal für jemanden das Wichtigste sein…“
     All die Jahre hatte sie den Schmerz in sich getragen und nun war er aus ihr herausgebrochen, bevor sie es hatte verhindern können. Sie hatte aber gar nicht erst die Zeit, sich darüber bewusst zu werden, was sie eigentlich gerade getan hatte, da Alin sie jetzt fest an sich drückte, die Wange auf ihren Scheitel legte.

 
„Für mich bist du die wichtigste, schönste und liebste Frau auf dieser Welt. Ich habe mir damals geschworen, nie wieder zu heiraten, und ich habe danach auch nie wieder jemanden geliebt. Aber seitdem du damals nach einer Fahrt mit Essen auf mich gewartet hast, konnte ich dich nicht mehr vergessen. Du hast mich in deinen Bann gezogen, Lulu. Deine Schönheit. Deine Liebenswürdigkeit. Dein großes Herz. Nur weil ich mir geschworen habe, nie wieder zu heiraten, habe ich es gar nicht erst bei dir versucht. Aber wenn ich gewusst hätte…“
     Er löste sie von sich, sah sie eindringlich an, und als sie sein Gesicht vor sich sah, war es das Schönste, was sie je gesehen hatte.
     „Ich liebe dich, Lulu. Ich weiß, dass ich keine sehr gute Wahl bin. Ich kann keine Kinder machen, ich bin oft nicht mal da, doch wenn du mich haben willst…“


Lulu antwortete ihm nicht mit Worten. Sie zog sich stattdessen an ihm hoch und kostete das erste Mal etwas, von dem sie schon so viele Jahre geträumt hatte.
     Eine Weile hing sie an seinen Lippen, genoss die Wärme, die von ihm ausging und den Geruch von Leder, der ihn ausmachte, das aufregend kribbelnde und berauschende Gefühl von Liebe, das sie ausfüllte. Dann zog sie an ihm, und er kam ihrem Ziehen nach, begleitete sie ins Bett.


Als sie unter ihm lag, löste sie ihre Lippen schließlich von seinen, und er schenkte ihr eines seiner wundervollen Lächeln, die ihr warm ums Herz werden ließen.
     „Ich nehme mal an, dass das ein ja ist“, sagte er sanft.
     „Wie könnte es das nicht sein? Du bist der liebevollste, beste Mann, den ich je getroffen habe, und ich liebe dich auch.“  
     Er antwortete nur mit einem Lächeln – er war tatsächlich um Worte verlegen, ging ihr auf. Also zog sie wieder an ihm und sagte mit einem vielsagenden Grinsen: „Ich weiß, wie wir zwei die Isolation des Sturms gut nutzen können.“
     „Bist du sicher, dass du nicht warten willst?“, fragte er mit einem Gesicht, dass er auch nichts dagegen hätte, wenn sie nicht warteten.
     Doch Lulu wollte nicht warten. Sie hatte viel zu viele Jahre damit zugebracht, zu warten.


Bislang waren die Jahre der Einsamkeit nur ein paarmal unterbrochen gewesen. Immer dann, wenn sie mit Wulfgar das Bett geteilt hatte. Aber das war lange her, und sie hatte es wahnsinnig vermisst, musste sie sagen.


An diesem Abend, nachdem sie sich lang und ausgiebig und immer wieder erkundet hatten, bis die Flamme in der kleinen Schale erloschen war, schlief Lulu das erste Mal in ihrem Leben glücklich und zufrieden an jemandes Seite ein.
     Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie nicht allein war.
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Jetzt hat Lulu also auch endlich ihren großen Auftritt gehabt und die Liebe gefunden. Ich glaube neben Luis (der ja inzwischen öfter vorkommen durfte/musste) war sie diejenige, die die wenigsten Auftritte bislang hatte. Ich habe auch lange überlegt, was ich mit ihr eigentlich machen soll. Sie sollte ursprünglich ja mal Lus Frau werden, was ich dann ja verworfen habe, als ich mich dazu entschied, dass er kein Interesse an ihrem Geschlecht haben soll. 
     Danach war sie immer mal wieder als Rahns Gefährtin im Rennen, was ihr ja aber letztendlich von Akara abspenstig gemacht worden war. Und dann schließlich - endlich - kam mir Alin in den Sinn. 
     Er sollte am Anfang eigentlich auch einen anderen Charakter haben, der mehr in Richtung Marduk geht, was sich aber einfach nicht so angeboten hat. Und mit seiner unglücklichen Hintergrundgeschichte ist es auch nicht nur verständlicher, warum er eben kein gieriger Händler ist, sondern passte er da auch gut zu Lulu, die sehr familiär ist. Immerhin ist eine Familie genau das, was Alin immer gewollt hatte, was ihm aber leider verwehrt geblieben ist.
     Die Szene war jedenfalls schwierig für mich, zu schreiben, da ich irgendeinen Umstand schaffen musste, dass die schüchterne Lulu mal aus sich herauskommt. Alin hätte ja nicht so das Problem damit, zu sagen, was er will, aber er hatte sich ja blöderweise vorgenommen, es nicht bei ihr zu probieren, weil er dachte, nicht gut für sie zu sein (was ihn nicht davon abgehalten hat, trotzdem unbewusst immer mal wieder sein Interesse an ihr zu bekunden).
 
Der Kapitelnname ist übrigens eine Anspielung auf Kapitel 7 - Das Mädchen ohne Namen, in dem Lulu geboren worden ist.

Alins zwei Exfrauen sind übrigens inspiriert von zwei sumerischen Frauen. Die erste, Nindada (oder auch Nin-dada), wurde einst für die Mittäterschäft am Mord an ihrem Mann angeklagt und mit drei Mittätern zum Tode verurteilt. Stattgefunden im 19.Jh.v.Chr. in Nippur. Enheduana (23. Jh.v.Chr.) wiederum war die Tochter von Sargon von Akkad, die die Hohepriesterin des Mondgotttes Nana in Ur war. Sie gilt als erster namentlich erwähnter Autor der Welt und wurde für ihre Hymnen an Inanna von Uruk berühmt.

EDIT: Der Esel von Alins Rückblick ist übrigens ein umgestyltes Pferd, von hier.
 
Nächstes Mal dann geht es aber wieder im Uruk-Haus weiter, wo wir endlich mal erfahren werden, ob Lu jetzt überlebt oder nicht und Tann eine erschreckende Neuigkeit erfährt (und nein, es hat nichts mit Nila zu tun).
 
Bis dahin, danke euch fürs Vorbeischauen, passt auf euch auf, und ich verabschiede mich.  

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