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Mittwoch, 2. September 2020

Kapitel 121 - Eingeschlossen



Tags darauf verwandelte sich der Dauerregen in Schnee, der die gesamte Umgebung weiß anstrich. Schlimm genug, dass der Regen viele ihrer Pflanzen ertränkt hatte, zerstörte der frühe Schnee nun auch noch die letzten Reste. Es würde ein überaus harter Winter für sie alle werden.


Malah hatte bei der letzten Versammlung alle Bande bemüht, die sie mit dem verbliebenen Stamm und den Familien hatte, um sicherzugehen, dass sie sich gegenseitig unterstützen würden. Sie war ja erstaunt gewesen, dass sogar Griswold aufgetaucht war, der es scheinbar aufgegeben hatte, nach seiner weggelaufenen Tochter zu suchen. Dafür war er jedoch grimmiger und abweisender denn je.
     Aber auch bei den Anderen war nicht mehr viel übrig. Auch ihre Ernten waren durch den Sturm im Frühling, den heißen Sommer und den regenreichen Herbst zerstört worden. Nicht einmal mehr Reinard, der bislang erstaunlich großzügig gewesen war, konnte etwas erübrigen. Sie waren alle besorgt, über den Winter zu kommen. Es war wie verhext. Als hätten die Götter sie verflucht.     Malah hatte Luis und Jana schon angewiesen, zu opfern und zu bitten, was das Zeug hielt, aber das Problem war, dass sie langsam einfach nichts mehr zum Opfern hatten.


Dann hatte ausgerechnet Lu angefangen, von anderen Göttern zu erzählen. Er hatte das getan, als würde er eine Geschichte erzählen, und auch Wulf, der seit neuestem Dauergast bei ihnen war, hatte danach seine Schöpfergeschichte zum Besten gegeben. Malah war nur froh gewesen, dass Jana zu dem Zeitpunkt draußen mit Luis zusammen beim Tempel am Beten gewesen war. Jin war schon empört genug über diese Blasphemie gewesen.
     Aber es waren nicht nur sie, die anfingen, Zweifel im Altbekannten zu sähen. Wie sie hörte, verehrten beispielsweise der Fischer am Meer und auch Alin und Marduk schon längst andere, neuere Götter.


Malah fragte sich, ob diese neuen Götter ihnen vielleicht helfen konnten. Ob die Alten sie nicht einfach verlassen hatten. Aber sie war momentan viel zu sehr damit beschäftigt, Vorräte zu organisieren, um sich mit dieser Frage zu beschäftigen.


Sie hatte gerade ein Treffen mit Alin anberaumt, um bessere Preise für ihren Stamm auszuhandeln, als plötzlich ein lautes Rumpeln von draußen zu hören war. Ein spitzer Schrei folgte, und Isaac, der aufgrund des Winters drinnen festsaß, war sofort auf den Beinen, um nachzusehen. Zurück blieben sie und Alin.
     „Willst du nicht nachsehen, was passiert ist?“, fragte Malah den Händler, als sie sah, dass er völlig unbeeindruckt von dem Lärm draußen zu sein schien.
     „Ach, das ist nur Hana und ihr Geist.“
     „Wird sie etwa immer noch von ihm heimgesucht?“


Bevor Alin antworten konnte, schneite Hana höchstselbst herein, Isaac im Schlepptau, der sie mit schuldbeladenen Blicken abwarf.
     „Es tut mir so leid!“, sagte er zerknirscht zu Hana, die in diesem Moment zwischen ihnen zum Stehen kam. „Mari hat versprochen gehabt, sich darum zu kümmern, aber sie ist einfach gegangen, und ich habe es auch völlig vergessen.“
     „Ich schicke gerne noch ein paar mehr Leute zur Grabungsstelle“, warf Malah berechnend grinsend ein, „wenn ihr uns ein bisschen entgegenkommt mit den Preisen.“
     Alin erwiderte das Grinsen auf gleicher Ebene, doch es war Isaac, der ihr unbemerkt einen Strich durch die Rechnung machte, indem er sagte: „Ich werde mich selbstverständlich darum kümmern und gleich mal nachsehen gehen, ob die Grabungen endlich abgeschlossen sind.“


Ein Erdrutsch hatte die Höhle, in der Akara und Diana einst die mutmaßlichen Knochen von Cleo gefunden hatten, irgendwann einmal verschüttet gehabt, weshalb sie sie bis jetzt nicht hatten betreten können. Jin, der sich mit ein paar anderen vom Uruk-Stamm abwechselte – unentgeltlich natürlich, da Hana ja zu Danas Familie gehörte – Marduk und Hana selber, waren deshalb schon eine ganze Weile damit beschäftigt, sie freizuräumen.


„Ich habe gehört, dass die Höhle noch ziemlich einsturzgefährdet sein soll. Ich würde an deiner Stelle lieber warten, bis sie sie abgesichert haben“, riet Alin ihm.
     „Danke für deine Warnung, aber ich werde trotzdem gehen. Das ist das Mindeste, das ich tun kann, nachdem wir unser Versprechen so schändlich vergessen haben.“
     Hana sagte: „Warte! Ich begleite dich.“
     „Das musst du nicht.“
     „Ich will aber. Ich will diesen verfluchten Geist schließlich auch loswerden.“


Sie machten sich also zusammen auf den Weg, und unterwegs war Hana ganz fasziniert davon, wie ausdauernd begeistert Isaac von dem Schnee sein konnte, der sie zuletzt interessiert hatte, als sie ein Kind gewesen war. Für sie war die weiße Winterpracht inzwischen nur noch eines: ein kaltes Ärgernis.  
     Marduk und Nero waren momentan die einzigen, die anwesend waren, als sie bei der Grabungsstelle eintrafen. Sie waren gerade dabei, die letzten Hindernisse zu beseitigen.


Nero half in letzter Zeit, seitdem Adelaide ihn im Schlaf überfallen hatte und er nicht wusste, was er deswegen machen sollte, verstärkt mit, um sich abzulenken.


Er befand sich gerade im Inneren der Höhle, als die beiden Neuankömmlinge reinkamen. Wahrscheinlich hätte er sie gar nicht bemerkt, wenn nicht plötzlich ein wahrer Steinschlag sich laut rumpelnd bemerkbar gemacht hätte.
     Er kannte das Geräusch leider schon zu gut, weshalb er ganz automatisch von der Wand zurücksprang, die er bislang bearbeitet hatte. Und das gerade rechtzeitig, da im nächsten Moment die Stelle verschüttet wurde, wo er zuvor noch gestanden hatte. Er entkam dem Tod, verlor dabei jedoch seine Spitzhacke, die unter massig Schutt begraben wurde.
     Als er sich umdrehte, sah er, dass auch die anderen beiden unversehrt waren. Doch wie befürchtet, hatte der Steinschlag den Ausgang verschüttet. Sie waren eingesperrt.


Hana war bereits dabei, fleißig nach Hilfe zu rufen, während er zu ihnen stieß, doch ihre Rufe blieben unbeantwortet. Es war fraglich, ob Marduk draußen sie überhaupt hören konnte.
     „Was ist denn passiert?“, fragte Nero sie.
     „Ich weiß es nicht“, kam von Isaac. „Ich habe lediglich Hana schreien hören, und bevor ich mich versah, war der Eingang fort.“
     „Oh nein!“ Nero ging zum Einsturz hinüber. Obwohl nicht einmal ein Ritz zwischen den Steinen zu sehen war, drang von irgendwoher Tageslicht ins Innere. „Wir müssen uns wieder rausgraben!“
     „Ich würde davon abraten“, meinte Isaac jedoch. „Wir wissen nicht, wie es nach dem Einsturz um die Stabilität der Höhle bestellt ist. Deshalb sollten wir besser nichts bewegen, wenn wir nicht wollen, dass uns auch noch die Decke auf den Kopf fällt. Zumal ich befürchte, dass wir ohne passendes Werkzeug sowieso nicht weit kommen würden.“
     „Und was sollen wir sonst machen? Einfach hier warten, dass man uns irgendwann ausbuddelt, wenn wir erfroren sind?“


„Zunächst einmal sollten wir einen ruhigen Kopf bewahren. Angst hilft uns momentan nicht weiter. Ich würde vorschlagen, dass wir uns vorsichtig umsehen, ob es einen anderen Ausgang gibt. Ansonsten müssen wir wohl auf die Hilfe der Anderen vertrauen. Immerhin ist der junge Händler zum Zeitpunkt des Einsturzes draußen gewesen, und er ist hoffentlich in der Lage, Hilfe zu holen.“
     Nero gefiel das nicht, aber er konnte nichts anderes tun. Isaac hatte ja recht.
     „Entschuldigt“, mischte sich Hana betroffen ein. „Das ist alles meine Schuld. Weil ich von diesem Geist heimgesucht werde.“
     „Und ich habe vergessen, dir zu helfen, obwohl das die Abmachung dafür war, dass du uns herbringst. Mach dir keine Vorwürfe. Das hilft uns jetzt auch nicht.“


Isaac entfernte sich, und Hana und Nero waren ja beeindruckt, dass er in dieser Situation ruhig bleiben konnte. Sie beide tauschten jetzt jedenfalls einen ziemlich verzweifelten Blick.
     „Ist dir nicht kalt? Soll ich dir eines meiner Hemden geben? Ich habe zwei davon an“, bot er ihr an, als er bemerkte, wie spärlich sie eigentlich angezogen war.
     „Nein, danke, ich bin glücklicherweise kälteres gewohnt, als das hier.“ Sie nickte zu Isaac hinüber, bei dem trotz der Dunkelheit gut zu erkennen war, dass er mächtig fror. „Scheint so, als ob du dir auch nicht so viele Gedanken über mich machen solltest.“


Sie fanden keinen anderen Ausgang, also gingen sie irgendwann zu Isaac hinüber, der es nach ebenfalls erfolgloser Suche zwischenzeitlich aufgegeben hatte, auf der Stelle zu tänzeln, um sich warm zu halten, und kurz darauf saßen sie alle drei zusammen. Der Boden war noch kälter, aber sie alle hatten eine Pause bitter nötig.
     „Tann hatte mich ja schon davor gewarnt, dass es noch kälter wird, doch ich wollte es ihm nicht glauben“, sagte Isaac, und sein Atem entwich ihm dabei in kleinen, regelmäßigen Wölkchen, die in der Dunkelheit beinahe gespenstisch aussahen.
     „Diese Kälte wird uns noch alle umbringen, wenn wir nicht bald hier rauskommen. Ohne Feuer werden wir nicht mal die Nacht überleben. Und das Schlimmste ist, dass es alles umsonst war“, seufzte Hana. „Ich habe nicht mal irgendwelche Knochen gefunden. Verdammt!“
     „Wir sollten nicht den Kopf hängen lassen und uns stattdessen lieber ablenken. Wie wäre es, wenn wir einander Geschichten erzählten?“
     „Von mir aus. Aber ich bin eine bodenlos schlechte Erzählerin.“
     „Ich bin auch kein guter Erzähler, aber ich versuche mein Bestes.“


Also wechselten sich Isaac und Hana damit ab, zu erzählen, während Nero nur abwesend zuhörte. Irgendwann aber war es so kalt geworden, dass Isaacs Zähneklappern seine Worte übertönten und auch Hana nicht mehr erzählen wollte. Selbst sie war inzwischen vollkommen durchgefroren.
     „Und du?“, sagte sie bibbernd zu Nero. „Hast du nicht was, das du erzählen könntest?“


Nero war ebenfalls kein guter Erzähler, zudem war auch ihm kalt, doch wenn er die anderen beiden so ansah, ging es ihm noch am besten. Er musste etwas erzählen, schon allein, um Isaac und Hana abzulenken.
     Nur, was sollte er erzählen? Er überlegte, und da kam ihm die Geschichte der Hydra, die Adelaide ihm letztens erzählt hatte, in den Sinn, und er begann, sie zu erzählen. Es war eine wunderbare und fantastische Geschichte, die ihn tief beeindruckt hatte, und während er erzählte, verlor er sich glücklicherweise so sehr darin, dass er die nächst Zeit sogar die Kälte darüber vergaß.


Auch seine Zuhörer waren gut unterhalten, und nachdem er geendet hatte, sah er in beeindruckte Gesichter.
     „Du hast ein wunderbares Talent zum Geschichtenerzählen“, meinte Isaac.
     „Oh, ja, da muss ich ihm recht geben“, pflichtete Hana ihm bei. „Sag, das hast du dir aber nicht selber ausgedacht, oder? Ich glaube, das nämlich schon mal irgendwo gehört zu haben.“
     „Ja, ich habe es von Aida – meiner Freundin – gehört. Ich glaube, sie hat es aber auch nur irgendwo aufgeschnappt.“
     „Ach, dieses Mädchen, das nie spricht“, erkannte Hana.
     „Sie ist nur lieber für sich. Aber sie spricht.“
     „Ich weiß. Doch ich habe sie noch nie mit jemand anderem außer dir sprechen sehen. Nicht mal mit ihrer Mutter. Meistens schreit die sie nur an, während das arme Mädchen schweigt.“


Ihre Worte waren wie ein Schlag in Neros Magen. Er fühlte sich augenblicklich schlecht. Und das schien sich auch auf seinem Gesicht niederzuschlagen.
     „Was ist denn los? Stimmt was nicht?“, fragte Hana nach.
     „N-nein, alles gut…“
     Er zögerte. Vielleicht sollte er sie einfach fragen. Er hatte schon überlegt, Akara um Rat zu fragen, aber er konnte sich schon denken, was sie ihm raten würde. Sie dachte schließlich, dass Adelaide „sein Mädchen“ war, egal wie oft er sie auch versucht hatte, vom Gegenteil zu überzeugen.
     Hana rüttelte jetzt an Isaac, dessen Augen ganz klein geworden waren und sagte: „He, Isaac, schlaf nicht ein!“.
     Wenn sie einschliefen, würden sie wahrscheinlich nicht mehr aufwachen, wurde Nero klar. Auch Hana sah inzwischen schläfrig aus. Die Zeit lief ihnen allmählich davon. Und wenn es schon seine letzten Momente waren, konnte er auch genauso gut nachfragen. Und sei es nur, um die anderen beiden vom Einschlafen abzuhalten.


„Kann ich euch was fragen?“, begann er also zögerlich.
     „Natürlich“, erwiderte Hana, während sich Isaac mit einem Lächeln begnügte.
     „Was macht man eigentlich, wenn die beste Freundin einen plötzlich überfällt, um… na, ihr wisst schon… aber man eigentlich gar nichts von ihr will?“
     Isaac und Hana sahen ihn beide an, während das Ganze ihm einfach nur peinlich war. Er konnte nicht glauben, dass er das gesagt hatte.


„Weißt du denn, warum sie dich angegriffen hat?“, fragte Isaac plötzlich. „Hast du ihr zuvor etwas getan?“
     „Nein, sie… hat mich nicht angegriffen“, erwiderte Nero verwirrt. „Sie hat… mich nur geküsst, und da habe ich sie schon… naja… es unterbunden. Ich weiß nicht, was sie noch vorhatte, aber ich wollte es auch gar nicht herausfinden. Ich wollte das nicht mit ihr machen, weil ich sie ja nicht liebe…“
     Er verstummte beschämt.
     „Es ist gut, dass du ehrlich zu ihr warst und das nicht ausgenutzt hast. Viele andere hätten das getan. Du solltest das niemals mit jemandem machen, den du nicht auch liebst“, sagte Isaac ihm in ernstem Tonfall.
     Was Hana zum Lachen brachte. „Das sehe ich aber anders. Es braucht doch keine Liebe, um ein bisschen Spaß zu haben.“
     „Doch. Ansonsten wäre es nämlich falsch.“


„Wer sagt das? Ich mache das andauernd, und es würde mich stören, wenn dabei Gefühle im Spiel wären. Ich will nämlich niemanden an der Backe haben, nachdem ich meinen Spaß hatte.“
     Isaac starrte sie ein bisschen verstört an, dann warf er ihr entgegen: „Wie kannst du nur jemanden so nahe an dich heranlassen, für den du überhaupt nichts empfindest?“
     „Einfach. Ich tue es. Habe meinen Spaß. Und danach geht man schön seines Weges. Man muss nur aufpassen, dass man nicht schwanger wird. Aber da habe ich schon meine Mittel und Wege.“
     Erneut verstörtes Starren von Isaac.


„Das stelle ich mir furchtbar einsam vor.“
     „Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich je einsam war. Und wenn ich es war, habe ich mir wen fürs Bett gesucht. Ich könnte mir überhaupt nicht vorstellen, mich von irgendwelchen Gefühlsduseleien fesseln zu lassen. Dafür ist mir meine Freiheit zu wichtig.“
     „Man kann auch zusammen frei sein.“
     „Kann man nicht! Schau dir allein die ganzen Leute hier an! All die armen, von ihren Bindungen an Ort und Stelle gefesselten Leute. Manche von denen mögen das ja toll finden, aber bestimmt nicht alle. Die beiden Mädchen, die weggelaufen sind, geben mir da recht. Sie wollten sich auch nicht binden. Wollten frei sein. Leif, deine Tochter, sie haben ebenfalls niemanden und konnten fortgehen. Hinaus in die Welt. Schau dir die anderen Reisenden hier an. Alin, Marduk, mich. Alles Alleinstehende.“


Isaac sah daraufhin richtig bedrückt aus, er schwieg eine ganze Weile, aber dennoch hatte er danach eine Erwiderung auf Lager. Und Hana auch. Die Diskussion ging eine Weile so weiter, in der Nero nicht mehr zuhörte, weil es plötzlich um Freiheit ging und er noch immer nicht wusste, was er jetzt wegen Adelaide machen sollte.


Erst, als Isaac plötzlich auf die Beine sprang und grimmig erklärte: „Wir müssen hier dringend raus! Wir können nicht untätig bleiben!“, kehrte Nero aus seinen Gedanken zu seinen Mitgefangenen zurück.     
     Hana streckte die Hand nach ihm aus, zog an ihm, dass er sich wieder hinsetzte. „Ganz ruhig! Du hast doch selber gesagt, dass wir einen weiteren Einsturz riskieren könnten.“
     Plötzlich legte sich Betroffenheit auf ihr Gesicht. „Ich habe ja, ehrlich gesagt, die Befürchtung, dass mein Plagegeist ursprünglich für den Einsturz verantwortlich war.“
     Da beruhigte sich Isaac und kam wieder runter.


Die nächste Zeit war mit Schweigen gefüllt, und Nero bemerkte nun selber, wie die Kälte an ihm hochzukriechen begann. Er wurde mit einem Mal fürchterlich schläfrig, sodass er beinahe wegdöste.


Als er in letzter Sekunde wieder aus dem Halbschlaf schreckte, war das ewige Dunkel der Höhle mit einem Mal von einem weißen Schein erleuchtet. Da war plötzlich ein Gesicht vor ihm, das ihm vage bekannt vorkam. Er fühlte sich so dumpf, dass er eine Weile brauchte, bis er das überhaupt erkannte.
      Das flehentliche Gesicht entspannte sich nun, verschwand und erschien weiter entfernt in der Dunkelheit wieder. Nero kämpfte sich schwer auf die Beine.


„Wo gehst du hin?“, hörte er Hana müde fragen.
     „Da ist jemand.“
     „Da ist niemand. Komm wieder her.“
     Doch da war etwas. Ein vertrautes, aber gleichzeitig fremdes Gesicht. Er wollte es noch einmal sehen. Und plötzlich war dies der einzige Wunsch, der ihn ausfüllte und der noch wichtig zu sein schien.


Er erreichte eine Wand, und der weiße Schemen, der die Form eines Mädchens hatte, hob die Hand und tat so, als würde sie einen Stein daraus lösen. Nero griff nach der Hand, aber seine Finger glitten einfach hindurch. Ihm war so kalt, dass er den Stein darunter nur schwach spürte. Der Schemen zog die Hand weg, und er tat es ihm gleich. Der Stein in seiner Hand löste sich leicht, ein paar Kiesel gingen zu Boden, doch ansonsten blieb die Wand stabil.   
     Dann der nächste Stein. Und der Nächste. Der Schemen zeigte ihm, welchen Stein er nehmen musste, und Nero tat, wie ihm geheißen.


Schließlich erschienen Isaac und Hana neben ihm.
     „Was machst du da?“, wollte Hana von ihm wissen.
     „Sie zeigt mir, welche Steine ich wegnehmen muss.“
     „Sie?“
     Nero nickte nur, antwortete nicht weiter, während Isaac sich bereits daran machte, zu helfen. Der Schemen griff nicht ein, also ließ er ihn machen, und kurz darauf war auch Hana am Helfen.


Als die Wand schließlich nachgab, fiel ein großer Schwall an Steinen, zusammen mit massig Staub und Dreck, der sie husten ließ, hinab, und ein Hohlraum wurde dahinter sichtbar. Und da kehrte die Hoffnung endlich zu ihnen zurück.


So entkamen sie der Höhle durch einen zweiten Ausgang, und der Schemen führte sie auch danach sicher, bis sie zurück beim Handelsposten waren.


Tann kam ihnen bereits auf halbem Wege entgegen, als er sie näherkommen sah. Und dort war es auch, wo der Schemen, den nur Nero sehen konnte, sie schließlich wieder verließ.


Tann brachte sie umgehend nach drinnen, wo er sie vor ein Feuer verfrachtete und anordnete, warme Getränke zu bringen. Aan war schon bei ihrem Eintreffen gegangen, um Rahn und Marduk, die noch immer am Graben waren, Bescheid zu geben.
     „Den Göttern sei Dank, dass ihr wieder frei seid. Wir haben stundenlang gegraben, aber es wurde eher schlimmer als besser“, erzählte Tann, als sie endlich um die wärmende Feuerschale herum saßen.
     „Es gab zum Glück einen Hinterausgang“, berichtete Hana und nickte zu Nero. „Er hat uns rausgeführt.“


„Ich war das nicht. Da war ein Geist. Sie…“
     Er stockte, als ihm plötzlich aufging, wer ihnen zuvor eigentlich geholfen hatte.
     „Deine Mutter wacht noch immer über dich, wie es scheint“, bestätigte sein Großvater ihm herzlich lächelnd.
     Sie hatte ihm geholfen. Schon wieder. Und dabei war er doch dafür verantwortlich, dass sie nicht mehr lebte...


Nachdem alle auswärts Wohnenden heimgegangen waren, blieben nur noch zwei am Feuer zurück.
     Marduk hatte Hana nach ihrer Befreiung lange belagert, bis sie ihn dazu hatte bringen können, sie in Frieden zu lassen, und jetzt waren Isaac, der seit einer Weile schon unheimlich still war, und sie allein.


„Was machst du denn ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter? Du solltest dich lieber freuen, dass wir da heil rausgekommen sind.“
     Isaac antwortete lediglich mit einem schiefen Lächeln, bevor er sich einfach wieder dem Feuer zuwandte, als wäre sie gar nicht da.


Hana hatte schon auf ihrer gemeinsamen Überfahrt bemerkt, dass er sich manchmal in seine Gedanken zurückzog. Dass er manchmal voller Trauer und Schwermut war. Sie fragte sich nur, was ihn so sehr beschäftigte.
     Wenn er so aussah, wollte sie ihn auf jeden Fall immer aufheitern. Er gefiel ihr auch ganz gut, musste sie zugeben. Sie mochte gebildete und gepflegte Männer. Und er war überaus niedlich. Normalerweise bevorzugte sie ja kräftigere Kerle, doch ab und an hatte sie auch nichts gegen die feminineren Vertreter. 


„Ich weiß, was du vorhin gesagt hast, aber wenn du möchtest, bringe ich dich gern auf andere Gedanken“, bot sie ihm also an.
     Er sah sie fragend an, als wüsste er nicht genau, was sie meinte, also ging sie ein Stück näher an ihn heran, positionierte sich möglichst verführerisch und fügte grinsend hinzu: „Was sagst du dazu?“
     Sie strich mit dem Zeigefinger sein Bein hinauf, schob ihn unter sein Gewand, dass sie die raue Hose darunter spürte. Das war der Moment, in dem er große Augen machte und sie noch mehr grinsen musste.


Selbst, als er jetzt wie gestochen aufsprang und auf Abstand ging, beinahe über seine eigenen Füße stolperte, grinste sie noch.
     „Ähm… also… d-du bist eine sehr hübsche und… interessante Frau, aber ich muss ablehnen.“
     „Warum denn? Weil du keine Gefühle für mich hast? Wenn du mich erstmal hattest, denkst du bestimmt anders über diese ganze Gefühlsduselei.“


Als hätte man einen Schalter umgelegt, verschwand die Unsicherheit mit einem Mal aus Isaacs Gesicht und wich Bitterkeit.
     „Das werde ich nie tun. Das versichere ich dir.“ Er neigte den Kopf. „Gute Nacht, Hana.“ Und ging.


Da verging ihr schließlich das Grinsen und ihr wurde klar, dass er vorhin tatsächlich einfach nicht verstanden hatte, was sie von ihm gewollt hatte.
     Es war nicht so, dass sie nicht auch Abfuhren kannte, aber es kam dennoch selten vor. Sie streckte sich gelangweilt, während sie sich fragte, was es wohl war, das Isaac immer so traurig machte und warum er so merkwürdig auf ihr Angebot reagiert hatte.


Letztendlich blieb ihr also doch nichts anderes übrig, als die Nacht mal wieder bei Marduk zu verbringen.
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Hier weiterlesen -> Kapitel 122 

Ich habe übrigens mal wieder ein paar Outtakes rausgesucht und hochgeladen. Ab Kapitel 114 geht es weiter.  

Nächstes Mal betten sie Cleos Überreste zur letzten Ruhe und Nero erfährt etwas (über seine Mutter), das ihn vorerst von Adelaide ablenkt. 

Bis dahin, danke euch fürs Lesen, und ich verabschiede mich! Bleibt gesund!

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