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Mittwoch, 19. August 2020

Kapitel 120 - Kommen und Gehen


Da war er wieder. Der dunkle Ort, voll undurchdringlicher Schwärze. Hier existierte nichts, es gab weder links noch rechts, kein Himmel und keine Erde. Aber obwohl dem so war, ging er trotzdem los. Setzte einen Fuß vor den Anderen, zögerte bei keinem seiner Schritte. Er hörte seinen eigenen Herzschlag, und es schien alles zu sein, was in der Dunkelheit existierte, bis er sich seiner selbst bewusst wurde. Er war Lu und er begann das Denken, und irgendwann waren seine Gedanken so laut in der Dunkelheit, dass sie seinen Herzschlag zu übertönen begannen.
     ‚Ist dies die Höhle, in der die Götter einst schliefen? Der Ort, an dem sie die Welt erschaffen werden?‘


Plötzlich schien ein Licht von oben auf ihn herab, blendete ihn.
     „Geist des Feuers? Bist du das?“
     Das Licht verschwand, ließ ihn in vollkommener Finsternis zurück, dass er Angst bekam, und tauchte dann vor ihm wieder auf. Brannte in dem heiligen Feuerbecken, das für die Opfergaben vorgesehen war.


Er rannte so schnell er konnte zu dem Licht, fürchtete, dass es jeden Augenblick wieder fort sein würde, und als er näherkam, war dort eine Gestalt vor ihm am Boden zu sehen. Eine dunkle Lache, die größer wurde.


Julius.


Plötzlich waren da so viele andere im Schatten. Andere Körper. Andere Tote. Er erkannte Tann, Luis, Lulu, seine Freunde und seine Familie. Sogar die beiden Wulfgars. Der Räubervater, an dessen Gesicht er sich einfach nicht mehr erinnern konnte, so sehr er es auch versuchte.
     Und dann ließ das Licht ihn erneut in der Dunkelheit zurück. Allein mit den Toten. Allein mit der Angst. Er konnte seine Gedanken nicht mehr hören, sein Herzschlag war verstummt, es wurde alles verschluckt von seinem eigenen Schrei, der bald schon alles war, was die Dunkelheit auszufüllen schien. Für immer. Ungehört.
     Er war allein.


Lu erwachte, und das erste, was er bemerkte, war, dass er auf seiner Bettdecke lag. Über ihm nur Düsternis, dass er für einen Moment glaubte, immer noch ein Gefangener zu sein. Doch das vertraute Knarren der Holzbalken verriet ihm, dass er Zuhause und in Sicherheit war. Sein Nachthemd klebte an ihm und ihm fröstelte.
     Er hatte diese Träume, seitdem er mit Wulfgar auseinandergegangen war. Davor hatten sie immer irgendetwas mit diesem zu tun gehabt, aber inzwischen waren sie noch viel dunkler, noch viel diffuser geworden. Träume, in denen er allein war, umgeben von Toten, von allen Göttern verlassen, in einer Welt aus Dunkelheit. Er suchte sie, seine Götter, aber er konnte sie nirgends finden. Er konnte ihnen seine Fragen einfach nicht stellen: Warum ließen sie das zu? Warum hatten sie sie erschaffen und ließen zu, dass sich ihre Kinder gegeneinander richteten?
     Er hatte es gesehen. Immer und immer wieder. Julius und seine Schwester, die Räuber, der Räubervater, die Sklavenhändler. Die Prostituierte, der sie die Zunge rausgeschnitten hatten, dass sie nicht erzählen konnte, was man mit ihr angestellt hatte, dass sie nie wieder schwanger werden konnte. So viele Intrigen, Hass und Mord in den Straßen Roms. So viel Elend. Unterdrückung. Er hatte die Schläge eingesteckt, die andere hatten kassieren sollen. Er hatte es geschafft, Leute zu verändern, aber es hatte auch ihn verändert.


Er drehte sich träge zu der leeren Stelle neben ihm. Schon gestern Abend war es merkwürdig gewesen, sich allein in das große Bett zu legen, das er einst mit Wulfgar geteilt hatte. Es hatte ihn nur an die Einsamkeit erinnert, die er zu verdrängen versuchte.
     Ja, er hatte sogar darüber nachgedacht, Wulf darum zu bitten, neben ihm zu schlafen, hatte den Gedanken dann aber wieder verworfen. Es wäre schließlich arg merkwürdig gewesen, ihn um so etwas zu bitten. Seinem jungen Begleiter hatte man stattdessen das Gästebett überlassen, in dem früher einmal Tanja geschlafen hatte, und er schlief gerade auch selig darin, wie Lu sah. Auch alle anderen lagen noch immer in ihren Betten und schliefen. Er war der Einzige, der wach war.


Also schlüpfte auch er wieder unter die Decke und versuchte, einzuschlafen, obwohl er Angst davor hatte, erneut zu träumen. Das rhythmische Trommeln auf dem Dach sagte ihm, dass es draußen zu regnen angefangen hatte.
     Er würde Jin morgen darum bitten, ihm dabei zu helfen, das alte Bett von Sharla aus dem Stall zu holen, damit er von nun an darin schlafen konnte.


Nero hatte einen leichten Schlaf, weshalb er sofort aufgeweckt wurde, als sich mitten in der Nacht plötzlich jemand auf ihn setzte. Sein müdes Hirn brauchte trotzdem eine Weile, bis er die dunkle Gestalt über sich realisierte, sodass er nicht mehr zum Nachfragen kam, wer da war, bevor jene sich herabgesenkt hatte und er zwei kalte Lippen auf seinen spürte, die ihn zaghaft küssten.  


Da war er sofort hellwach, fühlte nur den Kuss und spürte langes Haar, das sein Gesicht kitzelte. Er war für einen Moment erstarrt, völlig überfordert mit der Situation.


Aber dann kehrte schließlich das Leben in ihn zurück. Er packte die Gestalt über sich dort, wo er die Taille vermutete und wirbelte sie herum. Als sie unter ihm lag, fragte er sie leise, wer sie war. Doch die Gestalt war wendig und schnell. Sie entwand sich seinem Griff wie ein schlüpfriger Aal und ergriff die Flucht.
     Aber nicht mit ihm. Er stolperte aus dem Bett und lief ihr unverzüglich nach.


Es ging hinaus in die Nacht hinein, wo es zur Abwechslung mal wieder zu regnen begonnen hatte. Die Wolken, die sich vor den Mond geschoben hatten, erschwerten ihm die Sicht, doch er bemerkte die Bewegung in seinem Augenwinkel dennoch. Die Gestalt versuchte, sich um die Ecke beim Grabhügel zu verstecken, also setzte er ihr nach. Und wen er dort vorfand, erschreckte ihn zutiefst.


Da war Adelaide, die ihn nun erschrocken anstarrte.
     „Aida!“ Er war so fassungslos, wollte nicht glauben, was gerade geschehen war, dass er mehrere Anläufe brauchte, um sie zu fragen: „Was… sollte das gerade eben? „
     Sie stand mit dem Rücken zur Wand. Sie kam nicht weg. Also blieb sie, wo sie war, und wandte den Blick ab. Schloss die Augen. Ihr Gesicht war inzwischen so nass, dass er nicht sagen konnte, ob es nur der Regen war, den er darauf sah, oder ob sie auch weinte.
     Und er konnte nichts anderes mehr tun, als sie überfordert anzustarren. Er wusste einfach nicht, was er sagen sollte. Was er sagen sollte, ohne ihre Freundschaft zu zerstören, die ihm immer so wichtig gewesen war. Die etwas ganz Besonderes für ihn war.


Und als sie dann schließlich die Flucht nach vorne antrat und an ihm vorbeilief, hinaus in den Regen und die Nacht hinein, hielt er sie nicht auf. Er konnte er ihr nicht einmal folgen.
     Was sollte er jetzt nur tun?


Nyota erwachte an diesem Morgen schon früh. Sie hatte beinahe die ganze Nacht draußen in Garrus‘ Armen verbracht und war erst heimgekommen, als der Regen eingesetzt hatte. Er hatte sie gestern dazu überredet gehabt, nach Hause zu gehen, obwohl sie bei ihm hatte bleiben wollen, und jetzt konnte sie es gar nicht mehr abwarten, ihn wiederzusehen.


Nach dem Frühstück und Rahns Geburtstag, konnte sie deshalb auch nicht schnell genug aus dem Haus kommen. Wotan stand gerade mit Malah zusammen auf dem Hof, als sie hinauskam, und Nyota hätte sie nicht einmal bemerkt, wenn Wotan sich ihr nicht in den Weg gestellt hätte.


„Ach, zu dir wollte ich gerade“, sagte er. Sie musste sich zwingen, ihm überhaupt zuzuhören. „Ich hab eine Nachricht von Garrus für dich.“
     Jetzt war sie ganz Ohr. „Von Garrus? Was ist los?“
     „Er ist weg, das ist los“, eröffnete er, und sie fühlte sich, als hätte man sie geschlagen. „Er sagte, dass ich dir sagen soll, dass es ihm leid tut und dass er… ähm… dich liebt und so, aber er nicht bei dir bleiben kann, weil er dich nicht verdient. Er sagte, du sollst ihm nicht folgen und dir jemanden suchen, der besser zu dir passt. Dass du ein guter Mensch bist und nie was anderes denken sollst.“ Er kratzte sich am Kopf. „Hm, hab ich noch was vergessen?“


„Was? Er ist… weg? Warum…“ Sie ging ihn wütend an: „Warum hast du ihn nicht aufgehalten?“
     „Hey, ich hab’s versucht, aber er hat mich umgeboxt. Tut mir echt leid, Nyo.“
     Da kam auch Malah an, um etwas zu sagen, doch Nyota hörte sie nicht einmal mehr. Alles war plötzlich unwichtig geworden. Ihre Welt zerbrach um sie herum und sie mit ihr. Im nächsten Moment hatte sie ihr Messer gezogen und es gegen sich gerichtet.


Es war nur Wotans schneller Reaktion zu verdanken, dass Nyota an diesem Tag nicht starb. Er entwendete ihr das Messer, bevor sie Schaden damit anrichten konnte, doch ihr Schreien hallte trotzdem noch so lange durch den anbrechenden Morgen, dass es schließlich den gesamten Stamm anlockte. Aber nicht einmal ihre herbeigeeilten Eltern konnten die Verlassene beruhigen.


Dafür konnte es jemand anderes. Ruhig und unbeirrt sprach Luis in ihr Heulen hinein: „Ich würde das an deiner Stelle nicht tun. Denn du trägst ein Kind in dir.“
     Da stellte Nyota endlich das Weinen ein und erstarrte. Große Augen trafen den blinden Seher. Doch der hatte noch mehr überraschende Neuigkeiten.


„Genauso wie Akara“, fügte er hinzu, woraufhin es auch auf der anderen Seite große Augen gab.


Rahn starrte seine Gefährtin an, ein bisschen erschrocken, wie es schien, bevor er sich besann und schnell die Arme um sie schlang.
     Und während Akara versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen, was ihr einfach nicht gelingen wollte, sah Nyota auf ihren Bauch hinab. Vorsichtig, beinahe zögerlich legte sie eine Hand darauf. Sie war schwanger? Sie trug tatsächlich Garrus‘ Kind in sich?
     Sie wusste nicht, ob das eine gute Sache war. Ob sie, mit dem Blut von Dia Hell, einem Kind das Leben schenken sollte, das ebenfalls sein Blut haben würde. Aber sie wusste eines: Sie würde das Kind zur Welt bringen und alles dafür geben, dass es ein guter Mensch werden würde. Denn es war Garrus‘ Kind.
     Sie würde leben, und eines Tages würde sie den Vater ihres Kindes finden und zurückholen.


Nach Tagen ereignisloser Wacht hatte sich Wotan dazu entschlossen, dass kein Wachposten am Taleingang mehr nötig war, sodass er am nächsten Morgen zur Abwechslung mal zu Zuhause vorbeischaute, wobei er geradewegs in seine Mutter hineinlief, die gerade in Begleitung vom Wirtshaus zurückkam. Und als er in besagter Begleitung seine letzte Bettgeschichte erkannte, gefror ihm ein bisschen das Blut in den Adern.
     Bevor er in Deckung gehen konnte, wurde er entdeckt, und während seine Mutter jetzt erfreut aussah, sah Eris leider überhaupt nicht so aus. Im Gegenteil. Sie machte den Mund auf, kaum dass sie ihn gesehen hatte und begann, zu schimpfen, dass seine Mutter doch letztendlich erfuhr, was er ihr immer verheimlicht hatte.


„Du! Was du zu kommen her wagen? Du böser… böser Lügner! Du rosa, quiekendes, haariges Swein! Affe!“
     Gefolgt von einer Reihe weiterer Beleidigungen in ihrer Muttersprache, bis Greta ihre Sprache wiedergefunden hatte, um nachzufragen: „Warte! Warte! Was ist hier los?“
     Wotan betete innerlich zu allen Göttern, dass Eris einfach still bleiben würde, aber den Gefallen tat sie ihm natürlich nicht. Normalerweise hätte er das ja einfach ignoriert, doch das ging schlecht, wenn seine Mutter dabei war. Er wusste schon, warum er immer die Mädchen von außerhalb, die Durchreisenden, bevorzugt hatte. Bei denen bestand weniger die Gefahr, dass sie seiner Mutter über den Weg liefen.


„Der Affe da zu mir lügen! Erzählen, ich schön sein, dann an mein Rock gehen und dann… dann weg gehen!“
     „Was? Wotan! Du hast sie doch nicht etwa überfallen?“
     „N-nein! So war das gar nicht! Ich hab nur…“, stotterte er.
     „Ja, was hast du?“


„Wir hatten nur ein bisschen Spaß, das war alles“, gab er kleinlaut zu. „Ich hab sie aber zu nichts gezwungen, ich schwöre es! Sie… hat nur gedacht, ich würde sie mögen, doch das war ein Missverständnis! Wenn ich das gewusst hätte, dass sie das denken würde, hätte ich das ja nie gemacht! Ich – “
     „Lügen!“, fiel Eris ihm ins Wort. „Du mit vielen Frauen das machen! Ich von anderen hören! Du dauernd lügen, um… um Spaß mit Frauen haben.“
     Greta verschluckte sich beinahe an ihrer eigenen Spucke, als sie das hörte.
     „Wotan! Ich kann nicht glauben, was ich da höre! Ich dachte, ich hätte dich zu einem anständigen Mann erzogen!“


Eris war zuerst erschrocken gewesen, als sie erkannt hatte, dass dieser Schweinehund von Wotan wohl der Sohn von Greta war, mit der sie die ganze letzte Nacht hindurch geredet hatte. Sie war eine gute Frau, und Eris hätte ja nie gedacht, dass ausgerechnet sie so einen Windhund zum Sohn haben würde. Sie hatte auch nie seinen Namen fallen lassen. Hatte ihn immer nur „meinen Jungen“ genannt.


Und jetzt war es ihr so eine unheimliche Genugtuung, diesen großkotzigen Kerl so klein mit Hut zu sehen.


„Erst deine Schwestern, und jetzt machst auch noch du mir Kummer!“, warf Greta ihm verzweifelt weinend vor. „Ich dachte, wenigstens um dich müsste ich mir keine Sorgen machen!“
     Wotan riss erschrocken die Hände hoch. „M-musst du auch nicht. Schau, ich werde sie einfach heiraten, und dann ist wieder alles gut, ja?“
     „Du ganz sicher nicht mich heiraten! Ich dich hassen!“
     Da hatte dieser Unhold doch die Dreistigkeit, erleichtert auszusehen, während seine Mutter, die zuvor einen hoffnungsvollen Blick gewagt hatte, wieder zum Weinen überging.


Aus Trotz diesem Blödmann gegenüber, der noch immer versuchte, nicht vor Erleichterung zu grinsen, sagte Eris süßlich: „Hm, ich mir überlegen. Ich doch dich heiraten.“
     Sie würde den Teufel tun, diesen Ekel zu heiraten. Aber sollte er es ruhig glauben. Und wie sie gehofft hatte, huschte der Schrecken auch sogleich zu ihm zurück.


Und als seine Mutter zu allem Überfluss auch noch ankam, sie beide an sich drückte und sich wirklich über ihre „Verlobung“ freute, konnte er keinen Rückzieher mehr machen. Zu seinem Pech hatte Greta die zukünftige Schwiegertochter die letzte Nacht über nämlich sehr ins Herz geschlossen. Wie eine Tochter, hatte sie einmal zu Eris gesagt.
     Auch das noch! Wie kam er da nur wieder raus?


Es dauerte bis zum Abend, bis Jana ihre Tochter in der Küche allein antreffen konnte. Bislang hatten alle anderen sie in Ruhe gelassen, das hatte Nyota schon bemerkt, und sie war dankbar dafür gewesen, aber sie wusste, dass es jetzt an der Zeit war, sich ihren Mitmenschen wieder zu stellen.
     „Nyo, Liebes…“
     „Es ist schon gut“, unterbrach Nyota sie, lächelte unsicher. „Du musst dir keine Sorgen um mich machen. Ich werde sein Kind auf die Welt bringen und dafür sorgen, dass es ein gutes Kind wird. Egal, welches Blut auch in ihm fließt.“
     „Weißt du, ich hab das damals auch mal gesagt. Zu deinem Papa. Als ich mit dir schwanger war.“
     Nyota wusste, dass sie von Aan sprach. Sie hatte nie aufgehört, ihn so zu nennen, obwohl sie ja nicht seine leibliche Tochter war.


„Und weißt du was?“, fuhr Jana stolz fort. „Ich hab ziemlich gute Arbeit geleistet, find ich. Du bist ein klasse Mensch geworden.“
     Nyota lächelte zaghaft. „Ich glaube, dass ich dich das erste Mal verstehen kann. Ich dachte, dass du mich hassen musst, weil ich doch von ihm abstamme und er dir so etwas… Unsagbares angetan hat...“
     „Ich hasse dich doch nicht, Nyo! Ich hab dich doch immer lieb!“
     „Ich weiß. Ich wollte es vorher nicht einsehen, aber jetzt verstehe ich es. Danke, Mama. Und… tut mir leid, dass ich dir und Papa so viele Sorgen bereitet habe. Von nun an will ich das nicht mehr tun. Von nun an will ich ein gutes Vorbild für mein Kind sein.“
     Jana konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen darüber kamen. Sie nahm ihre Erstgeborene in den Arm, und die erwiderte die Umarmung zögerlich.


Und da kam schließlich Aan hinzu, der die ganze Zeit über versteckt zugesehen hatte. Er legte die Arme um seine beiden Mädchen, und obwohl ein Stich der Schuld durch Nyota ging, wehrte sie sich nicht dagegen. Sie hatte sich zu lange nicht wie seine Tochter aufgeführt, obwohl er ihr nie das Gefühl gegeben hatte, dass sie das nicht sei. Jetzt war es an der Zeit, dass sie sich auch wieder wie eine Tochter benahm. Egal, ob sie nun sein Blut hatte oder nicht.


„Papa, ich möchte wieder bei dir lernen“, bat sie ihn deshalb kurz darauf. „Ich möchte noch viel mehr wissen, um meinem Kind alles beibringen zu können. Vielleicht… vielleicht kann ich dir in Zukunft ja auch helfen, Kinder zu unterrichten, wenn du das irgendwann wieder tust.“
      „Das würde mich wirklich freuen, Nyo“, erwiderte er gerührt und wischte sich unauffällig eine Träne aus dem Augenwinkel.
     „Und Mama, könnten wir vielleicht für mein Kind opfern? Ich möchte, dass es gesund zur Welt kommt.“
     Sie wollte, dass es überhaupt zur Welt kam. Sie wusste nicht, was sie tun würde, wenn sie es verlieren würde.


Rahn stand zur gleichen Zeit beim Brunnen, um Wasser zu holen, als Jin ankam.
     „Na, mein Freund“, begrüßte er ihn, „wie findest du‘s, dass du jetzt nochmal Vater wirst?“
     „Ich freue mich, natürlich.“
     Das war nicht mal ganz gelogen. Ja, er machte sich wahnsinnige Sorgen, dass er auch Akara verlieren könnte, aber dennoch konnte er nicht verleugnen, dass er sich immer eine große Familie gewünscht hatte.
     „Ich hätte ja auch nix gegen, nochmal Papa zu werden, aber…“ Er zuckte mit den Schultern. „Bin schon bisschen alt für. Ich glaub, ich wart lieber auf Enkel.“
     „Du meinst wohl Urenkel.“


Jin lachte. „Ja, hast recht. Dass meine kleine Enkelin jetzt schon Mama wird. Mann, wie die Zeit vergeht! Ich weiß noch, wie du mich gefragt hast, dass ich mich mit dir prügel. Damit du Dana beeindrucken kannst.“
      Er fand das urkomisch und lachte wieder, doch Rahn wollte diese peinliche Episode seines Lebens am liebsten vergessen.
     „Erinnere mich nicht daran! Und ich weiß noch, wie du dir überhaupt nicht vorstellen konntest, Dana zur Frau zu haben. Wie du sagtest: „Stell dir nur vor du kriegst sie und dann werden deine Kinder auch so komisch“, und jetzt hast du sie.“
     „Ach, das hab ich doch nur so gesagt.“ Kleinlaut fügte er hinzu: „Lass das bloß nicht Dana hören, ja?“
     „Keine Sorge, mein Freund, das bleibt natürlich unter uns.“
     „Ich freu mich ja für dich, dass du auch mal zum Zug kommst. Wird mal Zeit. Hätte aber nie und nimmer nicht gedacht, dass du ausgerechnet auf Jüngere stehst.“
     „Hätte auch nie gedacht, dass du ältere Frauen bevorzugst.“


Rahn rechnete damit, dass Jin jetzt so etwas sagen würde, wie, dass Frauen wie Räucherwurst waren und sie einfach ein bisschen reifer sein mussten, um gut zu sein, aber stattdessen erwiderte er schmunzelnd: „Dana ist ja auch ne klasse Frau. Bin echt froh, dass ich sie hab. Sie und meine Rasselbande. Ich hoff, dass du auch endlich mal das gekriegt hast, von dem du damals immer gefaselt hast. Eine Frau zum Lieben und eine Famile und so.“
     „Ja, ich habe nun alles, was ich immer haben wollte.“ 
     „Gut. Dann geh ich mal strullen.“ Er hob die Hand. „Man sieht sich!“


Rahn sah ihm kurz nach, bevor er sich aufraffte, den gefüllten Krug zum Haus zu bringen. Aber auf dem Weg dorthin fiel ihm auf, dass jemand beim Grabhügel stand. Seine Akara. Und als er sie so dastehen sah, versank er in seine Gedanken.


Er hatte erst heute seinen letzten großen Geburtstag gefeiert.


Und er musste zugeben, dass er schon ein bisschen Sorge gehabt hatte, dass er seiner jungen Gefährtin danach nicht mehr gefallen könnte. Jetzt, wo er plötzlich ein Senior war. Weißes Haar hatte. Noch mehr Falten. Jetzt, wo er sich noch schwächer fühlte, als davor schon, und er manchmal nicht einmal mehr aufrecht gehen konnte, ohne, dass es ihm im Kreuz wehtat. 
     Er hatte Angst davor gehabt, dass sie in ihm nur noch einen alten, pflegebedürftigen Großvater sehen könnte und nicht mehr einen Mann, den sie liebte und der an ihrer Seite stehen konnte.


Aber Akara hatte ihn gleich nach seinem Geburtstag abgefangen, als er gerade zum Austreten nach draußen gegangen war, und hatte gesagt: „Das weiße Haar steht dir.“ Und: „Ich hätte es ja nicht gedacht, dass du mir noch besser gefallen könntest, doch da hast du mich eines Besseren belehrt.“
      Und sie hatte ihn dabei so ehrlich angesehen, dass er ihre Liebe wahrlich gespürt hatte. Dass er gewusst hatte, dass sie ihn nicht nur angeflunkert hatte, um seine Gefühle zu schonen, obwohl sie ihn eigentlich gar nicht mehr haben wollte. Er hatte gedacht, dass jetzt alles gut sein würde.


Aber dann war die Nachricht ihrer Schwangerschaft über sie hereingebrochen wie ein Gewittersturm und plötzlich war er doch wieder voller Sorgen. Also stellte er den Krug ab und ging zu ihr hinüber.


„Kara, Liebes.“
     Sie zuckte zusammen und sah ihn erschrocken an. Das hatte sie lange nicht mehr gemacht. Normalerweise war sie ganz entspannt in seiner Umgebung, aber nun sah sie ihn mit den großen Augen an, mit denen sie ihn früher immer anzusehen gepflegt hatte, und das stach ihn ganz böse in den Magen.
     „Es tut mir leid“, sagte er da ganz automatisch.
     Ihre Augen gingen hilfesuchend hin und her, doch dann entspannte sie sich schließlich und lächelte, woraufhin auch seine Sorgen ein bisschen abflauten.


„Was entschuldigst du dich denn? Es ist nicht so, dass ich mich nicht freue. Das tue ich. Ich weiß schließlich, dass du sehr kinderlieb bist und gern eine große Familie gehabt hättest. Deswegen freue ich mich für dich.“ Plötzlich wurde sie ein bisschen rot. „Es war ja auch irgendwie abzusehen, dass es passieren würde.“


Das stimmte. Er hätte es ja nicht gedacht, dass er in seinem Altern noch einmal so aktiv im Bett werden würde, aber er und Akara hatten beide eine Heidenfreude daran gehabt, diese neue Sache gemeinsam zu entdecken. Sicher, sie hatte davor schon Elrik gehabt und er Diana, aber sie hatte ihm anvertraut, dass es ihr mit Elrik nie gefallen hatte, und er erinnerte sich nicht einmal an das eine Mal, dass er mit Diana das Bett geteilt hatte.


„Aber ich will dich nicht anlügen, für mich ist das natürlich schwieriger“, fuhr sie fort und ließ bei ihm wieder Sorge ausbrechen. „Doch ich schwöre dir, dass ich mein Bestes geben werde!“, sagte sie so inbrünstig, dass er ein bisschen erschrak. „Das ist schließlich unser gemeinsames Kind.“


Rahn ging zu ihr und schloss sie gerührt in die Arme, drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel und bedankte sich bei ihr. Akara erwiderte die Umarmung.
     „Und Dana hat mir versprochen, mir zu helfen. Sie meint, dass sie dir das schuldet, weil sie Nero am Anfang so vernachlässigt hat“, erzählte sie ihm. „Ich hoffe, das ist in Ordnung für dich.“
     „Natürlich. Was sollte ich denn dagegen haben?“
     Sie lagen sich noch einen Moment länger in den Armen. Akara lauschte seinem Herzschlag, der glücklicherweise ruhig und regelmäßig war. Sie war so erleichtert, dass der Trank ihn scheinbar geheilt hatte.


Als sie den Kopf nun zum Grabhügel drehte, war es das erste Mal, dass sie bei diesem Anblick lächeln konnte.
     „Danke, Diana! Ich bin dir so dankbar, dass du mich und Rahn zusammengebracht hast.“
     Da nahm er sie noch ein bisschen fester in den Arm und sie drehte den Kopf, um ihn zu küssen. Ja, auch wenn er eine Heidenangst um seine Gefährtin hatte, war es endlich einmal an der Zeit, sich keine Sorgen zu machen, sondern einfach nur das Glück, das er momentan hatte, zu genießen.


Die Vorbereitungen und der Abschied hatten länger als gedacht gedauert, weshalb es erst am folgenden Tag geschah, dass Leif und Mari die Gegend verließen. Sie wählten ausgerechnet den Weg nach Norden, wohin auch die Räuber verschwunden waren, und Lulu war deshalb in Todesangst. Sie mussten ihr mindestens hundertmal versprechen, sofort einen anderen Pfad als die Räuber einzuschlagen, sobald sie das Tal verlassen hatten. 


Lulu ließ ihren Jungen mit einem lächelnden und einem weinenden Auge gehen. Das Lächelnde war aufgesetzt, um ihrem Sohn den Abschied und die Wiederkehr zu erleichtern, das Andere war echt, aber sie hielt es versteckt. Stattdessen versuchte sie sich an Isaac ein Beispiel zu nehmen, der seine Tochter ehrlich und herzlich lächelnd verabschiedete.


Und nachdem sie dann schließlich losgegangen waren, und Lulu endlich weinen konnte, meinte Jin: „Mann, das erinnert mich so an damals, als sein Vater das erste Mal von hier weg ist.“
     Lu fühlte augenblicklich einen Stich der Schuld in sich. Er war diesem Abschied damals ferngeblieben. Etwas, das er immer bereut hatte.
     „Wer ist denn sein Vater?“, wollte Isaac wissen.


Und als er erfuhr, wer Leifs Vater war, musste er schmunzeln. Er hatte den Jungen, der mit seiner Tochter reisen würde, natürlich am Vorabend noch zur Seite genommen und mit ihm geredet gehabt, um herauszufinden, was für ein Mensch er war. Seinen Freund Wulfgar hatte er aber nicht in ihm gesehen. Er musste mehr nach der Mutter kommen.
     Welch Ironie, dass seine Tochter ausgerechnet mit Wulfgars Jungen hinauszog. Wenn sie beide es schon nicht hatten tun können, konnten wenigstens ihre Kinder zusammen durch die Welt reisen.


Der ganze Stamm war versammelt, um Abschied zu nehmen. Nur Nila stahl sich davon, kaum dass er die Möglichkeit dazu hatte. Er wäre am liebsten gar nicht gekommen. Leif, dieser dämliche Volltrottel hatte ihn schließlich in arge Schwierigkeiten gebracht. Dieser Blödmann hatte ihn und Nara ja auch unbedingt zusammen sehen und sich das von Reinard entlocken lassen müssen.
     Nila war sich ziemlich sicher, dass Leif wahrscheinlich einfach nicht gewusst hatte, dass er das lieber für sich hätte behalten sollen. Wie auch, er hatte sich ja nie für irgendetwas interessiert gehabt, das außerhalb von ihm und seinem dämlichen toten Bruder passiert war. Deshalb hatte er wahrscheinlich nicht einmal den blassesten Schimmer, in welch angespannter Lage sich die Stämme und Familien gerade zueinander befanden. Und in welche Schwierigkeiten er ihn gebracht hatte, als er Reinard erzählt hatte, dass er unschuldig an der Entführung von Roah sei, weil er zur fraglichen Zeit bei Nara gewesen war.


Daraufhin hatte Reinard ihm natürlich einen Besuch abgestattet, vorgestern beim Götterfest, als niemand es gesehen hatte, und er hatte grinsend gesagt: „Ich werde darüber hinwegsehen, dass du es mit meiner Schwester treibst, ja, ich werde sie dir gerne für alles überlassen, was auch immer du mit ihr anstellen willst, wenn du mir ein bisschen helfen wirst.“
     Immerhin war das in Nilas Interesse. Deshalb konnte er gerade so über diesen Schnitzer von Leif hinwegsehen. Darüber, dass er irgendwem gegenüber offenbart hatte, dass er mit Nara schlief. Schlimm genug, dass Nyota das letztens schon rumerzählt hatte. Er war nur froh, dass Nara dichtgehalten hatte. Trotzdem waren sie ihm in seinem Stamm immer noch misstrauisch gegenüber. Vor allen Dingen Malah roch etwas, da war er sich sicher.


Dennoch – wenn er Nara jetzt haben konnte, ganz ohne schlechtes Gewissen, war das gleich doppelt in seinem Interesse. Er würde der neue Stammesführer werden, und er würde Nara in seinen Stamm holen, als Entschädigung für seine arme Schwester natürlich. Und dann war Nara endlich ganz und gar sein und niemand würde sie ihm mehr wegnehmen können. Nicht, dass er je vorhatte, sie zu heiraten. Sie würde seine heimliche Geliebte, sein heimliches Spielzeug bleiben.
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Hier weiterlesen -> Kapitel 121

 Zu der Sache mit Nila und Reinard will ich hier jetzt gar nichts verraten, also weiter im Text: Mari und Leif haben also die Gegend verlassen. Ich muss ja sagen, dass ich das ein bisschen schade finde, dass ich nicht mehr mit ihnen arbeiten konnte, aber ihre Geschichten gehörten einfach in die Außenwelt. Vielleicht werde ich sie auch irgendwann mal an anderer Stelle erzählen (oder auch nicht, ich habe nämlich zwar eine grobe Vorstellung, was mit ihnen geschehen soll, aber noch überhaupt keine Rahmenhandlung dazu).
      Doch während zwei gehen, haben wir auch (bald) zwei(?) kleine Neuankömmlinge. Zudem hat Rahn seinen letzten Geburtstag gefeiert. Ich habe ja lange überlegt, ob ich das überhaupt noch mache, aber da er schon von Anfang an dabei war, war das längst überfällig. Und ich muss ja sagen, dass er bislang der niedlichste Senior ist, den ich je hatte. Nach Rahn soll jedoch keiner der Älteren mehr Geburtstag feiern, bevor Zeitalter zu Ende geht.

 Ich habe übrigens mal die Charakterseiten ein bisschen aktualisiert (nichts Großartiges, vor allen Dingen Gruppenbilder aktualisiert, Leute verschoben und Ida und Hana im Handelsposten hinzugefügt.)

Nächstes Mal versucht Isaac, Hana zu helfen, ihren Geist loszuwerden. Doch stattdessen kommt alles ein bisschen anders und bald schon sind sie sogar auf die Hilfe eines Geistes angewiesen.

Bis dahin, danke euch fürs Vorbeischauen, bleibt gesund, und ich verabschiede mich!

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