Neuigkeiten

Hallo und herzlich willkommen in meiner (Sims-)Wortschmiede!
Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!
Neu hier? Dann hier anfangen.
Wulfgars Geschichte jetzt komplett online!

Mittwoch, 22. Juli 2020

Kapitel 119.1 - Ein Fest für die Götter Teil 1

Anmerkung
Dieses Kapitel besteht aus 4 Teilen. Zwei davon gibt es heute, die nächsten zwei in zwei Wochen. Der Link zum nächsten Kapitel befindet sich am Ende dieses Kapitels.


Die nächste Zeit schneite es zwar nicht mehr – und Tann und Isaac blieben auch von jeglichen Erkältungen verschont – aber es herrschte eine Stimmung des Misstrauens. Die Kundschafter, die man ausgesandt hatte, um die entflohenen Räuber zu finden, waren mit leeren Händen zurückgekommen. Sie waren Hufabdrücken gefolgt, die aus dem Lager direkt zu einer vielbefahrenen Straße geführt hatten, wo sie sich schließlich unter zahllosen anderen Spuren verloren hatten. Sowohl die Räuber, als auch die Vermissten blieben verschwunden.
     Immer wieder wurden daraufhin Versammlungen abgehalten, aber oft gingen die Beteiligten mehr im Streit auseinander, als dass sie etwas erreichten. Vor allen Dingen, wie man mit Nila verfahren sollte, war des Öfteren Dreh- und Angelpunkt der Streitigkeiten. Die anderen Stämme waren von seiner Schuld überzeugt, doch Malah weigerte sich standhaft, ihren Bruder auszuliefern, solange es keine Beweise gab, dass er tatsächlich schuldig an dem Verschwinden der Leute war. Die Situation blieb festgefahren.


Es kam erst wieder Bewegung in die ganze Sache, als Isaac drei Tage später das Wirtshaus verließ, um zum anberaumten Opferfest zu gehen, und Leif und Mari putzmunter vor ihm standen, so als wären sie nie fort gewesen. Es muss nicht erwähnt werden, dass er mehr als froh war, dass wenigstens zwei der Verschwundenen wieder da waren und seine Tochter eine davon war.


„Euer Verschwinden hat hier ganz schön für Wirbel gesorgt“, tadelte er, nachdem er seine Tochter erleichtert umarmt hatte. „Wo seid ihr denn gewesen?“
     Mari zog den Kopf ein, grinste schuldbewusst, wie sie es immer getan hatte, wenn sie in der Vergangenheit fortgelaufen war, und da wusste er schon, dass er mit seiner Vermutung recht gehabt hatte.
     „Ja, also… wir wollten in die Welt hinausziehen“, bestätigte sie. „Aber ich habe irgendwie vergessen, dir Bescheid zu geben.“
     „Ich habe dir ja gleich gesagt, dass wir nicht einfach abhauen sollten!“, mischte sich der verloren geglaubte Junge vom Uruk-Stamm ein.
     „Ach, hab dich nicht so! Deswegen bist du uns ja auch nach und hast mich zum Umdrehen überredet.“
     „Und was ist mit den Anderen?“, wollte Isaac wissen.


„Die wollten nicht mit zurückkommen“, antwortete Mari für den Jungen, der sich damit begnügte, ein betretenes Gesicht zu machen.
     „War Roah auch bei euch?“
     „Wer?“
     „Was ist denn mit Roah?“, fand Leif seine Stimme wieder.


Doch bevor Isaac ihnen erzählen konnte, was während ihrer Abwesenheit so alles passiert war, wurde er auf das Schiff aufmerksam, das gestern noch nicht dagewesen war. Er wusste, dass es das war, mit dem der andere Händler, Marduk, vor einer Weile aufgebrochen war, um dorthin zu segeln, wo die anderen Verschwunden zuletzt gesehen worden waren. Die, die in die Sklaverei geraten waren und von denen einer sein Junge war, wegen dem er eigentlich hergekommen war.
     Er hatte ursprünglich mitsegeln wollen, hatte dann aber bleiben müssen, nachdem Mari verschwunden war, und das hatte ihn zutiefst geärgert. Jetzt war das Schiff wieder da, auf dessen Wiederkehr er so lange gewartet hatte, und just in diesem Moment verließen es zwei und betraten den Steg. Einer war ein Unbekannter für ihn, aber der Zweite nicht, und als er den erkannte, hielt ihn nichts mehr.


„Wulf! Wulfgar!“


Isaac bekam seinen Sohn nicht mehr rechtzeitig zu fassen, da er die Flucht vor ihm ins Wasser antrat. Dafür aber sah er sich jetzt demjenigen gegenüber, von dem er schon gehört hatte. Der, dessen jugendliches Ebenbild er sein sollte.
     Er hatte ja nicht daran geglaubt, doch er musste feststellen, dass sie sich tatsächlich ein bisschen ähnlich sahen. Vor allen Dingen die Augen. Es war irgendwie befremdlich, sich selber in die Augen zu sehen.


Der Andere starrte ebenfalls, riss sich dann aber schließlich los und drehte sich nach dem Entflohenen um, rief laut: „Wulfgar! Wirst du wohl zurückkommen!“
     Und Wulf, der sein kaltes Bad inzwischen hinter sich gebracht und den rückläufigen Strand erreicht hatte, blieb tatsächlich stehen.


Isaac zögerte nicht lange und setzte seinem Sohn nach. Auch er hatte keine Scheu vor dem kalten Nass, rannte unbeeindruckt durchs Wasser, dass es spritzte und den Saum seines Mantels durchnässte, bis sich selbst seine Hose darunter vollgesogen hatte und das Wasser in die Stiefel lief.
     Lu sah ihm kopfschüttelnd dabei zu, dann entschloss er sich, die beiden besser allein zu lassen.


Er wollte sich eigentlich gar nicht einmischen, wurde aber in die ganze Sache mit reingezogen, als er den Steg verlassen hatte und Wulf zurückkam, um tatsächlich Schutz hinter ihm zu suchen. Er schob ihn wie einen Schild zwischen sich und seinen Vater, der ihm dicht auf den Fersen war.
     Doch Isaac verstand den ziemlich deutlichen Wink mit dem Zaunpfahl scheinbar nicht, oder er wollte ihn nicht verstehen. Er redete ununterbrochen in seiner Muttersprache auf seinen Sohn ein, der antwortete zuerst nicht, dann mit einem knappen Satz, und da machte Isaac gerade so weiter. Lu kam sich nicht nur ein bisschen unbehaglich zwischen beiden vor.


„Eris?“, hörte er Wulf sagen, der nun das erste Mal einen Blick über seine Schulter riskierte, und sein grimmiger Gesichtsausdruck wich Schrecken. Er sah sich um und schob sich dann noch ein bisschen mehr hinter Lu. Immerhin bequemte er sich jetzt aber auch mal dazu, mit seinem Vater zu reden. Lu mutmaßte an seiner Stimmlage, dass es jedoch kein sehr freundliches Gespräch war.
     „Ähm… also ich möchte euch natürlich nicht stören“, mischte er sich schließlich hilflos ein, „aber dürfte ich vielleicht nach Hause gehen?“
     Die beiden Männer unterbrachen sich kurz und sahen ihn an, machten aber keine Anstalten, ihn gehen zu lassen. Oder besser gesagt Wulf machte das nicht. Er nutzte ihn noch immer als Deckung.


Glücklicherweise kam kurz darauf jemand an, um ihn zu erlösen. Dummerweise war es Leif, und bei seinem Anblick wurde Lu an etwas erinnert, was er lieber vergessen hätte. Ihm rutschte sofort das Herz in die Hose.
    „Ihr seid zurück“, merkte Leif an und warf dann einen Blick zum Schiff hinüber. „Wo sind Vater und die Anderen?“
    Da ließ Wulf ihn los, und Lu fühlte sich einen Moment, als ob er nicht einmal die Kraft dazu hatte, auf den Beinen zu bleiben.


Er musste erst ein paarmal tief Luft holen, um sich zu beruhigen, damit seine Stimme nicht zitterte, bevor er erklären konnte: „Elrik und Anya sind nicht mit uns gekommen, und dein Vater ist das auch nicht. Sie wollen später nachkommen. Wenn alle anderen versammelt sind, erzähle ich, warum.“
     Er wollte dieses Thema so wenig wie möglich bereden. Vor allen Dingen das mit Wulfgar nicht. Leif sah irritiert aus, gab sich aber mit der Antwort zufrieden.
     „Ich möchte jetzt auch erst mal nach Hause gehen“, fügte Lu hinzu.


Er musste sich zusammenreißen, um nicht zu rennen als wäre er auf der Flucht, um Wulfgars Sohn so schnell wie möglich zu entkommen, sodass er nicht mal wahrnahm, dass die untere Etage des Handelspostens eine neue Fassade aus Ziegeln hatte.
     Wulf, sein Begleiter, folgte ihm natürlich auf den Schritt, und Lu war heilfroh, endlich nach Hause zu kommen. Nur als Isaac Anstalten machte, auch mitzukommen, kamen sie wieder ins Stocken, da Wulf ihn offensichtlich überhaupt nicht dabeihaben wollte. Er sprach so barsch in seiner Muttersprache zu ihm, dass Lu sich schon denken konnte, was er sagte, ohne dass er es verstand. Auch Isaacs betroffenes Gesicht sprach Bände.


Also trat Lu an Wulf heran und sah ihn an. Er brauchte gar nichts zu sagen, sein betretener, bittender Blick reichte vollkommen aus, damit der Andere sich schlecht fühlte.


Der Jüngere drehte daraufhin ab und ging, sagte wütend: „Mach doch, was du willst!“
     Lu warf einen flüchtigen Blick zu Isaac, der nicht einmal Notiz von ihm nahm, dann ging er Wulf nach. Ihm war klar, dass er wohl irgendwann noch mit diesem Isaac reden musste; momentan wollte er aber nur endlich nach Hause.


Doch sie kamen wieder nicht weit, da sie ausgerechnet Tanja begegnen mussten. Obwohl sie sich sonst einen feuchten Kehricht um den ehemaligen Schamanen scherte, war seine Rückkehr wohl so eine große Sensation, dass sie ihn tatsächlich mit ihrer Aufmerksamkeit beehrte. Sie stellte sich ihm sogar in den Weg, sodass er keine Chance hatte, ihr zu entkommen.
     „Oh, Lu, du bist ja wieder da“, begrüßte sie ihn im Plauderton. „Da werden ja alle ganz aus dem Häuschen sein, dass wenigstens einer von den Verschwundenen wieder aufgetaucht ist.“
     „Verschwundenen? Wer ist denn verschwunden?“, fragte er sie besorgt.


Tanja grinste ein bisschen, dass sie erzählen konnte, und dann war Lu erstmal eine Weile damit beschäftigt, von der redseligen Frau, die ab und an von Isaac ergänzt wurde, auf den neuesten Stand der Dinge gebracht zu werden.
     Und je mehr sie erzählten, desto erschrockener war er. Er hatte gedacht, endlich Zuhause und fort von all dem Wahnsinn da draußen zu sein, aber wie sich herausstellte, schien er während seiner Abwesenheit schon längst hier eingefallen zu sein. Das konnte doch nicht wahr sein! Er wollte doch nur endlich Frieden haben!


„Und jetzt feiern sie gerade ein Opferfest“, beendete Tanja ihre Erzählung und deutete hinter sich den Hügel hinauf. „Das war auch bitter nötig! Da muss jemand die Götter ganz schön verärgert haben, dass sie uns dieses Jahr so sehr bestraft haben. Und du? Erzähl mal, wie ist es so da draußen? Ich komme hier ja nicht weg.“
     „Entschuldige, Tanja, doch ich würde gerne erst zum Opferfest gehen, wenn es schon im Gange ist. Ich erzähle dir später aber gerne davon, ja?“
     Tanja verzog das Gesicht, als würde sie sagen wollen „war ja klar“, ließ aber glücklicherweise von ihm ab und ging wortlos an ihm vorbei ihres Weges.


Lu machte sich mit seinen beiden Begleitern, die sich weiterhin in eisernem Schweigen übten, also auf den Weg zum Opferfest. Aber entgegen den Traditionen, fand es nicht an ihrer heiligen Versammlungsstätte am See statt, sondern an dem Ort, der genau den Mittelpunkt zwischen den drei Nachbarn auf dem Hügel bildete.
     Ein Platz, der früher immer leer gewesen war und an dem sich nun ein neues Gebäude erhob, das vor seiner Abreise noch nicht dagewesen war. Es bestand praktisch nur aus einem Fundament und einem säulengetragenen Dach, aber Lu erkannte darin trotzdem sofort das, was es sein sollte: ein Tempel. Er hatte die letzte Zeit viel zu viele dieser Bauwerke sehen müssen.


Früher hatte er die religiösen Versammlungen immer geliebt. Er erinnerte sich noch, wie sie sich immer beim Steintotem am See getroffen hatten. Zuerst war nur Tann allein gegangen, um sich mit den anderen Oberhäuptern einmal jährlich zu treffen, aber später war auch er als Schamane mitgegangen, und der Ort hatte ihn immer mit Ehrfurcht erfüllt. Egal, ob er nun mit dem Stammesführer zu den Versammlungen gegangen war, er ihn mit Luis besucht hatte oder sie Feste zu Ehren der Götter abgehalten hatten.
     Aber als er die neue, heilige Versammlungsstätte erreichte, war das irgendwie nicht mehr so. Es war nur noch ein völlig überfüllter und ganz gewöhnlicher Ort für ihn.
     Er blieb am Rande stehen, noch hinter denjenigen, die ganz außen standen, und er konnte die Oberhäupter der Stämme und Familien sehen, die vorm Tempel Aufstellung bezogen hatten. Jana und Luis waren auch dort, was ihn freute zu sehen. 


Aber er wurde davon abgelenkt, als er bemerkte, was sich eigentlich vor seinen Augen abspielte. Da war Leif, der vorher noch, als sie mit Tanja geredet hatten, an ihnen vorbeigeschlüpft war, und Garrus, der gerade sein Schwert gegen Griswold gehoben hatte, der erstarrt vor ihm stand.
     Als Lu das sah, übernahm ganz automatisch sein Schutzinstinkt die Führung, für den er im Hause Scipio schnell bekannt geworden war.


Alles war vergessen, er hechtete nach vorn und war so schnell zwischen Griswold und dem Schwert, dass Wulf nicht rechtzeitig reagieren konnte, um ihn zurückzuhalten.
     Er hörte, wie ein überraschtes Raunen bei seinem Auftauchen durch die Reihen ging, aber er hatte nur Augen für die Klinge, die nun auf ihn zuraste. Die Schwertspitze kam knapp vor seinem Hals zum Stehen, doch Lu dachte nicht daran, zu weichen. Er stand unverrückt an Ort und Stelle und schaute seinem Gegenüber fest in die Augen.
     „Geh zur Seite!“, forderte der ehemalige Soldat mit bedrohlicher Stimme. Doch Lu hatte keine Angst vor ihm. Er hatte schon mit zu vielen seiner Sorte zu tun gehabt, als dass er ihn noch hätte ängstigen können.
     „Nein. Wenn du ihn töten willst, dann musst du auch mich töten“, erwiderte er ruhig, aber bestimmt.


Da erschien Wulf und stellte sich mit verschränkten Armen neben ihn. „Nimm das Schwert runter, Mann, oder bist du echt so armselig, einen Unbewaffneten abzustechen?“
     Auch Malah und Jana kamen hinzu, ebenso Tann auf der anderen Seite, der Garrus furchtlos beim Handgelenk packte und warnte: „Wage es nicht, dein Schwert gegen einen der Unseren zu erheben oder du wirst dir unser aller Groll zuziehen!“
     Garrus erwiderte die Blicke der Anderen ebenso wütend, senkte dann aber schließlich sein Schwert und steckte es weg.


„Ich habe nicht vor, mich mit euch anzulegen, denn ihr habt nichts getan“, erklärte er grimmig. Sein Blick wanderte zu Griswold, der darunter zusammenzuckte. „Aber wenn ich dich das nächste Mal allein antreffe, werde ich dich töten. Egal, wessen Zorn ich mir dabei zuziehe!“
     Er drehte ab, ging an den Rand der Versammlung zurück, und Nyota, die die Szene schon die ganze Zeit über gebannt beobachtet hatte, rückte sofort zu ihm auf.


Doch obwohl Garrus die Waffen gestreckt hatte, blieb die Stimmung angespannt. Es half auch nicht, dass Griswold nun den letzten Rest seines Stolzes zusammenkratzte, herrisch seine Frau zu sich rief und von ihr begleitet die Runde verließ. Greta sah überaus unbehaglich aus, aber niemand hielt sie auf.


Malah jedoch wusste, dass sie ihn nicht so einfach gehen lassen konnte. Die Stimmung zwischen ihnen und den Nachbarn war schon immer schwierig gewesen, um es milde auszudrücken, und es würde nicht besser werden, wenn Griswold und Greta sich jetzt von allen anderen im Stich gelassen fühlten und sich weiter zurückzogen. Zumal sie Zusammenhalt momentan dringender brauchten denn je.
     Also wandte sie sich an die Verbliebenen und erklärte, den beiden nachgehen zu wollen.


Sie wartete noch das Nicken der anderen beiden Oberhäupter ab, bevor sie ging. Tann brauchte sie gar nicht daran zu erinnern, sich jemand Kräftigen mitzunehmen, da Alek ganz allein an ihre Seite trottete, was ihn zumindest ein bisschen beruhigte. Er sah es nie gerne, wenn Malah allein mit dem aufbrausenden Griswold zu tun hatte, aber er konnte schlecht dauernd danebenstehen und den Aufpasser mimen. Er wollte ihre Autorität als Stammesführerin schließlich nicht untergraben.


Trotzdem ließen sich die Sorgen um seine Enkelin niemals gänzlich abschütteln, sodass er sich nun dazu zwingen musste, sich dem Zurückgekehrten zuzuwenden, um sich davon abzulenken.
     „Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt, Lu.“
     „Entschuldigt. Das war nicht meine Absicht.“
     Tann legte ihm eine Hand auf die Schulter, lächelte beschwichtigend. „Es ist gut, dass du wieder da bist, mein Freund. Wir haben uns Sorgen um dich gemacht.“
     Lu erwiderte das Lächeln scheu, dann umarmten sich die alten Freunde kurz.
     „Lasst euch nicht von mir aufhalten“, sagte er danach in die Runde. „Wir können später reden, Tann.“


Er wollte wieder an seinen Platz gehen, aber Tenn hielt ihn auf und fragte ihn: „Ehemaliger Schamane vom Uruk-Stamm, du bist derjenige, von dem ich hörte, er sei in Sklaverei geraten. Ist das richtig?“
     Lu blieb zögerlich stehen. Als er jedoch in die Runde sah, war sein Blick wieder fest. Er war es gewohnt, vor Versammlungen zu stehen. „Das stimmt. Aber ich bin es nicht länger. Ich wurde freigelassen.“
     „Ich… weiß nicht, ob du auf dem Laufenden bist…“
     „Das bin ich.“
     „Meine Frau, Roah, wir haben die Vermutung, dass sie dein Schicksal vielleicht geteilt haben könnte. Hast du sie zufällig gesehen?“
     „Es tut mir leid, aber das habe ich nicht“, erwiderte Lu mitfühlend.


„Es ist irrsinnig, anzunehmen, dass wir sie gesehen hätten“, mischte sich Wulf einfach ein. „Die Welt da draußen ist groß und es gibt zig Sklavenmärkte.“
     „Du! Was weißt du darüber?“
     „Mehr, als mir lieb ist. Ich hab genug davon gesehen, um euch zu sagen, dass es irre schwierig ist, jemanden zu finden, der in die Sklaverei geraten ist. Vor allen Dingen, wenn du nicht weißt, wo genau derjenige verkauft wurde.“


„Seid ihr euch denn überhaupt sicher, dass Sklavenjäger sie entführt haben?“, hakte Lu nach. „Ich weiß ja nicht, warum Sklavenjäger ausgerechnet hierher kommen und eine einzige Person entführen sollten.“
     Wulf verkniff es sich, anzumerken, dass es genau das war, das Lu selber widerfahren war.
     „Hat Roah denn Kontakt zu zwielichtigen Leuten gehabt?“, fragte der ehemalige Schamane weiter. „Oder hat sie sich irgendwo Feinde gemacht?“
     „Nicht, dass ich wüsste“, antwortete Tenn bitter, bevor er resigniert seufzte. „Aber wo soll sie denn sonst sein? Wir haben nirgends ein Zeichen von ihr oder… ihrer Leiche gefunden. Sie muss entführt worden sein!“
     „Es tut mir leid, Tenn, dass wir dir nicht helfen können.“


Einen Moment lang war es danach ruhig, bevor der Andere sich wieder fasste und erklärte: „Gut, dann müssen wir eben nach ihr suchen gehen. Ich möchte hiermit verkünden, dass ich den Zoth-Stamm auflöse und Wanda und ich die Gegend verlassen werden, um nach Roah zu suchen.“
     „Ihr wollt den Stamm auflösen?“, rutschte es Tann überrascht heraus.
     „Ja. Wenn wir ehrlich sind, war er sowieso schon längst nicht mehr würdig, die Bezeichnung „Stamm“ zu tragen. Und da Nio demnächst zu den Blums ziehen wird und Nefera auch weggegangen ist, sind wir ohnehin nur noch zu zweit.“
     „Du und Wanda können auch gern zu uns kommen, und ich schicke jemanden los, um Roah zu suchen“, bot Reinard an.           


„Danke, aber nein“, lehnte Tenn ab. „Ihr habt schließlich schon Kundschafter losgeschickt, du und vor allen Dingen Malah, aber es hat nichts gebracht. Roah ist nicht mehr in der Nähe, und ich kann nicht einfach untätig bleiben, wenn sie in Gefahr ist. Aber Wanda, wenn du möchtest, kannst du gerne bei ihnen bleiben.“
     „Ich möchte gerne mit dir kommen, um nach meiner kleinen Roah zu suchen, doch ich fürchte, dass ich dir nur ein Klotz am Bein sein werde“, meinte Wanda entschuldigend. „Ich würde mich deshalb freuen, wenn ich zu euch kommen könnte, Reinard.“
     Der Anführer des Ahn-Stammes nickte, und Tann und auch Jana verpassten den Moment, um Wanda dasselbe anzubieten.


Kurz darauf traute sich die Sonne ein bisschen hinter den Wolken hervor, und während sich die beiden Oberhäupter zu Gesprächen zurückzogen und der Rest sich dem Festfeiern zuwandte, feierte Lu ein herzliches Wiedersehen mit den anderen Mitgliedern seines Stammes. Er wurde hier gedrückt, hatte da eine Hand auf der Schulter und durfte sich mindestens fünfmal anhören, wie grau er geworden war.
     Vor allen Dingen Jana war so erleichtert, ihn wiederzusehen, dass sie ihn stürmisch umarmte und sich danach tatsächlich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel wischen musste.


Und dann stand plötzlich Luis vor ihm. „Du bist zurück, Vater. Ich habe es schon gestern gesehen, dass du ankommen wirst.“
     Wofür Jana ihn in die Seite boxte. „Was? Warum hast du nichts gesagt?“
     „Weil du mich gezwungen hast, die Schamanentracht zu tragen, obwohl ich kein Schamane bin“, gab er ebenso angriffslustig grinsend zurück.
     Doch Jana ließ sich überraschenderweise nicht davon anstecken. Mit erhobenem Zeigefinger und in belehrendem Ton sagte sie: „Du bist unser Seher! Die Leute kommen von überall her für deinen Rat! Also musst du auch was Besonderes tragen, damit man das sieht!“


Luis quittierte das mit einem schiefen Lächeln, während Lu mit seinen Worten zu kämpfen hatte. Er hatte seinem Sohn so viel zu sagen, aber letztendlich ging er nur, um ihn in den Arm zu nehmen, und Luis ließ das glücklicherweise zu. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er seinen Sohn überhaupt das letzte Mal umarmt hatte. Und als er es jetzt tat, fühlte er sich endlich befreit. Er fühlte sich Zuhause.


„Luis“, begann Lu danach mit Tränen in den Augen. „Ich bin so froh, dich zu sehen. Ich muss dir so viel zu sagen. Ich… es tut mir leid. Es tut mir einfach leid. Alles, was ich in der Vergangenheit versäumt habe, für dich zu tun. Ich habe so viel falsch gemacht…“
     „Entschuldige dich nicht, Vater“, wehrte Luis ein bisschen überfordert ab. „Dafür besteht kein Anlass. Es ist alles in Ordnung.“       
     Lu wusste, dass er den Kampf mit den Tränen verlieren würde, wenn er jetzt weiter redete, also schwieg er lieber.


Glücklicherweise suchte sich Malah diesen Moment aus, um zurückzukommen, und Tann, der das auch bemerkt hatte, stieß auch zu ihnen. Ganz automatisch drehte sich Lu zu ihnen, Wulf, der schon die ganze Zeit über seinen stillen Schatten spielte, hatte ebenfalls noch immer nicht den Anstand, wegzugehen. Erst, als Jana „und?“ fragte, fiel Lu auf, dass er hier eigentlich nichts mehr verloren hatte, da er nicht länger der Schamane war. Trotzdem blieb er.
     „Er hat nicht mal mit uns geredet“, berichtete Malah kopfschüttelnd. „Hat nur Alek und Leif die Schuld gegeben, dass Giselinde weg ist.“


Das war abzusehen gewesen. Als Leif auf der Versammlung aufgetaucht war und erzählt hatte, dass Giselinde und Nefera weggelaufen waren, hatte Griswold sofort ihm die Schuld dafür in die Schuhe geschoben und war auf den Jungen losgegangen.
     Es war kurz davor gewesen, in eine handfeste Auseinandersetzung auszuarten, und nur Garrus‘ Einschreiten hatte das verhindert. Der ehemalige Soldat hatte den Frieden an ihrem heiligen Treffpunkt überwachen sollen, doch überzeugt davon, dass Griswold endlich sein wahres, böses Gesicht gezeigt hatte, hatte er den Schmied gleich und auf der Stelle töten wollen.


„Tut mir leid, Malah!“, mischte sich Alek betreten ein. „Ich wollte nur helfen, indem ich der Hochzeit mit Giselinde zustimme, aber ich hab alles nur schlimmer gemacht. Ich bin echt nutzlos.“
     „Unsinn! Du siehst zu, dass du Nara holst, und dann kommst du wieder zu uns.“
     „Ihr wollt mich echt noch in eurem Stamm haben?“
     „Natürlich. Mach dir nicht immer so viele Gedanken.“
     „Malah hat recht“, pflichtete Tann seiner Enkelin bei. „Du bist bei uns immer willkommen, Alek.“
     „Ich sollte dann auch lieber wieder zu Reinard und Tenn zurückgehen“, warf Malah schnell ein, als sie sah, dass die Schuld einfach nicht aus Aleks Gesicht weichen wollte.


Sie ging also von Dannen, und ganz automatisch folgten Schamane, Seher und Alek ihr. Nach den Angriffen auf die junge Stammesführerin war Letzterer so etwas wie ihr Leibwächter geworden. Er hatte auch angefangen, Extratrainingsstunden bei Garrus zu nehmen.


Tann und Lu blieben allein zurück, schauten der nächsten Generation eine Weile schweigend nach.
     „Es ist merkwürdig, das zu sehen, nicht wahr?“, brach Lu schließlich das Schweigen. „Deine Enkelin als Stammesführer, mein Sohn als Schamane…nstellvertreter“, korrigierte er sich schnell, als ihm auffiel, dass er Luis beinahe als Schamane bezeichnet hätte. „Ich muss mich, ehrlich gesagt, noch daran gewöhnen, dass ich jetzt nichts mehr zu melden habe.“
     Tann lächelte wissend. „Man hat immerzu den Drang, sich einzumischen, Ratschläge zu erteilen und helfen zu wollen, nicht wahr?“
     „Ja.“
     „Tja, daran wirst du dich gewöhnen müssen, mein Freund. Es ist jetzt ihre Aufgabe und nicht mehr die deine.“ Tann drehte sich gänzlich zu ihm, wechselte das Thema, „Ich bin wirklich erleichtert, dass du wieder da bist. Die Nachricht, dass du verschwunden bist, hat uns ganz schön in Schrecken versetzt. Sag, wie bist du freigekommen?“


Er ließ den Blick schweifen. „Und wo hast du eigentlich Elrik, Anya und Wulfgar gelassen?“
     Ein Stich in Lus Bauch. Da war ja noch etwas gewesen.
     „Alin erzählte, dass sie nach dir gesucht haben“, fuhr Tann unbeirrt fort, als er nicht antwortete. „Vor allen Dingen Wulfgar würde ich gerne sprechen. Ich hasse es ja, ihn gleich um so etwas bitten zu müssen, nachdem er gerade erst wieder Zuhause ist, aber er kennt sich da draußen gut aus. Ich würde ihn gerne bitten, Tenn zumindest eine Weile zu begleiten.“
     Erneut musste Lu erst einmal tief durchatmen, bevor er antworten konnte. Jetzt war es soweit. Er würde nicht mehr darum herum kommen, zu erzählen, was geschehen war.
     „Tann, ich möchte dich bitten, alle vom Stamm zusammenzurufen. Ich muss etwas erzählen.“


So kam es, dass sich kurz darauf, nachdem auch Malah endlich ihre Unterredung mit Reinard und Tenn beendet hatte, (beinahe) der gesamte Uruk-Stamm in einer Ecke vor Lu versammelt hatte, der sich mehr als nur unbehaglich vorkam, jetzt erzählen zu müssen, was er lieber nicht erzählen wollte.
     „Zuerst einmal habe ich eine Nachricht von Elrik und Anya.“


„Sie haben da drüben eine gute Stelle auf einem Hof gefunden und fühlen sich dort ziemlich wohl. Deshalb haben sie beschlossen, erst nächstes Frühjahr nachzukommen.“
     Wie Lu es einschätzte, wollten sie vor allen Dingen ihre Zweisamkeit genießen. So ausgelassen und befreit, wie die beiden ausgesehen hatten, als Lu sie das letzte Mal gesehen hatte, konnte er sich auch gut vorstellen, dass sie für immer dort bleiben würden.


„Und was Wulfgar angeht…“, fuhr er nervös fort. „Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, wo genau er gerade ist. Er wollte ein paar entflohenen Sklaven helfen, nach Hause zu kommen, bevor er wieder herkommt. Doch ich weiß nicht, ob er danach überhaupt plant, hierzubleiben, weil… ich ihn darum gebeten habe, dass wir von nun an getrennte Wege gehen.“
     Er musste es erzählen. Er hatte lange darüber nachgedacht, es einfach für sich zu behalten, aber er war es Wulfgar schuldig, zu sagen, wie es war. Dass er Schuld daran hatte, dass sein ehemaliger Gefährte vielleicht nicht hierbleiben würde.


Nach seiner Offenbarung war es erst einmal still. Die meisten Leute wussten scheinbar nicht, was sie dazu sagen sollten, aber eigentlich war auch alles gesagt, also schwieg er ebenfalls.
     Er sah, wie sich der Schrecken auf Lulus Gesicht breit machte, wie Leif das nicht guthieß, aber auch diese beiden blieben still. Im Gegensatz zu Isaac, der sich nun nach vorn drängte.


„Soll das heißen, du weißt gar nicht, wann er wieder herkommen wird?“, fragte er verständnislos. „Wird er überhaupt wieder herkommen?“
     „Nein… also, ja, er wollte wieder herkommen. Aber ich weiß nicht, wann das sein wird.“
     Da starrte auch Isaac ihn an. Einen Moment glaubte Lu, so etwas wie Schrecken in dessen Augen zu sehen, doch dann wandte er sich ab und ging einfach davon.


Lu brauchte Wulf gar nicht anzusehen, um zu wissen, dass da Unmut in seinem Gesicht zu sehen war. Er wusste ja, wie sehr ihm die angebliche Besessenheit seines Vaters von Wulfgar gegen den Strich ging. Und wenn Lu Isaac so ansah, konnte er das ein bisschen verstehen. Vielleicht war ja wirklich mehr an der Sache dran, als er geglaubt hatte.


Bevor aber auch nur irgendjemand anderes noch etwas dazu sagen konnte, tauchte Eris auf und lenkte alle mit ihrem spitzen Freudenschrei ab. Sie hatte ihr Zimmer seit Tagen nicht mehr verlassen, doch als sie jetzt den verloren geglaubten Wulf sah, hellte sich ihr Gesicht auf, das umwölkt war, seitdem sie mit Wotan zusammengelegen hatte.  
     „Wulf!“
     „Oh, Scheiße!“


Er kam nicht schnell genug weg und hatte die aufdringliche Cousine im nächsten Moment um den Hals hängen. Sie flüsterte ein paar unverständliche Worte und vergoss tatsächlich ein paar Tränen, bevor sie sich wieder von ihm löste und über ihn hereinbrach.

Die nächste Zeit redete sie vorwurfsvoll und laut auf ihn ein, während Wulf nichts anderes tun konnte, als die Standpauke wortlos über sich ergehen zu lassen und darüber froh zu sein, dass niemand hier sie verstehen konnte. Es war ein bisschen, wie nach Hause zu kommen, kam es ihm vor.
 ______________________

Hier geht's zum zweiten Teil -> Kapitel 119.2

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen