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Mittwoch, 25. Juli 2018

Kapitel 61 - Sonnenkind und Sorgenkind



‚Warum hat er das getan? Ich bin nicht seine Tochter, ich habe bis jetzt kaum etwas mit ihm zu tun gehabt, aber trotzdem hat er sein Leben für mich riskiert.‘
     Diana hatte einen unsicheren Halt an einem spitzen Felsen gefunden, der ihr die Finger und Arme zerstochen hatte. Sie war immer wieder abgerutscht, aber letztendlich hatte sie ausharren können, bis Alin in seinem Boot aufgetaucht war, um sie aufzulesen. 
     Zu dem Zeitpunkt hatte der Händler sich bereits ein Seil um die Taille gebunden gehabt, das am anderen Ende am Mast befestigt gewesen war, und als sie den Ort erreicht hatten, an dem Diana Rahn hatte untergehen sehen, war er ins Wasser gesprungen und hatte den anderen Mann vom Meeresboden gefischt. Doch Rahn hatte nicht geatmet und nicht nur Diana war sich sicher gewesen, dass er tot gewesen war.
     Dennoch hatte Alin versucht, ihn wiederzubeleben und letztendlich hatte Rahn eine große Menge Wasser ausgespuckt und wieder angefangen zu atmen.
     Doch auch danach war es nicht einfach gewesen. Sie waren, alle drei in ein altes Segeltuch gewickelt, nach Hause geeilt, während Tanja wie ein aufgeschrecktes Huhn um sie herumgeschwirrt war. Erst, als sie, die Lippen blau und beinahe erfroren, den Hof schließlich erreicht hatten, war sie endlich still gewesen und hatte sich dezent in den Hintergrund verzogen.
     Sie hatten sich umgezogen, aufgewärmt und am Anfang war es Diana gewesen, als würde die Wärme des Feuers sie verbrennen. Dennoch hatte sie die ganze Zeit über nur diese eine Frage beschäftigt, die sie noch immer nicht losließ. Keine Sekunde hatte sie ihren Retter seitdem aus den Augen gelassen.
      ‚Warum hast du das getan? Dabei habe ich so gemeine Dinge über dich gedacht.‘


„Du weißt, was das bedeutet“, drang die Stimme ihres Vaters plötzlich zu ihr vor und holte sie aus ihren Gedanken zurück ins Diesseits.
     Diana riss ihren Blick von Rahn los und wandte sich den Geschehnissen in ihrer unmittelbaren Nähe zu. Da stand Tanja neben ihr und sah aus wie ein kleines Mädchen, das etwas Ungezogenes getan hatte und nun von ihren Eltern dafür ausgeschimpft wurde. Immerhin schien sie aber nicht mehr um ihr Leben fürchten zu müssen, wie zu dem Moment, als Dianas Mutter wie ein Gewittersturm über sie hereingebrochen war. Jin hatte Dana dann glücklicherweise vorsichtig zur Seite genommen und Tanjas Eltern und ihr Bruder waren stattdessen an ihre Stelle getreten.  


„Seid nicht so streng mit ihr. Sie hat es ja nicht mit Absicht getan. Es war ein Unfall“, mischte sich Diana ein und sie glaubte tatsächlich daran.
     „Halt dich da raus! Ich habe nicht um deine Hilfe gebeten!“, wiegelte Tanja aber sofort ab.


„Tanja! Ich kann nicht glauben, was ich da höre!“, fuhr Tann dazwischen. „Ich dachte, wir hätten dich zu einem anständigen Menschen erzogen, aber scheinbar haben wir versagt. Ist dir eigentlich bewusst, was du getan hast? Diana und Rahn hätten sterben können! Was du getan hast, wird diesmal nicht ohne Konsequenzen bleiben!“
     Doch alles, was Tanja sehen konnte, war Diana, die sich mal wieder in einem guten Licht darstellte. Sie hatte schon lange aufgehört, etwas anderes zu sehen als die Ungerechtigkeiten, die man ihr, ihrer Meinung nach, antat. Alle waren immer nur gegen sie und sie hatte keine Chance, allein gegen diese Übermacht anzukommen. Alles, was ihr blieb, war, auszuharren, bis sie jemanden fand, mit dem sie von hier verschwinden konnte.
     Also schluckte sie jegliche Widerworte und schwieg, während die Wut böse in ihrem Bauch brannte.


Diana bekam nicht mit, was man bezüglich Tanja entschied. Als ihre Schwester nichts mehr sagte, ließ man sie in Ruhe und beinahe sofort waren Dianas eigene Gedanken zu Rahn zurückgekehrt. 
     Er war bislang nur ein alter Mann gewesen, der im selben Haus lebte wie sie, aber sie hatte niemals sonderlich Notiz von ihm genommen. Doch in dem Moment, als er ihr nachgesprungen war, hatte sich das geändert. In dem Moment, als sie allein ihrem Tod überlassen war und er für sie da gewesen war. Sein Mut und seine Selbstlosigkeit hatten sie tief beeindruckt.


Es war am nächsten Tag, als Ihre Kleidung inzwischen am Feuer getrocknet, wenn auch noch immer klamm und klebrig vom Meerwasser war. Aber dennoch wechselte sie in ihre Wintermontur und folgte Rahn ungesehen nach draußen. Sie wollte ihn beobachten. Sie wollte mehr über ihn erfahren. Seitdem er sie gerettet hatte, ließ der Gedanke an ihn sie nicht mehr los und sie wollte wissen, warum das so war.
      Es war noch immer so schrecklich kalt. Der Wind biss ihr in die Wangen und für einen Moment musste sie an die Tiefen des Meeres denken und es schauderte ihr bei dem Gedanken daran. Also sah sie sich hastig nach Rahn um. Doch anstatt ihn allein vorzufinden, fand Diana eine kleine Versammlung vor. Tanjas Eltern, Lu, Rahn und Elrik, selbst die beiden Ältesten waren anwesend. Sie hatten sich beim Grabhügel zusammengefunden, aber obwohl sie wohl ungesehen bleiben wollten, wurde Diana dennoch sofort auf sie aufmerksam.
     Sie wusste, dass es keine gute Eigenschaft war zu lauschen, aber die Neugierde war stärker. Also ging sie vorsichtig näher ran und spitzte die Ohren. 


„Ich weiß nicht, was wir wegen Tanja unternehmen sollen“, hörte sie ihren Vater sagen. „Sie war schon immer eigen und schwierig, aber in letzter Zeit gerät sie außer Kontrolle.“
     Es entstand eine kurze Pause, bevor Elrik entgegnete: „Ja, ich weiß. Es ist noch nicht einmal alles. Ich hatte eigentlich vor, es für mich zu behalten, aber scheinbar sind Tanja und Luis vor einer Weile auch bei den Nachbarn eingebrochen.“
     Lu gab einen erschrockenen Laut von sich. „Luis?“
     „Ja“, bestätigte Elrik. „Auch wenn ich glaube, dass Tanja ihn dazu angestiftet hat. Um ihn würde ich mir deshalb keine Sorgen machen, Schamane, zumal er in letzter Zeit nichts mehr mit Tanja zu tun hat. Aber was sie angeht…“
     Er brach ab, aber es war auch gar nicht nötig, weiter zu sprechen. Es war alles gesagt worden.
     „Und was schlägst du vor, was wir wegen Tanja tun sollen?“ Es war ungewöhnlich, dass sich Tann Rat von seinem Sohn einholte. Er musste wirklich verzweifelt sein. Doch Elrik blieb ihm eine Antwort schuldig.


Lange Zeit sagte niemand mehr etwas, bis Sen plötzlich vorschlug: „Ich glaube, dass es für Tanja einfach langsam an der Zeit wird, Mutter zu werden. Wenn sie erst einmal mit ihrem Nachwuchs beschäftigt ist, wird sie gar keine Zeit mehr für irgendwelche Flausen haben.“
     „Was? Das meinst du doch nicht etwa ernst!“, gab Tanna aufgebracht von sich. „Tanja hat sich in letzter Zeit ein paar Dinge erlaubt, die zu weit gehen, da gebe ich euch recht, aber das liegt nur daran, dass ihr sie immer alle verwöhnt habt! Vor allen Dingen Mutter! Ich habe schon immer gesagt, dass wir strikter zu ihr sein müssen, aber andauernd fiel mir irgendjemand in den Rücken und dann war ich immer die Böse! Es ist kein Wunder, dass Tanja nie gelernt hat, Respekt vor anderen zu haben! Und jetzt haben wir den Salat! Das wird auch Mann und Kind nicht ändern!“
     „Und was schlägst du vor, was wir stattdessen tun sollen?“, schoss Sen zurück.


„Was fragst du mich? Ihr habt das schließlich angerichtet, also lasst euch gefälligst etwas einfallen, aber wälzt eure Verantwortung nicht auf jemand anderen ab!“, sagte Tanna jedoch nur und ging davon.
     Diana sprang erschrocken zurück und tat dann so, als wäre sie unterwegs zum Austreten, als Tanna ins Haus zurückkehrte. Glücklicherweise nahm die andere Frau keine Notiz von ihr.


Aber dennoch wechselte sie ihren Standort zum Schuppen, wo sie notfalls hinter der Hundehütte in Deckung gehen konnte. 
     Die Zurückgebliebenen sahen Tanna eine Weile schweigend nach und Diana konnte nicht sagen, was sie dachten. 
     Es war Sen, der sich schließlich wieder zu Wort meldete: „Die Frage ist nur, wer eine Frau wie sie nehmen würde. Tanja ist schwierig, da müssen wir uns nichts vormachen.“
     Erneut Stille. Diana konnte von ihrem Beobachtungsposten aus sehen, wie Elriks Blick zu Boden fiel und er scheinbar eine Weile nachdachte. 


Dann schließlich sagte er: „Ich weiß vielleicht jemanden. Ich werde mich darum kümmern. Aber dennoch sollten wir uns überlegen, was wir tun, wenn das nichts wird.“
     Sie sah ein allgemeines Kopfnicken, dann löste sich die Runde auf und außer Elrik kehrte ein jeder in die Wärme des Hauses zurück. 


Diana wollte ihnen am liebsten auch folgen, vor allen Dingen die Aussicht auf Rahn lockte sie, aber dann fiel ihr auf, dass nicht alle gegangen waren. Tann, ihr Vater, stand unverrückt an Ort und Stelle. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sie war sich ziemlich sicher, dass er sich Sorgen machte.
     Also ging sie zu ihm hinüber. Tann zuckte zusammen, als er sie bemerkte, sagte aber nichts, sondern versuchte stattdessen, seine Sorge unter einem abgehackten Lächeln zu verstecken.


„Mach dir keine Sorgen um Tanja, Papa! Sie ist vielleicht oft wütend, aber sie hat das nicht mit Absicht getan. Tief drinnen ist sie ein guter Mensch, da bin ich mir sicher.“
      Tann sah einen Moment verdutzt drein, dann jedoch wurde sein Lächeln ehrlich und sanft. „Du bist wirklich ein gutes Kind, Diana. Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist. Wenn ich nur daran denke, dass du hättest ertrinken können…“


Er brach ab und erneut legte sich die Sorge auf sein Gesicht. Eine tiefe, stille Traurigkeit, die sie die letzte Zeit viel zu oft in seinem Gesicht gesehen hatte.
     „Weißt du, wenn dich etwas bedrückt, kannst du immer zu mir kommen und mit mir darüber reden, ja? Ich werde dir zuhören und versuchen zu helfen, so gut ich kann.“
     Ein gezwungenes Lächeln auf seinen Lippen. „Das ist lieb von dir, Diana, aber ich möchte dich nicht mit meinen Problemen belästigen.“


 „Ich bin nicht länger ein Kind, das weißt du, oder?“
      Als er sie ansah, war da plötzlich eine Ernsthaftigkeit in ihren Augen, die er so gar nicht von ihr kannte. Da erkannte er, dass sie recht hatte. Sie war nicht länger ein kleines Mädchen, auch wenn sie das für ihn wohl immer bleiben würde. Aber er sah auch, dass es ihr wichtig war. Dass sie ernstgenommen werden wollte.
     Also seufzte er und sagte: „Ich denke in letzter Zeit, ehrlich gesagt, darüber nach, ob es nicht besser ist, wenn ich von hier fortgehe. Nicht für immer, aber vielleicht eine Weile. Solange, bis sich die Gemüter hier beruhigt haben. Du hast ja sicherlich auch schon mitbekommen, dass Elrik und… Tanna…. sehr wütend auf mich sind.“


Als Diana nichts erwiderte, wagte er einen Blick in ihre Richtung und da sah er, dass sie ihn erschrocken anstarrte. „Du kannst doch nicht einfach gehen!“, meinte sie. Wir brauchen dich hier doch!“
     „Niemand braucht mich hier, Diana.“ Er schüttelte den Kopf und ließ die Schultern hängen. Alles, was in der Vergangenheit geschehen war, wiegte plötzlich so schwer auf ihm. Bevor er wusste, was er tat, sagte er: „Ich wollte immer nur helfen, ich habe immer nur versucht, das Beste für alle zu tun, aber ich habe es oft nur schlimmer gemacht. Deshalb glaube ich, dass es besser ist, wenn ich fortgehen würde. Niemand würde mich vermissen.“
     „Und was ist mit mir?“, fragte Diana plötzlich inbrünstig. „Ich würde dich vermissen. Jin ist ein guter Kerl und ich bin froh, dass Mama und Jana ihn haben, aber ich finde dich trotzdem besser.“ Plötzlich stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. „Wenn ich ehrlich bin, war ich immer stolz darauf, dass ich die Tochter vom Stammesführer war. Und egal, was irgendwelche anderen sagen, du bist ein guter, starker und gerechter Anführer gewesen.“  
      Diana war immer eine der wenigen Menschen gewesen, die Tann auch in seinen schwierigsten Zeiten zum Lächeln hatte bringen können. Doch er hatte gedacht, dass sie ihm, wie auch seine anderen Kinder, inzwischen entwachsen war. Dass sie ihn nicht mehr brauchte. Doch als er jetzt in ihre Augen blickte, die ihn flehentlich ansahen, wusste er, dass er sich geirrt hatte.


Plötzlich bildete sich ein dicker Kloß in seinem Hals. Es war das erste Mal seit langem, dass eine längst vergessen geglaubte Wärme in seiner Brust blühte.
     „Diana… ich… danke! Danke, wirklich!“
     Diana lächelte erleichtert und dann ließ sie sich von ihm in den Arm nehmen.


Doch sie war noch nicht fertig. Als sie sich wieder von ihm gelöst hatte, fuhr sie mit einem verschmitzten Lächeln fort: „Außerdem – es sieht gerade vielleicht nicht danach aus, aber Elrik und Tanja sehen das genauso. Da bin ich mir sicher.“
     „Ich weiß ja nicht…“
     „Oh doch! Elrik zeigt es zwar nicht, aber ich weiß, dass er tief drinnen Angst hat, dir als Stammesführer nicht gerecht zu werden. Er hat dich vielleicht wegen deiner Vorgehensweise mit den Nachbarn verurteilt, aber manchmal muss man nur in die Fußstapfen des Anderen treten, um ihn zu verstehen.
     Und was Tanja angeht: Sie fühlt genauso wie ich und deshalb ist sie auch so wütend. Sie hat immer große Stücke auf ihre Familie gehalten und jetzt haben du und ihre Mutter sich einfach so getrennt. Das macht ihr natürlich zu schaffen. Aber trotzdem hat sie dich genauso lieb wie ich. Das weiß ich genau, denn wenn es nicht so wäre, würde ich mich nicht immer mit ihr in die Haare darüber kriegen, wer von uns beiden jetzt deine Lieblingstochter ist.“
     Sie kicherte, doch dann wurde ihr Gesicht wieder so ernst und sorgenvoll, als sie ihn ansah, dass es ihm beinahe das Herz brach. „Deswegen – wir brauchen dich hier alle, Papa. Geh nicht weg, ja?“
     „Wie könnte ich weggehen, wenn du mich darum bittest, zu bleiben?“ 


Da erhellte sich ihr Gesicht wieder und es war Tann, als würde die Sonne, die hinter ihr zum Horizont sank, noch goldener strahlen. Seine Tochter. Die einzige, die ihn immer die sonnigen Seiten aufzeigen hatte können, egal, wie tief er auch in den Schatten versunken gewesen war.
     Er legte eine Hand auf ihr Haupt. „Ich bin froh, dass du meine Tochter bist.“
     Er wusste nicht, was er getan hätte, wenn Diana gestorben wäre. Wenn sie plötzlich nicht mehr da wäre. 


‚Tann hat es wirklich nicht leicht mit seinen Kindern‘, dachte Wulfgar, als er tags darauf ins Haus eintrat.
     Dinge geschahen, egal ob sie groß oder klein, schlecht oder gut sein mochten, wenn nicht der Tod eingriff, ging das Leben immer weiter. Das war etwas, das er schnell hatte erfahren müssen. Manchmal, wenn er gedacht hatte, dass der Schmerz nie vergehen würde, nachdem er im Kampf zu nachlässig gewesen war. Oder die vielen, endlosen Tage, die er allein auf seinem Boot verbracht hatte, während seine Vorräte zur Neige gingen und kein Land in Sicht kommen wollte.
     Das waren die Momente, in denen die Zeit still zu stehen schien, aber letztendlich war sie trotzdem immer vorangeschritten. Sie hatte niemals Rücksicht auf ihn genommen. Der nächste Tag war gekommen, er hatte Land gefunden, der Schmerz war vergangen und auch die zahlreichen schönen Momente waren viel zu schnell wieder verflogen.
     Deswegen dachte er nicht allzu lange über Geschehnisse nach, die seine Mitmenschen vielleicht länger beschäftigen mochten. Während die Anderen beispielsweise noch lange damit zu kämpfen gehabt hatten, was Jana geschehen war, hatte er sich schon längst wieder anderen Dingen zugewandt gehabt. Das lag nicht etwa daran, dass ihn nichts mehr mitnahm und ihn alles kalt ließ, sondern lediglich an der Erfahrung, dass es weitergehen musste.
      Doch seitdem Leif da war, hatte sich das irgendwie geändert. Seitdem beschäftigten ihn manche Dinge mehr als früher und seitdem ertappte er sich so oft dabei, dass er sich Sorgen um seinen Sohn machte.
     ‚Ich hoffe wirklich, dass Leif uns eines Tages nicht auch solche Sorgen bereiten wird.‘


Noch immer von der Helligkeit des Schnees geblendet, brauchten seine Augen eine Weile, bis sie sich an die diffuse Dunkelheit im Inneren des Hauses gewöhnt hatten und er die Person ausmachen konnte, die er suchte. Sie lag da, auf einem Bett, ihr Rücken ihm zugewandt und bewegte sich nicht. Als Wulfgar das sah, war er irritiert. Es war ungewöhnlich, dass Lulu tagsüber schlief, aber was ihn wirklich überraschte war das Bett, in dem sie lag. Es gehörte Lu.
     Neben Leif gab es da nur eine Sache, die ihm ab und an Sorgen bereitete. Lulu hatte ihm versichert, dass er sich keine Sorgen machen brauchte, aber dennoch war diese nagende Angst nie fortgegangen, dass sie ihn angelogen hatte, um ihn zu beruhigen. Es würde zu ihr passen. Sie war schon immer ein Mensch gewesen, der sich zu viele Gedanken um andere machte und ihre eigenen Bedürfnisse dafür zurückstellte.
      Er zögerte deshalb, ging dann aber dennoch zu ihr. Es brachte nichts, davonzulaufen, auch das hatte er schnell gelernt. Es würde das Problem nämlich nicht aus der Welt schaffen.


Als er sie vorsichtig beim Namen rief, schreckte sie nach oben und im nächsten Augenblick stand sie ihm mit weit aufgerissenen Augen gegenüber. Erst als sie sah, wer da vor ihr stand, stieß sie einen erleichterten Seufzer aus und kam schließlich vollends zu ihm rüber.
     „Du hast mich erschreckt. Ich dachte schon, du wärst Lu…“
     Ihr Blick schweifte ab, wurde leer und da wurde Wulfgar noch mulmiger zumute. Er musste endlich Klarheit haben. Ein für allemal.


 „Lulu, ich weiß, dass ich dich das schon mal gefragt habe, aber kann es sein, dass du Lu vielleicht doch ein bisschen mehr magst, als du gesagt hast?
     „Wie kommst du denn darauf?“, erwiderte sie irritiert. 
     „Naja, du liegst auf seinem Bett und… ich hab einfach im Gefühl, dass…“
      Er brach ab. Jetzt, wo er es aussprach, kam es ihm irgendwie selber dumm und nichtig vor.
     „Oh“, machte sie, „ich habe nur nachgedacht, wie ich mit Lu darüber sprechen soll. Normalerweise frage ich ihn ja immer um Rat, wenn ich nicht weiß, was ich tun soll. Aber diesmal…“
      Da verstummte sie plötzlich und zwei große, erschrockene Augen trafen ihn. So als hätte sie die ganze Zeit mit sich selber geredet und erst jetzt realisiert, dass sie ja nicht allein war.
     „Was denn?“, hakte Wulfgar nach.
     Doch Lulu zog sich zurück. „Ach, nichts. Schon gut.“
     „Du kannst es mir ruhig erzählen. Wenn Lu dir nicht helfen kann, kann ich es vielleicht.“
     „Danke, aber das ist etwas, das nur mich und Lu etwas angeht…“, wisperte sie.


 „Und mich nicht?“, tat er beleidigt und verschränkte die Arme. „Ich dachte, wir wären eine Familie. Du, ich, Lu und die Kinder.
      Wie erwartet, erzielte das seine Wirkung sofort. „Wirklich?“, fragte sie verunsichert.
     „Ja, natürlich. Wir sind eine Familie und in einer Familie sollten alle füreinander da sein.“
     Lulu war sprachlos. Sie wusste, dass sie als Mutter von Leif und Luis existierte, aber sie war sich auch ziemlich sicher gewesen, dass es vor allen Dingen Wulfgar egal gewesen war, wer die Mutter seines Sohnes war. Sie hatte sich eben als erstes angeboten, also war sie es geworden. Doch das sagte sie natürlich nicht. Stattdessen schwieg sie.
     „Hey, glaubst du etwa, dass du mir egal bist? Oder ist es so, dass ich dir egal bin? Weißt du, ich dachte immer, dass wir Freunde sind.
     „Freunde?“, fragte Lulu vorsichtig.
     „Ja, na klar!“ Plötzlich musste er lachen. „Mit dir konnte man früher wenigstens reden, während Lu einem wunderbar das Gefühl geben konnte, nicht erwünscht zu sein. Die Aussicht, dass du dabei bist, war jedenfalls immer eine gute Aussicht. Da hat sich Lu auch immer zurückgehalten.“


Und da erst fiel Lulu auf, dass es wirklich so war. Sie war immer ein bisschen eingeschüchtert gewesen, wenn Wulfgar dabei gewesen war. Aber sie hatte sowieso vor allen Menschen Angst, die nicht Lu oder ihre Eltern waren. Und im Nachhinein war es nie so schlimm gewesen, mit Wulfgar zu tun zu haben. Im Gegenteil. Er war immer freundlich und zuvorkommend zu ihr gewesen. Er war einer der wenigen Menschen, die wirklich mit ihr gesprochen hatten. Der sie gesehen hatte. Der sich ihren Namen gemerkt hatte.
     Inzwischen hatte Lulu sich zwar verändert und sie hatte nicht mehr so viel Angst vor anderen Menschen wie früher, aber nach wie vor zog sie sich von ihnen zurück, wie sie gerade feststellte. Sie öffnete sich niemandem mehr wirklich. Seitdem Wulfgar da war, auch Lu nicht mehr. Das hatte sie schon ein bisschen gestört, aber vielleicht war das gar nicht nötig. Vielleicht konnte sie sich ja auch Wulfgar selber anvertrauen. Es war schließlich nicht so, dass sie ihn nicht mochte. Im Gegenteil.
     Es freute sie jedenfalls, dass Wulfgar so dachte. Vielleicht konnte sie vor ihm ein bisschen mehr sie selber sein.


 „Aber du musst versprechen, es nicht Lu zu erzählen, was ich dir jetzt erzähle.“
     Als Wulfgar es versprach, fuhr sie fort und das Lächeln, das zuvor ihr Gesicht verziert hatte, verschwand sofort. „Es geht um Luis. Ich habe wegen der Sache mit dem Einbruch mit ihm geredet und da habe ich auch seine Augen angesprochen. Ich glaube nämlich, dass er inzwischen kaum noch etwas sehen kann. Vielleicht ist er ja auch schon blind, ich weiß es nicht. Er erzählt es mir ja nicht. Er hat mir immer alles erzählt, aber wenn ich ihn darauf anspreche, meint er nur, dass alles gut ist und ich Geister sehe.“
     Plötzlich fielen ihre Mundwinkel herab und sie wirkte, als würde sie alle Last der Welt auf ihren zierlichen Schultern tragen. „Irgendwann ist er dann sogar richtig wütend geworden und hat gesagt, dass ich ihn in Ruhe damit lassen soll. Aber ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt! Ich weiß nicht, was ich deswegen machen soll… Ich brauche Rat, aber ich trau mich nicht, Lu zu sagen, dass sein Sohn vielleicht blind ist…“
     Wulfgar schwieg einen Moment, bevor er sagte: „Du solltest keine Scheu davor haben, mit Lu zu reden. So, wie ich Luis erlebt habe, wird Lu es wahrscheinlich sowieso schon wissen.“
     „Wie meinst du das?“, fragte Lulu erschrocken.
     „Dass man Luis ansieht, dass er nicht gut sieht. Ich denke, dass das inzwischen jedem aufgefallen ist. Lu müsste schon selber schlecht sehen, um das nicht zu bemerken. Außerdem ist mir aufgefallen, dass er Luis manchmal denselben sorgenvollen Blick zukommen lässt, den du gerade auch hast.“
      Danach sagte Lulu kein Wort mehr. Wenn Luis‘ Sehschwäche so offensichtlich war, selbst für alle anderen, musste sie wirklich schwerwiegend sein.


Wulfgar schlug vor, mit ihr zusammen zu Lu zu gehen, um mit ihm zu reden und Lulu nahm das Angebot dankbar an. Dennoch war sie nervös, als sie kurz darauf nach draußen trat und Lu erblickte, der gerade versuchte, sich mit Leif auseinanderzusetzen. 
     Wulfgar ebnete den Weg und als Lulu dem Vater ihres ersten Kindes kurz darauf gegenüberstand, hatte sie kalte Füße. Und das lag nicht nur an dem eisig kalten Winter, der erneut über sie hereingebrochen war. Der Himmel war so grau und unheilvoll über ihren Köpfen, dass Lulu tatsächlich darüber nachdachte, das als Zeichen der Götter zu nehmen und lieber schnell nach drinnen zu verschwinden, bevor er ihr auf den Kopf fallen konnte.


Währenddessen sah Lu sie abwartend an und als er sie schließlich ansprach, zuckte sie heftig zusammen. Sie schüttelte die unsinnigen Gedanken ab, ordnete sich und fing dann noch einen ermutigenden Blick von Wulfgar auf, bevor sie Lu ihre Sorgen erzählte.
     „Ich weiß, Lulu“, erwiderte er, als sie geendet hatte. Ich hatte gehofft, dass es dir nicht auffällt, damit du dir keine Sorgen machst, aber egal was Luis auch versucht, er kann es immer weniger verstecken.“        
     Plötzlich war alle Angst verflogen. „Du weißt es? Seit wann?“
     „Schon eine ganze Weile. Luis hat mit mir früher immer an den Malereien gearbeitet, aber das tut er schon eine ganze Weile nicht mehr. Weil er es nicht mehr kann.“
     „Hast du ihn darauf angesprochen?“
     „Nein. Ich denke, dass, wenn er darüber sprechen wollen würde, dann würde er zu mir kommen.“  
     „Also willst du einfach gar nichts tun?“, fragte Lulu fassungslos.
     „Es ist nicht so, dass ich nichts getan habe. Ich habe mit Armin darüber gesprochen. Ich habe jede Möglichkeit wahrgenommen, mit Heilern und anderen Geistlichen zu sprechen. Ich habe die Götter angerufen und ich habe sogar Alin und Wulfgar gefragt, ob sie irgendwelche Fälle kennen, in denen Blindheit oder schlechte Augen geheilt werden konnten.“


Lulu war davon überrumpelt. All diese Dinge hatte Lu getan, während sie sich nur in ihrer Sorge gesuhlt hatte und untätig geblieben war.
     „Und?“
     Lu schüttelte den Kopf und da brach die Verzweiflung, die die ganze Zeit über an ihr genagt hatte, schließlich vollends über sie herein.
     „Und was sollen wir jetzt tun? Wir können doch nicht einfach gar nichts tun!“
     „Ich… weiß es auch nicht Lulu.“
     Als sie sah, dass selbst Lu das schwer traf, kamen ihr schließlich die Tränen, die sie so lange zurückgehalten hatte. Und Lu, der selber nicht wusste, wie er mit der ganzen Situation umgehen sollte, konnte nichts tun, als sie weinen zu lassen, während er selber damit beschäftigt war, die Fassung über sich zu bewahren.
     Obwohl er immer Probleme gehabt hatte, mit Luis zu tun zu haben, als er noch kleiner gewesen war, hatte das seinen Sohn dennoch nicht abgeschreckt, ihn zu bewundern. Er wusste nicht warum, aber Luis hatte das von klein auf an getan. Er war immer ein guter Sohn gewesen und es schmerzte Lu, dass er jetzt nichts für ihn tun konnte. Er fühlte sich so hilflos, dass er sich nicht einmal dazu imstand fand, Lulu zu trösten.


Es war erneut Wulfgar, der einschritt und der versuchte zu helfen. „He, nur weil Luis vielleicht blind ist, heißt das nicht, dass die Welt davon untergeht“, sagte er.
     Sofort traf ihn ein tränennasser, böser Blick, den er so noch nie bei Lulu gesehen hatte.  
     „Ich sage nicht, dass das eine leichte Bürde ist, die Luis da zu tragen hat, aber, dass Blindheit nicht gleich das Ende bedeutet. Luis lebt und auch wenn er nichts sehen kann, ist er gesund. Er wird leben und lernen, damit umzugehen. Er versucht es ja schon. Sonst würde er sich verkriechen und gar nichts mehr tun.
     Ich habe auf meinen Reisen einige Blinde kennengelernt, die ein gutes Leben führten. Und nicht nur Blinde. Viele von diesen Menschen hatten eine bewundernswerte Stärke und viele von ihnen haben ihre Einschränkung durch andere Stärken mehr als wettgemacht.
     Ich erinnere mich noch gut an diese eine Frau, die eingeritzte Schriftzeichen mit ihren Fingern schneller entziffern konnte als ich. Dann gab es da dieses Kind, das eine solch blühende Fantasie gehabt hat, wie ich sie selten gesehen habe. Ihr hättet hören sollen, wie er Farben beschrieben hat, die er nie sehen durfte. Eine alte Frau, die auf ihren Händen lief wie ein Jungspund, weil sie keine Beine mehr hatte. Taube, die sich mit ihren Fingern unterhalten konnten. Ihr seht, es ist also nicht das Ende, dass Luis vielleicht nichts mehr sieht.“


Da wandte sich Lu an ihn und fragte ernst: „Und was schlägst du vor, dass wir tun sollen?“
     Lulu war überrascht. Es kam so gut wie nie vor, dass Lu jemand anderen um Rat fragte.
     „Solange er sich nicht weiter zurückzieht, lasst ihn einfach. Wie du schon sagtest, wird er zu euch kommen, wenn er drüber reden will. Behandelt ihn nicht anders als sonst. Da er dir gegenüber schon wütend geworden ist, Lulu, kann ich mir nicht vorstellen, dass er das mögen würde. Und wenn er dann zu euch kommt, dann könnt ihr selber mit ihm ausmachen, wie und ob ihr ihm helfen könnt.“
     Das klang vernünftig, also nickten Lulu und Lu.
     Dennoch war Lulu unzufrieden. Sie konnte einfach nicht verstehen, dass Luis ihr nichts von seinem Problem erzählte, obwohl er ihr früher immer alles erzählt hatte. Aber er hatte das mit keinem Wort erwähnt und je älter er wurde, desto mehr verschloss er sich ihr gegenüber.
     Als Wulfgar sich nun abwandte, um sie allein zu lassen, schreckte Lulu erneut aus ihren Gedanken. Sie warf Lu noch einen Blick zu, der scheinbar in seine eigenen Gedanken abgedriftet war, und lief Wulfgar dann eilig hinterher. Sie machte sich noch immer Sorgen um Luis, aber sie musste lernen, damit zurechtzukommen.


 „Wulfgar!“, rief sie ihn, als sie ihn bei den Pinkelbüschen abfing. „Ich wollte mich noch bei dir bedanken, dass du mir zugehört und mir geholfen hast.
    „Naja, geholfen hab ich nicht wirklich, wenn ich dich so ansehe.“
    „Es ist… einfach eine schwierige Angelegenheit.“
    Sie wollte nicht mehr daran denken.


„Das kann ich verstehen. Ich sag all diese Dinge, aber wenn ich mir vorstelle, dass Leif blind wäre…“ Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren würde. Ob ich mich an meine eigenen Worte halten würde...“
     Dann herrschte eine Weile Schweigen, in denen Wulfgar gedanklich abschweifte und die Lulu dazu benutzte, ihn zu betrachten.


 „Ähm…“, fing sie schließlich zögerlich wieder an. „Wegen der Sache mit unserem zweiten Kind…“
     „Oh, schon gut, ich verstehe, dass du gerade andere Sachen im Kopf hast. Das kann warten.“
     „Ich wollte dir eigentlich sagen, dass genau jetzt ein guter Zeitpunkt dafür wäre.“
     „Bist du sicher?“, fragte er nach.
     „Ja. Eine Schwangerschaft würde mich jedenfalls genug ablenken, um vor Sorge um Luis nicht durchzudrehen. Hoffe ich zumindest.“
     Wulfgar schwieg einen Moment lang skeptisch, bevor er sagte: „In Ordnung. Wenn du dir sicher bist…“ 


Da zerfurchte erneut ein Lächeln ihr Gesicht. Obwohl die Sorge um Luis noch immer unterschwellig in ihrem Herzen schwelte, konnte sie nicht anders, als zu lächeln. Wie gesagt, es war ja nicht so, dass sie Wulfgar nicht mochte. Im Gegenteil.
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 Hier weiterlesen -> Kapitel 62

Es ist diesmal ziemlich dialoglastig geworden. Ich bin selber nicht so ganz zufrieden damit, konnte es aber irgendwie nicht anders lösen. Was haltet ihr eigentlich von dialoglastigeren Kapiteln? Schreibt mir ruhig mal eure Meinung dazu.

Ich habe noch ein paar Outtakes für euch und nächstes Mal dann muss sich Diana mit ihren Gefühlen auseinandersetzen und wir erfahren, welchen armen Kerl Elrik für seine Schwester auserkoren hat (oder hat er das überhaupt?).

Bis dahin, danke fürs Vorbeischauen und ich verabschiede mich!
 

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