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Mittwoch, 30. September 2020

Kapitel 123 - Freunde - oder - diese eine Nacht in der Winterkälte



Nero war froh, dass die Sache mit seinen Eltern endlich aus der Welt war, aber leider waren seine Sorgen damit noch nicht vorbei. Denn da war ja noch immer Adelaide. Und nach seinem (etwas einseitigen) Gespräch mit seiner Mutter, war er entschlossener denn je, ihren Rat zu befolgen und die Sache mit seiner Freundin endlich zu klären. Er hatte nach wie vor mächtig Muffensausen davor, doch es musste getan werden.


Nur, dass er am Handelsposten erstmal Gabriela über den Weg laufen musste. Ausgerechnet! Sie hatte einen kleinen, vollbeladenen Korb bei sich, den sie sofort abstellte und hinüberkam, als sie ihn bemerkt hatte.
     „Du bist so lange nicht mehr vorbeigekommen. Da dachte ich mir schon das Schlimmste“, überfiel sie ihn gleich mit süßlicher Stimme. „Magst du mich etwa nicht mehr sehen?“
     „Doch, natürlich! Es ist nur… ich habe gerade ein paar Sorgen, die mich etwas abgelenkt haben.“
     Selbstverständlich fragte Gabriela nicht nach, sondern sagte stattdessen: „Naja, weißt du, wenn wir zusammenwohnen würden, könnten wir uns jeden Tag sehen. Ich wäre auch bereit, zu dir zu ziehen.“ Sie wartete, aber als er nichts dazu sagte, fragte sie vorwurfsvoll: „Sag mal, hast du eigentlich schon mal daran gedacht, dass es langsam an der Zeit wäre, zu heiraten?“


„Gerade nicht, nein.“
     „Warum denn nicht? Alle heiraten doch bald! Mai hat sogar schon geheiratet! Und schau dir Nio und Wolfmar an, die werden sogar schon Eltern! Wenn Wylona auch noch jemanden findet, bin ich die Einzige im Haus, die niemanden hat.“
     Von alle konnte nun wirklich nicht die Rede sein. Vielleicht alle ihre Freundinnen, aber ein Großteil seiner Freunde war noch nicht verheiratet und es sah auch nicht danach aus, dass sich das so bald ändern würde.
     „Ich habe aber gerade andere Sorgen. Das habe ich doch schon gesagt.“
     „Nun, wenn du eine Frau an deiner Seite hättest, könnte die dir bestimmt helfen.“ Wieder wartete sie und wieder sagte er nichts dazu, und da schlug ihre vorwurfsvolle Stimmung in Wut um. „Ach, komm schon! Warum fragst du mich nicht einfach?“


„Tut mir leid, Gabriela, aber momentan will ich einfach nicht heiraten. Das habe ich dir doch jetzt schon zweimal gesagt.“
     „Warum denn nicht? Ich dachte, du liebst mich!“
     Er sah sie irritiert an. Sicher, ihr Anblick löste irgendetwas in ihm aus, das er inzwischen als Verlangen eingeordnet hatte, aber ihr Charakter machte selbst das zunichte. Liebe konnte man das nun wirklich nicht nennen. Wenn er so darüber nachdachte, war er noch nie verliebt gewesen.


„Ich liebe dich nicht. Das habe ich nie gesagt.“
     Sie sah so erschrocken darüber aus, dass es ihm schon wieder leid tat, was er gesagt hatte. Zumindest, bis sich die Wut auf ihr Gesicht zurück schlich.
     „Warum hast du mich dann in dem Glauben gelassen, du tätest es, hä? Ich hätte schon längst jemand anderen haben können, doch ich habe auf dich gewartet, weil ich dachte, du würdest mich lieben!“
     Er war sich ziemlich sicher, dass es diesen Anderen gar nicht gab.


„Wenn das so ist, tut mir das ehrlich leid“, entschuldigte er sich trotzdem aufrichtig, „und ich bin froh, dass wir dieses Missverständnis damit geklärt haben.“
     Er hatte sich entschieden. Er würde Gabriela nicht heiraten. Egal, wie gut ihr Äußeres ihm auch gefiel, er liebte sie nicht. Genauso wenig, wie er Adelaide liebte. Aber im Gegensatz zu Gabriela, bedeutete Adelaide ihm etwas. Es war egal, ob er sie liebte oder nicht, sie war seine Freundin, jemand, der ihm etwas bedeutete, und deshalb war es wichtig, dass er zu ihr ging, um mit ihr über das zu sprechen, was letztens vorgefallen war. Er würde nicht zulassen, dass er erneut einen seiner Freunde verlor.


„Das… das kannst du doch nicht machen! Ich habe ewig auf dich gewartet und jetzt wimmelst du mich so gemein ab?“ Sie begann, ziemlich offensichtlich aufgesetzt zu weinen. „Du bist ein Fiesling, Nero!“
     „Weißt du, ich dachte wirklich, ich könnte dich lieben, weil du mich so sehr an Ragna erinnert hast. Aber deine Art hat das leider verhindert. Vielleicht solltest du einmal anfangen, dich für etwas anderes außer dich selber zu interessieren, und dann bin ich mir sicher, dass du auch jemanden finden kannst, der deine Gefühle erwidert und mit dem du glücklich wirst.“
     „Du gemeiner, fieser Ekel!“
     „Es ist nur ein gutgemeinter Rat, Gabriela. Und jetzt entschuldige mich.“


Doch sie ließ ihn nicht gehen. Sie änderte kurzerhand ihre Taktik und drängte sich dicht an ihn.
     „Du hast recht!“, säuselte sie wieder süßlich. „Ich war gerade wirklich ungerecht zu dir. Das tut mir leid. Was hältst du davon, wenn ich mich dafür gebührend bei dir entschuldige?“
     Ihre Hand landete direkt in seinem Schritt, und er erstarrte. Es war nach wie vor nicht so, dass sie ihn kalt ließ. Im Gegenteil. Momentan wurde es ihm trotz der winterlichen Temperaturen ganz schön heiß bei dem, was sie da mit ihm anstellte.
     Ja, er wollte sie. Aber er erinnerte sich auch an seine eigenen Worte. Was er seinem Vater erst an den Kopf geworfen hatte. Er würde nicht so tief sinken, sich nicht zurückhalten zu können.


So schwer es ihm auch fiel, schob er sie deshalb von sich, bevor sie bemerken konnte, dass es ihm eigentlich gefiel, was sie da mit ihm machte.
     „Nein danke, ich verzichte.“
     Sie war am Toben, doch er ließ sie stehen. Normalerweise war er nicht so direkt, aber er hoffte, dass Gabriela es damit verstanden hatte und dass sie sich seinen Ratschlag zu Herzen nehmen würde.


Als er schließlich drinnen in Sicherheit war, musste er dann erst einmal abkühlen, bevor er sich nach Adelaide umschauen konnte.
     Manchmal war die Vorstellung, durch die Betten zu springen wie Wotan, wirklich verlockend für ihn, aber er würde nicht zulassen, dass irgendjemand schwanger von ihm wurde. Selbst wenn das bedeutete, dass er allein bleiben würde. Er hatte sich entschieden. Egal, wie schwer das auch werden würde.  


Nachdem er abgekühlt war, ging er nach oben, zu den Räumen, die für Gäste bestimmt waren, in denen aber auch die Bewohner des Handelspostens lebten. Doch Adelaide war weder in dem Zimmer, das sie mit ihrer Mutter zusammen bewohnte, noch sonst irgendwo zu finden. Von ihrer Mutter erfuhr er nur, dass sie keine Ahnung hatte, wo sich das „Gör“ aufhielt.
     Er kannte das schon von ihr, dass sie nie ein nettes Wort für ihre Tochter (oder sonst irgendwen) übrig hatte, um es milde auszudrücken. Das hatte ihn am Anfang noch erschreckt, aber sein Versuch, ihr ins Gewissen zu reden, hatte es nur schlimmer gemacht. Also hatte er es auf Adelaides Bitte hin gut sein lassen und zu ignorieren gelernt.


Nachdem die Mutter ihm dann einfach die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, sah er sich plötzlich einer Fremden gegenüber.
     „Du bist ja ein Hübscher!“, begrüßte sie ihn. „Freist du um die kleine Adelaide?“
     „Bitte was?“
     „Du bist ja süß. Ich meinte, ob du ihr den Hof machst. Sie zu der deinen machen willst.“
     „Nein, wir sind nur Freunde. Und ich müsste dringend mit ihr reden. Weißt du zufällig, wo sie ist?“


„Hm, ich glaube, sie vorhin gesehen zu haben, erinnere mich aber gerade nicht recht, wo genau das gewesen war. Wie ist denn dein Name, Junge?“
     Nero war ein klein wenig genervt davon, dass sie das Thema wechselte. Er wollte eigentlich schnellstmöglich Adelaide finden, aber er zwang sich dazu, höflich zu bleiben und ihr seinen Namen zu nennen. Sie schien schon ein bisschen älter zu sein, wie ihm anhand der vielen Falten an ihrem Hals und in ihrem Gesicht auffiel. Auch ihre auffallend blonden Haare konnten darüber nicht hinwegtäuschen. Vielleicht hatte sie ja tatsächlich Probleme mit dem Gedächtnis.


„Nero?“, war sie ganz überrascht über seinen Namen. „Sag, dein Vater ist nicht zufällig Rahn?“
     „Doch. Warum?“
     „Das erklärt, warum du so ein Hübscher bist“, wich sie schon wieder aus.
     Er wusste, dass er überhaupt nicht nach seinem Vater kam. Woher sie also wohl wusste, wer sein Vater war?


Er lächelte aufgesetzt. Sichtbar aufgesetzt.
     „Die kleine Adelaide ist dorthin, Richtung Wald, gegangen, glaube ich“, rückte sie daraufhin endlich mit der Sprache heraus.
     Er hatte eine Ahnung, wo Adelaide wohl hingegangen war. Also nickte er, bedankte sich und sah dann zu, dass er ihr schnell entkam.    


Tatsächlich fand er die Gesuchte, wo er sie vermutet hatte. Es war schließlich einer ihrer Treffpunkte: Der Ort, an dem Ragna gestorben war.
     Es war ihre Tradition, dass Nero immer ein Feuer für den verstorbenen Freund angezündet hatte, das auch momentan brannte. Adelaide saß davor und sprang erschrocken auf die Beine, als sie ihn bemerkte. Sie hatte sogar seinen alten Teddy, Mimi, für Ragna mitgebracht, fiel ihm auf. Er hatte ihr das Spielzeug vor Jahren schon überlassen, weil sie es so geliebt hatte.


Und jetzt stand sie vor ihm, schreckgeweitete Augen, und er fühlte sich genauso, wie sie gerade aussah. Gabriela abzuweisen war eines gewesen, aber Adelaide war seine Freundin. Wie nur sollte er dieses Gespräch führen? Er hatte doch keine Ahnung, wie man mit so etwas umging. Was man in solch einer Situation sagte.
     Als jedoch Bewegung in die Erstarrte kam und sie Anstalten machte, zu fliehen, war er gezwungen, etwas zu sagen.


„Warte! Lauf bitte nicht weg! Wir müssen reden!“
     „Ich will aber nicht…“, kam kleinlaut zurück.
     Sie blieb immerhin stehen, aber er war dennoch gezwungen, mit ihrem Rücken zu sprechen: „Ich will am liebsten auch nicht darüber reden, glaub mir, doch wir müssen das klären. Also… wegen neulich nachts – “
     Sie wirbelte herum, fuhr heftig dazwischen: „Es tut mir leid, dass ich das gemacht habe!“
     „Nein, mir tut es leid. Ich habe mich wie ein Idiot benommen. Ich hätte anders darauf reagieren sollen. Ich meine, ich kann deine Gefühle leider nicht erwidern, doch du bist trotzdem meine Freundin. Du bist mir wichtig, und ich will dich nicht verlieren, Aida.“


„Ähm… also… du bist ein… ähm… ein toller Junge und so, aber… nimm’s nicht persönlich, aber… ich sehe dich auch nur als Freund.“
     „Und warum hast du mich dann letztens im Schlaf überfallen?“ 
     „Ja, weil ich dich als Freund doch nicht verlieren wollte! Ich…“ Sie seufzte dreimal, setzte neu an: „Du bist mein einziger Freund, Nero, und ich wusste, dass ich dich irgendwann verlieren würde, wenn du heiratest. Und letztens kam Gabriela zu mir und sagte, ihr würdet heiraten. Dann wäre ich ganz allein gewesen! Das wollte ich nicht! Und deshalb dachte ich… Götter, das war so dämlich!“
     „Was?“
     „Ich dachte, dass du dich vielleicht in mich verlieben würdest, wenn ich mit dir schlafe. Und dass du mich dann heiraten wirst. Dabei wollte ich das ja gar nicht! Dich heiraten, meine ich. Das war so dämlich! Es tut mir leid, Nero! Ich wusste nicht, was ich tat.“


„Du… liebst mich also gar nicht und willst nur, dass wir Freunde sind?“ Als Adelaide zaghaft nickte, brach freudig aus ihm heraus: „Genau das will ich auch! Ich bin es so leid, dass alle immer nur vom Heiraten reden. Ich bin so froh gewesen, dass du das bislang nicht getan hast und hatte so eine Angst, dass du jetzt doch plötzlich damit anfängst.“
     „Also… bist du mir nicht böse?“


„Nein. Solange wir nur weiter Freunde sind.“
     „Das würde mich freuen.“
     „Dann ist ja alles gut. Gabriela habe ich übrigens gerade vorhin erst in den Wind geschossen.“
     Doch anstatt sich darüber zu freuen, bröckelte Adelaides Lächeln plötzlich.
     „Was ist denn los?“ 


Sie wandte sich ab. „Ich musste gerade daran denken, wie ironisch es ist, dass ich so eine Angst davor hatte, dass du Gabriela heiratest und es jetzt ich bin, die zuerst heiraten wird.“
     „Was? Wen denn?“
     „Meine Tante kam vor kurzem hierher, und sie erzählte heute, dass irgendeiner ihrer Bekannten gerade seine Frau verloren hat. Er hat einen großen Hof, und da er keine Kinder hat, sucht er eine junge Frau, dass sie ihm einen Erben schenkt. Er hat meiner Mutter großzügige Brautgeschenke für mich angeboten, also hat sie zugestimmt.“ 


„Warte, also heiratest du einen Unbekannten, den du noch nie zuvor gesehen hast?“
     „Und der mehr als doppelt so alt ist wie ich, ja. Ich werde auch von hier fortgehen müssen.“
     „Und das willst du wirklich tun?“
     „Nein, doch ich muss, weil meine Mutter es so bestimmt hat.“
     „Aber das ist doch deine Entscheidung, wen du heiratest!“
     Sie lächelte gequält. „Ihr hattet wirklich Glück, dass eure Gegend so abgeschieden vom Rest der Welt ist, wisst ihr das? Ich habe kaum irgendwo die Freiheit gesehen, dass man sich den Ehepartner aussuchen kann. Schade nur, dass diese Freiheit nicht für mich gilt. Ich wusste, dass dieser Tag irgendwann kommen würde…“


„Du musst trotzdem nicht heiraten, wenn du nicht willst. Du kannst einfach zu uns in den Stamm kommen und dort Schutz suchen. Was will deine Mutter schon dagegen tun?“
     „Nein, das will ich nicht“, erklärte sie ernst. „Meine Mutter hat lange genug wegen mir gelitten. Jetzt ist es an der Zeit, dass ich meine Pflicht als Tochter erfülle und brav heirate, wen sie mir aussucht. Und das werde ich tun.“ Sie seufzte schwer. „Ich hatte nur gehofft, dass ich um Kinder herumkomme. Ich will doch nicht, dass sie auch unter meinem Fluch leiden müssen.“
     „Ach, Aida, glaubst du etwa immer noch daran, dass du verflucht bist?“
     „Das bin ich, wie du siehst.“


Dann wandte sie sich dem Feuer zu und ihre Augen wurden leer. Sie wollte wirklich nicht heiraten, aber sie würde es tun. Und Nero konnte nichts tun, um ihr zu helfen.


Kurz darauf brachte der Winter den ersten richtig tiefen Schnee, von dem vor allen Dingen die Inselbewohner begeistert waren. Er schaffte es sogar, den immerzu griesgrämigen Wulf zu einer Schneeballschlacht zu verleiten, und selbst Eris, die seit neuestem bei den Nachbarn wohnte und die ansonsten so gut wie alles in dieser kalten Gegend hasste, ließ sich darauf ein.


Nicht, dass man von besagten Nachbarn irgendetwas mitbekam. Die Hells und die Uruks standen, mal wieder, auf Kriegsfuß miteinander. Malah tat wirklich ihr Bestes, um zu vermitteln, und Tann war ja beeindruckt, wie lange sie ruhig und geduldig blieb. Aber es half dennoch alles nichts.   
     Tann hätte es an ihrer Stelle auch schon längst aufgegeben gehabt, da was erreichen zu wollen. Nicht, dass er überhaupt etwas hätte erreichen können, bei seiner feindseligen Vergangenheit mit Griswold. Wahrscheinlich hätte sein Auftreten es nur schlimmer gemacht.
     Bis auf die Stimmung, die etwas eisig war, sah er aber auch gar nicht die Notwendigkeit dazu, sich mit den Nachbarn gutzustellen. Da waren ja nur noch Griswold, Greta und Wotan übrig. Und Wotan war nicht nur Jins Sohn, der zu ihnen hielt, sondern war er auch ein passabler Schmied geworden, der ihnen bei Bedarf schmieden konnte, was sie brauchten. Auf Griswold und Greta konnten sie also getrost verzichten. Zumal er sich ziemlich sicher war, dass Greta wieder mit ihnen reden würde, sobald ihr Zwillingsbruder Wulfgar zurückgekehrt war.


Deshalb schien es ihm viel wichtiger, ihre anderen Bindungen zu festigen. Wie die zum Ahn-Stamm und zum Handelsposten. Zu Letzterem hatten sie glücklicherweise gute Bindungen, aber Ersterer bereitete selbst ihm ein wenig Sorgen, wenn er ehrlich war. Wegen dem, was Alek erzählt hatte und nachdem er Reinard, den neuen Stammesführer, in Aktion gesehen hatte, mehr denn je.


Mit Wanda und dem jungen Gael, der vor kurzem Mai geheiratet hatte, hatte der andere Stamm auch einen ganz schönen Zuwachs bekommen, während sie selber in letzter Zeit mehr Leute verloren, als hinzuzugewinnen.
     Tann hoffte jedoch auf seinen Bruder Lenn, der ja schon seit Jahrzehnten dort lebte, und darauf, dass Jades Hochzeit die Beziehung zum anderen Stamm etwas verbessern würde.


All diese Sorgen und Nöte, selbst die zur Neige gehenden Vorräte, waren für ihn heute jedoch nebensächlich. Denn heute war wieder einmal einer dieser verdammten Tage. Die Tage, an denen ein fast untragbares Gewicht ihn schon beim Aufstehen niederzudrücken versuchte, das er den ganzen Tag lang mit sich herumschleppen musste.
     Ihm war klar, dass die Gedanken, die er an diesem Tagen hatte, unsinnig waren, aber er konnte sie so wenig abstellen, wie er es abstellen konnte, dass er sich erdrückt, schlaff und niedergeschlagen fühlte. Er wusste, dass sie momentan wichtigeres zu tun hatten und es wichtigere Dinge gab, um die er sich sorgen sollte, doch es war nun einmal nicht zu ändern. Wenn diese Tage kamen, dann kamen sie. Manchmal wurde es schon nach ein paar Stunden besser, manchmal brauchte es den ganzen Tag, und manchmal kam er mehrere Tage lang zu gar nichts mehr.


Wenn es geschah, versuchte er sich nach Kräften beschäftigt zu halten, aber es war schon schwer, sich überhaupt dazu aufzuraffen, wenn er einfach keine Kraft mehr hatte, und noch schwerer war es, wenn ihm alles so sinnlos erschien.
     Momentan war es sogar so schlimm geworden, dass er nach draußen gegangen war, in der Hoffnung, dass die beißende Kälte ihn auf andere Gedanken bringen mochte. Und während er gerade zum dritten Mal durch seine eigenen Fußstapfen im Schnee ging, sich darauf zu konzentrieren versuchte, immer exakt an derselben Stelle aufzutreten, bemerkte er eine Bewegung beim Hügel, nahe des HandelspostensWirtshauses.


Er sah sie, bevor er sie hörte. Wulf und sein Vater Isaac kamen herüber. Ihrer Stimmlage nach waren sie wahrscheinlich gerade am Streiten. Oder besser gesagt: Der Jüngere war am Streiten, während der Ältere versuchte, ruhig auf ihn einzureden.
     Auf halber Strecke dann wurde etwas gesagt, das Isaac erstarren ließ, während Wulf unbeeindruckt seinen Weg zum Uruk-Haus fortsetzte, in dem er momentan quasi wohnte. Er würdigte Tann nicht einmal eines Blickes.


Isaac hatte ihn auch noch nicht bemerkt. Er starrte erschrocken vor sich hin. Ganz offensichtlich schien es nichts Nettes gewesen zu sein, das der Sohn seinem Vater an den Kopf geworfen hatte.
     Schließlich wurde er aber doch noch auf den heimlichen Beobachter aufmerksam. Er lächelte ein bisschen scheu und winkte. Einen Moment verharrte er, unsicher, ob er zu Tann oder zum Handelsposten gehen sollte, dann machte der jedoch den ersten Schritt. Er war momentan für jede Ablenkung dankbar.


Als er den Anderen erreichte, hatte der die Arme um den Leib geschlungen und stampfte mit den Beinen, um sich warm zu halten.
     „Verdammt, ist das kalt! Ich wollte es dir ja nicht glauben, aber es ist tatsächlich noch viel kälter geworden. Wie haltet ihr das nur aus? Ich kann meine Füße kaum noch spüren.“
     „Wenn ich mir deine Schuhe und Sachen so ansehe, wird mir auch ganz kalt. Komm, ich gebe dir ein paar ordentliche Wintersachen.“


Kurz darauf hatte Isaac eine weitere Lage warmer Kleidung, gefütterte Stiefel, Schal und Handschuhe an, nur einen Hut hatte er kategorisch abgelehnt, weil jede Form von Kopfbedeckung für ihre religiösen Feste vorbehalten war, wie er sagte.
     Um die neuen Sachen zu testen, waren sie gleich wieder nach draußen gegangen.
     „Ich danke dir!“, sagte Isaac ihm und scharrte probeweise mal mit dem einen, mal mit dem anderen Fuß im Schnee. „Selbstverständlich werde ich die Sachen zurückgeben oder bezahlen, sobald ich zu den nötigen Geldmitteln gekommen bin. Wie du es lieber handhaben möchtest.“
     „Das musst du wirklich nicht. Behalt sie ruhig. Als Gastgeschenk.“
     „Auch dafür sei bedankt. Ich muss leider gestehen, dass ich momentan etwas knapp bei Kasse bin. Wir haben Zuhause kein Geld, handeln nur mit dem, was uns der Schöpfer schenkt, und ich bin deshalb völlig mittellos losgefahren. Ich bin ja froh, dass Alin mir und den meinen Kost und Logis gewährt, dafür, dass ich mich in Haus und Laden nützlich mache.“


Er unterschlug seine Leistungen ein bisschen. Wie Tann gehört hatte, hatte er bei einem Großteil der Umbauarbeiten am Handelsposten mitgewirkt. Alin hatte erzählt, dass sie es ohne Isaacs Krankonstruktion beispielsweise nie geschafft hätten, den riesigen, steinernen Pfeiler zu richten, den die angeheuerten Arbeiter schief gemauert hatten.


Den beeindruckenden Kran hatte Tann dann auch später beim Bau des Tempels selber in Aktion sehen dürfen. Bei dessen Planung Isaac übrigens ebenfalls mitgewirkt hatte. Aan, ihr leitender Konstrukteur, war ganz begeistert davon gewesen, mit ihm zusammenarbeiten zu können. 


„Du kannst auch bei uns unterkommen“, bot Tann ihm leichthin an. „Wir haben gerne Gäste.“
     Es fiel ihm erst zu spät auf, dass sie momentan nicht einmal genug Essen für sich selber hatten. Doch er nahm das Angebot nicht zurück. Er wollte ja nicht unhöflich sein.
     „Danke, aber so sehr will ich mich dann doch nicht aufdrängen. Ich… denke auch nicht, dass Wulf so gerne mit mir unter einem Dach leben würde.“
     „Ihr versteht euch aber nicht sehr gut, du und dein Sohn.“


„Das ist eine kolossale Untertreibung. Er hasst mich“, erwiderte Isaac betroffen.
     „Warum?“
     „Der genaue Grund ist mir leider unbekannt. Wenn ich ihn kennen würde, würde ich nämlich selbstverständlich sofort etwas dagegen unternehmen. Meine Tochter sagt, dass er sich missachtet fühlt, aber er antwortet mir nicht, wenn ich ihn danach frage. Manchmal ignoriert er mich, doch meistens wird er aggressiv, wenn ich mit ihm das Gespräch suche. Ich schätze, dass ich als Vater einfach versagt habe. Er war als Kind immer so ruhig, dass ich dachte, er sei so wie ich. Ich habe öfter meine Phasen, in denen ich mich zurückziehe und für mich sein möchte. Also habe ich ihn in Ruhe gelassen. Ich wollte ihn zu nichts zwingen. Aber ich hätte, im Gegenteil, wohl einfach mehr für ihn da sein müssen.“ 
     Tann, dessen Gedanken in die Vergangenheit abgeschweift waren, erwiderte: „Ich fühle ganz mit dir. Mein Sohn ist auch nicht so gut auf mich zu sprechen. Nicht mal meine Tochter ist es wirklich.“


„Du hast auch Kinder?“
     „Ja, meine Tochter lebt gleich dort drüben, doch mein Sohn ist gerade nicht hier. Er ist noch immer dort, wo Lu und dein Junge hergekommen sind. Aber wenn du noch bis zum Frühjahr bleibst, kannst du ihn vielleicht kennenlernen.“
     Tann hoffte ja, dass er noch ein bisschen bleiben würde. Er musste zugeben, dass er den Anderen ganz gern um sich hatte.
     „Und sie sind wirklich schlecht auf dich zu sprechen?“, fragte Isaac ihn.
     „Leider ja. Meine Tochter war schon immer sehr… eigen, aber seitdem wir ihr das Bein abnehmen mussten, damit sie nicht stirbt, redet sie gar nicht mehr mit mir. Und mein Sohn… Es gab mal eine Zeit, da hat er mich sogar gehasst. Inzwischen hat er mir zwar verziehen, aber wir sind uns trotzdem nie wieder so nahe gewesen, wie davor.“
     „Dürfte ich dich fragen, was passiert ist?“


Tann wies auf die nahegelegene Bank und sie gingen gemeinsam hinüber. Nachdem er noch die Feuerschale aus dem Stall geholt hatte, um ein wärmendes Feuer zu entfachen, erzählte er Isaac die ganze Geschichte.
     Der hörte ihm wortlos zu, bis er geendet hatte, und selbst danach war er eine ganze Weile lang still und nachdenklich. Tann ließ ihn, während er beobachtete, wie der Feuerschein seine braunen Augen beinahe leuchten ließ.
     „Wie hast du es geschafft, dass er dir verziehen hat?“, fragte Isaac ihn schließlich.
     „Oh, ich habe gar nichts gemacht. Das war meine ehemalige Gefährtin, die vermittelt hat. Seine Mutter.“


„Oh Schöpfer, deine Frau ist auch tot? Das tut mir so leid!“, rief Isaac bestürzt.
     „Nein, das nicht. Sie hat mich nur verlassen, doch sie lebt. Du kennst sie auch. Tanna. Die Frau mit den feuerroten Haaren.“
     „Ich verstehe. Das tut mir trotzdem leid für dich. Es ist schwer, seine Frau zu verlieren. Auf welche Art und Weise auch immer. Ich wünsche mir in letzter Zeit jedenfalls sehr häufig, dass Shana, meine Frau, noch bei uns wäre. Sie wüsste, was wegen Wulf zu tun wäre.“


Er verstummte, und als er lange Zeit nichts mehr sagte, wurde Tann bewusst, dass er sich tatsächlich zurückgezogen hatte. Wahrscheinlich hatte er gerade eine der Phasen, von denen er vorher gesprochen hatte.
     Aber Tann wollte nicht, dass er jetzt wegging. Er wollte momentan einfach nicht allein sein. Er war froh gewesen, dass seine schwermütigen Gedanken ihn in Ruhe gelassen hatten, seitdem Isaac aufgetaucht war, und er wollte ihnen jetzt nicht wieder verfallen. Er wusste nur nicht, was er tun sollte, um den Anderen zurückzuholen.


Da kehrten die braunen, leuchtenden Augen plötzlich von sich aus zu ihm zurück, als hätte Isaac seine Gedanken gelesen, und lange Zeit sah er ihn einfach nur stumm an. Tann konnte nicht sagen, was der Andere dachte, aber da war irgendetwas in diesen Augen. War es Verständnis? Oder Wissen?
     Er wusste es nicht und bevor er es ergründen konnte, hatte Isaac sich wieder dem Feuer zugewandt, und Tann befürchtete schon, dass er jetzt gänzlich weggehen würde.


Aber er tat es glücklicherweise nicht. Er sagte: „Man hat mir erzählt, dass man Häuser aus Schnee bauen kann. Stimmt das?“
     „Willst du eins bauen?“ 
     „Au ja! Kannst du sowas?“
     „Na klar!“
     Das Leuchten kehrte in Isaacs Augen zurück, und Tann konnte nicht anders, als mit ihm zu lächeln, als er diese unbändige Freude sah.


Also bauten sie im tiefsten Winter des Nachts ein Iglu, und Isaac beschloss, die Nacht darin zu verbringen.


Als Tann ihn am nächsten Morgen aufsuchte, hatte er zwar kein Auge zugemacht und fühlte sich gerädert, war aber um eine Erfahrung reicher, wie er sagte.


Von da an trafen sich Isaac und Tann jeden Abend. Und weil es draußen immer kälter wurde, verlegten sie ihre Treffen irgendwann ins Wirtshaus, wo bald schon ein paar der Bewohner des Handelspostens regelmäßig zu ihrer geselligen Runde hinzukamen. 

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Hier weiterlesen -> Kapitel 124 
 
Tann leidet nach wie vor unter Depressionen, die wohl auch nicht so einfach verschwinden werden, nur weil der Auslöser verschwunden ist und sein Leben jetzt wieder in guten Bahnen für ihn verläuft. Wenn es so einfach wäre, dass sie weggehen, nur weil man eigentlich ein gutes, sorgloses Leben führt, wären Depressionen in unserer heutigen Zeit wohl auch nicht so weit verbreitet.
     Deshalb: Tann wird auch weiterhin darunter leiden, aber er hat gelernt, damit zu leben. Und ich werde das von heute an auch nicht mehr so explizit erwähnen/beschreiben, weil das auf Dauer einfach... naja, immer dasselbe und langweilig wäre. Und vielleicht findet er ja auch noch eine "Heilung" für seine Krankheit.

Klarstellen will ich auch nochmal, dass Adelaide wirklich nichts für Nero empfindet, und der nicht für sie. Sie sind einfach nur Freunde.

Noch eine kleine Erklärung, wer die Leute sind, die neu im Ahn-Stamm sind: Die alte Dame Wanda kommt aus dem aufgelösten Zoth-Stamm, ist die Stiefmutter von Roah und blieb beim Ahn-Stamm, als Roahs Mann ihr Zuhause auflöste und sich aufmachte, um Roah zu suchen. Und Gael kommt von den Blums. Falls ihr euch erinnert, haben die Tratschtanten auf dem Götterfest davon gesprochen, dass Mai von den Ahns (die größte Tratschtante) ihn heiraten soll, was jetzt scheinbar passiert ist. Alek hatte ja angedeutet, dass Reinard versucht, Kontakte durch Heiraten zu knüpfen, um seinen Stamm zum Gegengewicht zur Übermacht des Uruk-Stamms zu machen.

Nächstes Mal findet eine große Hochzeit statt, die der Auftakt zu etwas viel größerem werden wird. Wie es aussieht, wird das wahrscheinlich wieder ein Doppelkapitel, das ich dann posten werde. Was aber sehr gut passt, da ich nach nächstem Kapitel zwei Wochen nicht da sein werde und das übernächste demnach sowieso ausfällt (also verschoben wird, nicht ganz ausfällt).

Bis dahin, danke euch fürs Vorbeischauen, passt auf euch auf, und ich verabschiede mich!
 

2 Kommentare:

  1. Du solltest Wulfgar, Tann, Lu und Isaac eine glückliche Männer WG mit sämtlichem Freiheiten einräumen. Dann währen die viel entspannter und sorgenfreier, für ein glückliches Leben ;) .

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    1. Grüße!

      Das erinnert mich so ein bisschen an Tann in seiner Kindheit, als der nicht verstehen konnte, warum sein Vater und Sen nur mit Frauen zusammenleben.
      Also ich glaube auch, dass nicht alle der Beteiligten so glücklich darüber wären. Ich meine, Wulfgar vielleicht; der ist ja glücklich, solange er nur seinen Lu bei sich hat, aber die Anderen...
      Wäre ja auf Dauer auch langweilig, so ganz ohne die Frauen, oder ;) ?

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