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Mittwoch, 8. Juli 2020

Kapitel 118 - Der erste Schnee


Es war bereits später Nachmittag, bis endlich alle beim vereinbarten Treffpunkt auf dem Uruk-Hof erschienen waren. Der Großteil der Bewaffneten bestand aus den Bewohnern ebenjenes Hofes, ein paar wenigen Leuten von den anderen beiden Stämmen, und da Malah auch Kunde zu den örtlichen Familien geschickt hatte, hatten sich Hilfswillige aus der gesamten Gegend eingefunden.
     Ihre kleine Streitmacht war zwar recht anschaulich, aber die meisten von ihnen hatten vor diesem Tag kaum je eine Waffe in der Hand gehalten, weshalb es fraglich war, ob sie gegen eine Gruppe Banditen ankommen würden, die ihr täglich Brot damit verdienten.
     Malah war deshalb ziemlich besorgt, und sie war verärgert, dass sie aufgrund ihrer Verletzung nicht mitgehen konnte, auch wenn sie ihren Unmut natürlich nicht zeigte. Sie hoffte nur, dass auch ohne sie alles glatt gehen würde und die Räuber sich vielleicht schon würden verjagen lassen, wenn sie sahen, dass sie in der Unterzahl waren. Laut Garrus und Wotan sollten sie es zumindest mit nicht mehr als zehn Leuten zu tun bekommen.  


Als hätten ihre Gedanken ihn heraufbeschworen, sah sie den ehemaligen Soldaten plötzlich auf dem Hof auftauchen, Nyota wie einen Schatten hinter sich. Wahrscheinlich war es auf deren Mist gewachsen, dass er jetzt hier war, mutmaßte Malah.
    Er bezog neben ihr Aufstellung und erklärte in seinem gewohnt unfreundlichen Tonfall knapp: „Die Räuber sind fort.“
     „Fort? Was meinst du mit fort?“, fragte Malah ihn.
     „Wie ich es sage: Sie sind weg, ihr Lager ist verlassen.“     
     „Seit wann?“    
     „Woher soll ich das wissen? Gestern Abend bei meiner Patrouille waren sie jedenfalls noch da; ich und der Junge haben auch beinahe die ganze Nacht über den Feuerschein in ihrem Lager gesehen, aber als es gegen Morgen dunkel wurde und wir hin sind, um nachzusehen, war ihr Lager verlassen.“


Während Wotan seine Wache fortgesetzt hatte, für den Fall, dass sie zurückkommen würden, hatte Garrus die gesamte Gegend abgesucht, aber nichts und niemanden gefunden. 
     Und tatsächlich konnten sie sich alle kurz darauf auch selber davon überzeugen, dass das Lager der Räuber abgebrochen war. Außer einer behelfsmäßigen Palisade, einem ausgebrannten Lagerfeuer, Abfall und zertretener Erde hatten sie nichts zurückgelassen.
     Die vereinte Streitmacht konnte nichts tun, außer ein paar Kundschafter hinterherzuschicken und zurück nach Hause zu gehen. Von den Verschwunden fehlte nach wie vor jede Spur.


Und Nila wurde nur noch mehr verdächtigt, als davor schon.


Da Tann schon bemerkt hatte, dass es Malah sehr schwer gefallen war, die Führung über die ganze Sache abzugeben und sie jetzt auch noch jegliche Spur zu den Verschwundenen verloren hatten, hatte er es ihr überlassen, sich mit den anderen beiden Stammesführern über ihr weiteres Vorgehen zu beraten. 
     Er hingegen war gegangen, um sich den Ort von Roahs Verschwinden einmal näher anzusehen, was er bislang versäumt hatte zu tun. Und da Isaac ein überaus neugieriger Geselle war und er momentan nicht nur seine Tochter vermisste, sondern auch nichts zu tun hatte, hatte er sich dazu entschlossen, Tann dabei Gesellschaft zu leisten.


Der Platz, an dem sie sich am Morgen noch versammelt hatten, war inzwischen dunkel und verlassen. Laut Malah hatte Roah sich genau dort mit ihr treffen wollen, aber die junge Stammesführerin hatte es nicht einmal bis dorthin geschafft, bevor sie niedergeschlagen worden war.
     Tann erhoffte sich nicht viel davon, hier nach Anhaltspunkten zu suchen, doch sie trennten sich trotzdem, und nachdem sie den See einmal in entgegengesetzter Richtung umrundet hatten, fanden sie schließlich an ihrem Ausgangspunkt wieder zusammen.


„Und? Was gefunden?“, fragte Isaac ihn nicht sehr hoffnungsvoll.
     „Nein, leider nicht. Aber das war ja auch zu erwarten gewesen. Die Anderen haben hier schließlich schon alles abgesucht.“ Tann seufzte schwer. „Ich hoffe nur, dass du recht hast und sie einfach alle von hier fortgegangen sind. Auch wenn ich das bei Roah leider nicht glaube. Doch die Vorstellung, dass sie Räubern in die Hände gefallen sind...“
     Er sprach es nicht aus, schüttelte nur den Kopf, und auch Isaac sagte nichts dazu. Sein Blick schweifte ab, kehrte woanders hin, also fragte Tann ihn: „Was ist eigentlich mit dir? Machst du dir keine Sorgen um deine Tochter?“
     „Oh doch, natürlich! Aber ich bin mir einfach sehr sicher, dass Mari nur ausgebüxt ist. Das hat sie in der Vergangenheit schließlich schon öfter getan.“ Sein Blick ging erneut an ihm vorbei in die Ferne. „Manchmal ist sie monatelang fortgewesen, ohne dass jemand wusste, wo sie war. Aber sie ist immer gesund und munter zurückgekehrt.“ Er sah ihn wieder an, lächelte gequält. „Ich schätze, ich habe mich einfach daran gewöhnt, dass sie öfter fort ist als Zuhause. Ich kann sie ja auch verstehen. Ihren Freiheitsdrang. Deshalb habe ich nie versucht, sie aufzuhalten.“
     „Ich glaube, ich würde verrückt vor Sorge werden, wenn meine Tochter plötzlich weg wäre.“


Sein Gegenüber schmunzelte bitter. „Ja, ich weiß, was du meinst. So geht es mir, ironischerweise, bei meinem Sohn. Er war noch nie allein unterwegs, und ich habe eine wahnsinnige Angst, dass ihm etwas zustößt. Obwohl er erwachsen ist und viel stärker als ich selber. Verrückt, nicht wahr?“
     „Man hört eben nie auf, sich Sorgen um seine Kinder zu machen. Egal, wie alt sie auch sind. Die Sorgen verändern sich vielleicht mit der Zeit, aber wir können wohl einfach nicht aufhören sie… naja, als Kinder zu sehen. Ihnen helfen zu wollen.“
     „Da hast du wohl recht. Ich wünschte nur, ich könnte jetzt, da der Wind endlich gedreht hat, losfahren, um ihn zu suchen, aber nun ist Mari ja fort. Und ich kann schlecht weggehen, bis sie nicht wieder hergekommen ist. Bis ich nicht wenigstens weiß, wo sie ist…“


Er wollte noch mehr sagen, aber in diesem Moment wurde er auf etwas aufmerksam und verstummte. Leise und unbemerkt hatte es tatsächlich angefangen zu schneien.
     „Beim Schöpfer! Da fällt Asche vom Himmel!“, rief er alarmiert. „Habt ihr hier etwa einen Vulkan in der Nähe?“
     Tann brauchte erstmal eine Weile, bis er das Lachen wieder einstellen konnte. „Das ist doch keine Asche, das ist nur Schnee“, erklärte er schließlich und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Was ist eigentlich ein Vulkan?“


Doch Isaac hörte ihm nicht mehr zu. Er versuchte stattdessen, eine Schneeflocke mit der Hand zu fangen, die jedoch sofort in seiner Handfläche dahinschmolz. Also versuchte er, eine zweite zu erhaschen und beobachtete fasziniert, wie auch sie sofort wieder verschwand.
     „Das ist Schnee?“, fragte er aufgeregt. „Wulfgar hat mir einmal davon erzählt, dass bei ihm Zuhause manchmal überall kalter Regen vom Himmel fällt und die ganze Landschaft weiß färbt.“
     „Ja, das ist Schnee. Allerdings ein bisschen früh dieses Jahr.“
     Tann nahm den Blick von dem Anderen und sah besorgt zum Himmel hinauf. Hoffentlich würde das kein harter Winter werden. Sie hatten das ganze Jahr über schon genug Pech mit dem Wetter gehabt. 


Er wurde jedoch von seinen Sorgen abgelenkt, als er bemerkte, dass Isaac weiterhin Schneeflocken fing. Seine Augen leuchteten dabei wie bei einem kleinen Kind, das gerade zum ersten Mal in seinem Leben Schnee sah.
     „Schneit es bei dir Zuhause etwa nicht?“, fragte Tann nach.
     „Nein. Wo ich herkomme, ist es das ganze Jahr über sehr warm. Es regnet nur. Als Kind habe ich einmal etwas ähnliches wie das hier gesehen. Aber es waren damals ganz harte Kugeln, die vom Himmel fielen. Unser Dorfältester nannte es Hagel, und er erzählte, dass er selbst auch nur von seinen Eltern davon gehört, aber nie zuvor selber welchen gesehen habe.“  
     „Ein ewiger Sommer. Hört sich ja himmlisch an.“
     „Für dich vielleicht, aber mir gefällt es hier viel besser.“


„Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen“, meinte Tann verständnislos. „Seitdem du hier bist, hattest du auch noch das Pech, nur Dauerregen, grauen Himmel und kahle Bäume zu sehen. Herbst und Winter sind nicht gerade die schönsten Jahreszeiten.“
      „Machst du Witze? Das ist doch kein Regen! Bei mir Zuhause regnet es zweimal im Jahr wochenlang ununterbrochen. Es ist immerzu feucht, heiß und fürchterlich laut. Hier ist das nicht so.“ 
     Er ließ den Blick schweifen und ein zufriedener Ausdruck legte sich dabei auf sein Gesicht. „Hier ist es so ruhig und friedlich. Als würde alles schlafen. Die Bäume haben bunte Blätter, die sie abwerfen! Ich habe noch niemals etwas so Wunderbares gesehen! Und der Schnee! Ich kann gar nicht abwarten, zu sehen, wie es aussieht, wenn er den ganzen Boden bedeckt! Ich hoffe nur, dass es nicht noch kälter wird. Die Kälte vertrage ich leider nicht so gut, muss ich gestehen. Meine Haut juckt auch ganz fürchterlich davon.“


Zum Beweis kratzte er sich erstmal ausgiebig, während Tann über seine Worte nachdachte. Er hatte noch nie zuvor über die Schönheit der verschiedenen Jahreszeiten nachgedacht. Für ihn war das hier alles alltäglich, und auch jetzt machte er sich höchstens Sorgen, dass der frühe Schnee ihre letzte Ernte vernichten könnte. 
     Dennoch war die Freude des Anderen irgendwie ansteckend, seine Art, die Dinge zu betrachten, erfrischend.
     „Tja, ich muss dir sagen, dass du dich dann mal lieber warm einpacken solltest, weil der Winter noch viel kälter werden wird“, offenbarte er dem schon jetzt mächtig Frierenden.
     „Noch kälter?“
     Als Tann nickte, stöhnte Isaac und wandte sich ab, dem See zu. Und dabei kam ihm etwas in den Sinn.


„Sag mal, hat man im See eigentlich schon nach den Verschwundenen gesucht?“
     Tann trat an seine Seite. „Na ich hoffe doch nicht, dass jemand tot dort unten liegt. Aber nein, es hat noch niemand nachgeschaut. Das ist doch viel zu kalt. Da holt man sich ja den Tod.“
      Isaac sah ihn mit gefurchter Stirn an, was ihn ein bisschen irritierte, und das noch mehr, als sich jetzt plötzlich ein Grinsen auf sein Gesicht stahl. Im nächsten Moment hatte er sich sein Gewand über den Kopf gezogen. Das lange Haar stand einen Moment protestierend von seinem Kopf ab, schmiegte sich dann aber wieder an sein Gesicht.
     „Du…. hast doch nicht etwa vor, da reinzugehen?“
     „Manchmal muss man etwas wagen, um etwas zu gewinnen, ist mein Motto.“


Er zog sich jetzt auch noch Hose und Schuhe aus, Band sich das Haar zu einem Zopf, und schon anhand seines Gesichtes konnte Tann sehen, dass es überaus kalt war.
     „Mach das nicht! Du wirst nur erfrieren!“


Doch Isaac stapfte tapfer zum See hinüber. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, sprang er mit dem Kopf voraus in die kalten Fluten. Tann erstarrte, und er überlegte tatsächlich einen Moment lang, nachzuspringen, als der Todesmutige nicht wieder auftauchte.


Doch da brach der Kopf des verrückten Fremden schließlich durch die Wasseroberfläche, um nach Luft zu schnappen und dann wieder abzutauchen. Und Tann konnte nichts anderes tun, als ihm verdutzt dabei zuzusehen.


Aber irgendwie beeindruckte ihn dieser Wagemut auch. Und es forderte ihn heraus. Er konnte sich nicht einmal erinnern, wann er sich das letzte Mal herausgefordert gefühlt hatte, aber das konnte er nicht so einfach auf sich sitzen lassen. Er war schließlich Tann, der ehemalige Stammesführer des Uruk-Stammes, und niemand hatte ihm jemals Feigheit vorwerfen können.


Entgegen besseren Wissens hatte er sich also kurz darauf ebenfalls seiner Sachen entledigt und war Isaac ins überaus saukalte Nass gefolgt. Er bereute es beinahe augenblicklich, da es sich anfühlte, als wäre er in den Griff einer riesigen Schraubzwinge geraten, aber natürlich machte er keinen Rückzieher. Nachdem Rahn einmal beinahe ertrunken war, als er Diana gerettet hatte, hatten er und einige andere inzwischen glücklicherweise von Wulfgar das Schwimmen gelernt.
     Er tauchte also tapfer ab, suchte die gräuliche Umgebung und das Dunkel unter sich genauestens ab, was sich als überaus schwierig herausstellte, weil das Wasser nicht nur trübe war von aufgewirbeltem Schlamm, sondern die Sonne bereits vor einer Weile hinter dicken Wolken verschwunden war.


Am Ende war deshalb alles, was sie erreichten, sich eine böse Unterkühlung zuzuziehen. Da das Wirtshaus näher lag, kehrten sie heftig zitternd dorthin ein. Isaac lud ihn zu sich aufs Zimmer, das er mit seiner Nichte teilte, die momentan friedlich in ihrem Bett schlummerte.
     Tann wollte sich auch nicht vor den Anderen erklären müssen, warum er so etwas Dämliches tat, wie im nahenden Winter in einem See baden zu gehen. Also saß er noch eine Weile länger mit Isaac zusammen und hielt seine klammen Finger in ausreichender Entfernung über das wärmende Feuer, das ihn trotzdem fleißig zu verbrennen versuchte. 


„Das war ziemlich dumm von uns, sowas zu machen“, sagte er schließlich, als er so weit wieder aufgetaut war, dass seine Worte nicht mehr nur aus Zähneklappern bestanden. „Auch wenn wir nicht erfroren sind, werden wir noch an einer Erkältung eingehen.“
     Isaac grinste. Seine Lippen, die zuvor noch einen gefährlich violetten Ton gehabt hatten, nahmen langsam wieder ihre normale Farbe an. Er war wesentlich länger als Tann im Wasser gewesen.
      „Ach, mich bekommt nichts so schnell klein. Ich habe schon so einiges überlebt, und du siehst mir auch ziemlich stabil aus“, erklärte er und nickte Tann anerkennend zu. „Aber das war ziemlich beeindruckend, dass du tatsächlich mitgemacht hast.“
     Dabei fand Tann es eher beeindruckend, dass Isaac das in erster Linie getan hatte. Dass er so wagemutig gewesen war und nicht eine Sekunde gezögert hatte, etwas zu tun, an was er nicht einmal im Traum gedacht hatte, zu tun. Und egal, wie dumm es letztendlich gewesen war, es war irgendwie auch aufregend gewesen, so etwas Verrücktes zu machen.


„Aber das solltest du nicht noch einmal tun. Die Dummheiten mitmachen, die ich begehe, meine ich. Ich neige zu unüberlegten Handlungen, musst du wissen.“ Er nahm den Blick von ihm, sah ins Feuer hinab, das sich in seinen dunklen Augen zu spiegeln begann. „Immerhin wissen wir jetzt wenigstens, dass niemand tot in diesem See liegt.“
     „Ja, immerhin...“
     Als jetzt auch Isaac nichts mehr sagte, verbrachten sie die nächste Zeit schweigend nebeneinander in dem Versuch, wieder Gefühl in ihre tauben Finger zu bekommen.


Malah, die beiden anderen Stammesführer und Griswold debattierten bis zum Abend, was sie wegen der verschwundenen Räuber und vor allen wegen der verschwundenen Leute unternehmen sollten, und die Debatte endete – wie gewöhnlich – ergebnislos. 
     Sollten sie den Räubern nachgehen? Aktiv nach den Verschwundenen suchen? Und wenn ja, wen sollten sie auf diese gefährliche Mission schicken? Oder sollten sie doch lieber erstmal den Winter abwarten? Es gab zu viele unterschiedliche Meinungen, also hatte man sich dazu entschlossen, auf die rückkehrenden Kundschafter zu warten und die Probleme bis morgen zu vertagen – mal wieder.


‚Immerhin hat Jana alle von ihrem großen Opferfest für die Götter überzeugen können, mit dem sie mir schon seit Ewigkeiten in den Ohren liegt. Vielleicht helfen uns die Götter dann ja endlich mal‘, dachte Malah am Abend müde, während sie den Heimkehrenden von auswärts beim Gehen zusah. ‚Ach, ich sollte lieber auf Alek hören und nicht so pessimistisch sein. Am Ende trifft mich noch der Blitz, wenn ich sowas undankbares denke. Ich muss optimistischer sein, schon allein, um ein gutes Vorbild für die Anderen zu sein.‘
     Sie beschloss, nach drinnen zu gehen, der Kälte in ihr schönes warmes Bett zu entfliehen – es gefiel ihr nicht, das zuzugeben, aber die Verletzung schlauchte sie mehr als gedacht – als sie sich plötzlich und unvermittelt Reinard gegenübersah. Ausgerechnet!


Sie erschrak, fluchte innerlich ein bisschen, zeigte ihm aber ihr gewohnt freundliches Lächeln. Blöderweise tat ihr jedoch nicht einfach den Gefallen, zu verschwinden.
     „Wolltest du noch etwas von mir?“, fragte sie, als er nichts sagte, sie nur merkwürdig anstarrte, dass ihr es ihr ein bisschen komisch wurde.
     „Malah“, fing er ernst an, „gibt es vielleicht etwas, das du mir sagen willst?“
     „Ich wüsste nicht, was.“
     „Du kannst mir ruhig sagen, wenn du doch etwas über das Verschwinden der Leute weißt.“
     „Ich weiß aber nichts darüber“, gab sie reserviert zurück. „Das habe ich doch bereits gesagt.“


„Sei nicht beleidigt. Ich möchte nur, dass du weißt, dass du mir alles sagen kannst. Ich höre dir zu und werde dir helfen. Ich sage es auch keinem. Wir müssen doch zusammenhalten, wir beide, du und ich. So wie damals, als wir Kinder waren, nicht wahr?“ 
     Dass da jetzt plötzlich ein ehrliches Lächeln bei ihm erschien, das sie nicht deuten konnte, und das, obwohl sie ihn vorher noch nie wirklich hatte lächeln sehen, irritierte sie so sehr, dass sie einen ganzen Moment brauchte, ehe sie: „Was meinst du?“, erwidern konnte.


Wieder ein komischer Ausdruck auf seinem Gesicht, von dem sie befürchtete, dass es Ärger war. Hoffentlich hatte sie ihn nicht irgendwie beleidigt.
     „Nichts“, erwiderte er so distanziert wie immer. „Ich wollte dir nur meine Hilfe anbieten, das war alles. Aber wenn du sagst, du weißt nichts über Roah oder die Anderen, dann will ich dir glauben.“


Er sagte nichts weiter, drehte ab und ließ sie stehen. Doch Malah hatte das unweigerliche Gefühl, dass sie gerade etwas fürchterlich Falsches gesagt hatte und dass das Schwierigkeiten bedeuten würde.  


Isaac war unterwegs durch die Nacht und er war so sauer, dass er nicht einmal den Schnee würdigen konnte, der die Welt um ihn herum inzwischen in ein seichtes Weiß getaucht hatte. Er war sauer auf sich selber, dass er es nicht bemerkt hatte, und vor allen Dingen war er sauer auf den ehrlosen Jungen, der seine Nichte derart schändlich behandelt hatte.


Nachdem Tann vor ein paar Stunden nach Hause gegangen war, hatte er sich zum Schlafen hingelegt gehabt, aber da er nicht hatte einschlafen können – mal wieder – hatte er mitbekommen, wie Eris aufgestanden war und zu Weinen angefangen hatte.
     Sie war die letzten Tage schon so unheimlich ruhig gewesen, hatte kaum je ihr Zimmer verlassen und war ihm aus dem Weg gegangen, aber er hatte gedacht, dass sie sich schämen würde für das, was sie ihm an jenem Tag, als die junge Malah niedergeschlagen worden war, gezwungen gewesen war, zu offenbaren.
      Doch als er schließlich die Tränen gesehen hatte, die sie bislang vor ihm versteckt hatte, hatte er gewusst, dass er ihr Unrecht getan hatte. Da hatte es ihrer Erklärung gar nicht mehr bedurft; er hatte sofort gewusst, was wirklich geschehen war, und er hatte sich – zu Recht – hundeelend deswegen gefühlt. Denn er hatte seine Pflicht vernachlässigt und nicht auf sie aufgepasst.


Er fand den Jungen dort, wo der Händler vom Handelsposten ihm gesagt hatte, dass er sich vermutlich aufhalten würde: Oben am Talausgang, wo sie vor einigen Stunden erst an dem provisorischen Wachposten vorbeigekommen waren, an dem auch jetzt noch immer zwei Wache hielten. 
     Neben dem Älteren in der Rüstung, den er heute schon gesehen hatte, saß ein deutlich Jüngerer. Beide bemerkten ihn noch, bevor er aus dem Schatten in den Feuerschein getreten war.
     „Wer von euch beiden ist Wotan?“, fragte er direkt, und als der Ältere zum Jüngeren sah, wusste er, dass der es gewesen war.
     „Ich bin das. Was willst du von mir?“
     Isaac deutete ihm, zu folgen, dass sie unter vier Augen sprechen konnten. Er wollte schließlich nicht, dass mehr als nötig von dieser unseligen Sache erfuhren. Das war sicherlich auch in Eris‘ Sinne.


Sie gingen ein Stück in die Nacht hinein, dann hielt er wieder an, sah dem Jüngeren ernst in die Augen und sagte: „Ich bin Isaac und ich bin der Onkel von Eris, der gegenüber du dich schändlich und ehrlos verhalten hast. Als ihr nächster Verwandter ist es deshalb meine Pflicht, dich an die deine zu erinnern.“
     „Hä?“, machte Wotan nur.
     „Du hast mit ihr das Lager geteilt, also musst du sie zur Frau nehmen.“


Der Andere brach daraufhin in Gelächter aus, und da wusste Isaac sofort, mit welcher Art Mann er es hier zu tun hatte. Einer jener, die logen und betrogen, um zu bekommen, was sie wollten, und die mit den Herzen von Frauen spielten. Er konnte solche Männer auf den Tod nicht ausstehen.


„Hör mal, das war ein kleines Missverständnis zwischen ihr und mir. Sie hat mich wohl nicht ganz verstanden, aber ich habe ihr von Anfang an gesagt, was ich von ihr wollte.“
     „Selbst wenn es ein Missverständnis war, ist es nur richtig, dass du nun für deine Taten geradestehst und sie zur Frau nimmst, wie es die Pflicht eines ordentlichen, ehrbaren Mannes ist“, erwiderte der Ältere verständnislos, obwohl er wusste, dass seine Worte auf taube Ohren stoßen würden.
     „Jaah… nein“, gab der Andere zurück, zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. „Das wird nicht passieren.“


Isaac streckte die Hände zum Himmel. „Dann verfluche ich dich, auf dass dein Samen niemals sprießen wird, bis du zu deinen Taten stehen wirst!“
     Das schien den Ehrlosen nicht nur immer noch ziemlich kalt zu lassen, sondern auch zu amüsieren. Aber Isaac war noch nicht fertig mit ihm.


„Und sollte Eris deine Leibesfrucht in sich tragen, werde ich dich jagen, bis ich dich finde, und ihr Kind von der Schande eines ehrlosen Vaters befreien. Ich werde nicht ruhen, bis ich dich getötet habe. So, wie es meine Aufgabe als Familienoberhaupt ist. So, wie du es verdienst, da du Schande über dich und unsere Familie gebracht hast.“
     Der Junge antwortete ihm nicht, sah ihn nur an, als hätte er den Verstand verloren. Aber Isaac meinte todernst, was er gesagt hatte, und er hatte dem nichts hinzuzufügen.


Also drehte er ab, ließ den verdutzten Jungen stehen, der ihn nicht ernst nahm.
     Er war so sauer. Sauer auf sich und den Jungen, und er hoffte nur, dass Eris wenigstens die Schande einer Schwangerschaft erspart blieb. Dass sie kein Kind würde zur Welt bringen müssen, dass mit dem Makel des Vaters geboren würde, auch wenn er alles tun würde, um das in Ordnung zu bringen. So, wie er es schon immer getan hatte. So, wie er es schon sein ganzes Leben lang versteckte, damit es nicht auch seine Kinder befiel, obwohl es ihn letztendlich selber zu einem Lügner und damit zu etwas machte, dass er zutiefst verabscheute.
     Er hoffte inständig, dass sich wenigstens etwas zum Guten wenden würde in dieser Zeit, in der das Unglück sie alle zu verfolgen schien wie ein gnadenloser Rächer.
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Hier weiterlesen -> Kapitel 119 

Da ich (wie einige vielleicht mitbekommen haben mögen) gerade unter einer ziemlichen Schreibflaute leide, hatte ich eigentlich geplant, hier erstmal zu pausieren, habe mich dann jedoch dagegen entschieden (ich hoffe nur, dass man es nicht an der Qualität merkt). Jedenfalls war geplant, das nächste Kapitel, das mindestens ein Zweiteiler werden wird, an einem Stück nach der Pause zu bringen, und ich weiß jetzt noch nicht, ob ich das dennoch machen werde oder das Kapitel eben aufteilen und ganz regulär posten werde.

Es geht auf jeden Fall regulär in zwei Wochen hier weiter und dann wird auf jeden Fall jemand (oder auch mehrere?) Leute in die Gegend zurückkehren.

PS: Da Blogger mich diesmal ganz schön geärgert hat (Leerzeilen, wo sie nicht hingehören und so einen Spaß; ich habe wirklich so lange wie noch nie an der Nachbearbeitung dieses Kapitels gesessen...), bitte ich darum, mir Bescheid zu sagen, wenn es (schon wieder!) die Formatierung zerschossen hat. Danke! 

Bis dahin, danke ich euch für eure fortwährende Aufmerksamkeit, ich wünsche euch alles Gute, und bleibt gesund! Ich verabschiede mich, bis zum nächstes Mal!

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