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Mittwoch, 9. Juni 2021

Kapitel 141 – Rufus


Sie waren beinahe die ganze Nacht lang damit beschäftigt, ihr weiteres Vorgehen zu besprechen, nachdem sie herausgefunden hatten, dass der nächste Neumond erst in zehn Tagen war. 
     Deshalb kam Tann erst am nächsten Morgen dazu, mit Isaac allein zu reden. Er nutzte die Chance, ihn abzufangen, als der Andere gerade nach draußen gegangen war, um Wasser am Brunnen zu holen.


„Wenn du nach dem Blutschwur am Neumond die Gegend verlässt, werde ich mit dir gehen“, stürzte er gleich mit der Tür ins Haus.
     „Bist du sicher, dass du überhaupt mit dem ahnungslosen Fremden, der nur Unruhe stiftet, zu tun haben willst? Ich meine, du könntest auch einfach die nette Giftmischerin zu einem abendlichen Getränk einladen.“   
     „Entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen. Das hat auch gar nichts mit dir als Person oder damit zu tun, dass du von außerhalb kommst. Es ist einfach nur…“
     „Du wolltest deine Heimat und deine Familie beschützen, ich weiß.“
     „Also bist du nicht mehr sauer auf mich?“
     „Nein.“


Dann hatten sie sich nichts mehr zu sagen. Isaac rutschte in seine Gedanken ab, wie er das immer in solchen Momenten tat, und Tann verbrachte viel zu lange damit, unbehagliche seine Füße anzustarren und zu überlegen, was er sagen sollte. Schließlich, als er sich sicher sein konnte, dass Isaac es nicht mitbekommen würde, ließ er sich dazu hinreißen, seinen Gegenüber zu betrachten und sich in seinem Anblick zu verlieren.
     Zumindest so lange, bis die dunklen Augen unvermittelt zu ihm zurückkehrten.


„Dieser Ida übrigens“, fing er an, „solltest du besser fernbleiben.“ Tann starrte ihn begriffsstutzig an, also fügte er hinzu: „Du sagtest, du wolltest erst einmal mit ihr sprechen. Das solltest du lieber unterlassen. Nicht nur, weil sie dir gefährlich werden könnte, sondern auch, weil du verraten könntest, dass wir ihr auf die Schliche gekommen sind.“
     „Ja, du hast wohl recht. Ich will Ida nicht ohne Beweise verurteilen, aber ich werde sie wohl nicht mehr sehen.“
     „Tut mir leid, das mit ihr“, sagte Isaac zerknirscht. „Ich weiß, dass sie die erste Frau war, auf die du dich eingelassen hast, nachdem deine Frau dich verlassen hat.“
     „Ach, naja…“
     Er hätte Isaac gerne gesagt, dass er ja ihren Platz einnehmen könne, aber das tat er natürlich nicht.


„Was du vorhin gesagt hast: Warum willst du mich überhaupt so plötzlich begleiten?“
     „Ich muss meinen Enkel finden. Egal, was er auch getan hat, ich kann ihn nicht einfach im Stich lassen“, antwortete Tann ernst. „Das verstehst du doch, nicht wahr?“
     „Natürlich verstehe ich das. Wir werden ihn schon finden.“
     „Ich hoffe nur, dass ihm bis dahin nichts passiert.“
     „Von dem, was ich von ihm gesehen habe, bin ich mir sicher, dass er allein zurechtkommt. Er ist schließlich dein Enkel.“


Tann lächelte und auch Isaac lächelte, und es war so ungewohnt, bei diesem Anblick von einem Gefühl durchströmt zu werden, das er zuletzt in seiner Jugend so intensiv empfunden hatte. Aber obwohl er sich vorgenommen hatte, nichts zu überstürzen, es ihrer Freundschaft willen vielleicht gar nicht erst bei Isaac zu probieren – obwohl er wusste, dass es vielleicht eine unglückliche Liebe werden würde, die ihn zu Isaac verband, wollte er dieses Gefühl nicht mehr missen. Er war so viele Jahre lang jetzt schon allein gewesen, dass es wundervoll war, es nun nicht mehr zu sein.
     „Ich bin ehrlich froh, dass du hergekommen bist, Isaac“, sagte er deshalb zu ihm.


Isaac sah ihn ein bisschen überrumpelt an, aber sie kamen nicht mehr dazu, weiterzureden, da Tann in diesem Moment auf etwas aufmerksam wurde. Und als er erkannte, welche zwei sich ihnen näherten und dass einer von ihnen verletzt zu sein schien, war er sofort bei ihnen.  


Es war Wulfgar, der verletzt war. Wulfgar der Ältere. Und er war schwer verletzt. Sie brachten ihn umgehend nach drinnen und Tann verband ihm sofort die klaffende Wunde am Bauch, aber er brauchte nicht einmal Heilkenntnisse, um zu erkennen, dass es schlecht um den Verletzten aussah. Er hatte viel Blut verloren, die Wunde war zu groß, an einer zu kritischen Stelle.
     Wulfgar war dementsprechend blass und hatte vor kurzem das Bewusstsein verloren. Lu, der ihn beim Gehen gestützt hatte und der gerade vor ihm stand, war zwar unverletzt, aber genauso blass wie der Verletzte. Der Schreck stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er hatte kein Wort gesprochen, seitdem sie Wulfgar nach drinnen gebracht hatten.


In diesem Moment kam Malah zur Tür hinein. „Oh, nein! Was ist passiert?“
     „Wulfgar wurde angegriffen“, berichtete Tann ihr.
     „Von wem?“
     „Das wissen wir nicht. Lu hat ihn gefunden, aber er redet nicht.“
     Malah ging da zu dem ehemaligen Schamanen, berührte ihn sachte an der Schulter und fragte: „Wer war das, Lu? Was ist passiert?“
     Doch er reagierte nicht. Er war selber so voller Blut, dass sie zuerst gedacht hatten, dass auch er verletzt war. Aber es stammte alles von Wulfgar.
     „Bitte, Lu, es ist wichtig, dass du uns sagst, was passiert ist.“
     Erneut wurde sie nicht wahrgenommen. Nicht einmal, als Isaac an ihrer Seite auftauchte und barsch zu ihm: „Reiß dich zusammen und rede endlich, Mann!“, sagte, reagierte er.


Plötzlich erschien Luis in seinem Blickfeld, auf der anderen Seite des Bettes, in dem der Bewusstlose lag. Mit seinen blinden Augen sah er auf den Verletzten hinab, ganz so, als würde er ihn sehen können, und für einen Moment war sich Lu auch sicher, dass er das tat. Er war sich sicher, in strahlend blaue Augen anstatt in die braunen seines Sohnes zu sehen.
     Da kehrte er aus seiner Starre zurück, wischte sich über die Augen und nahm jedes bisschen Kraft zusammen, um zu erzählen.


Entgegen Malahs Bitte, war Lu vor einigen Stunden zum Ahn-Stamm aufgebrochen, um sich umzuhören, und Wulfgar hatte ihn dabei begleitet.


Es war auf dem Weg dorthin passiert, als Lu stehen geblieben war, um zu seinem Begleiter zu sagen: „Wulf, du musst nicht mit mir kommen.“
     „Ich will aber. Es ist gefährlich dort.“
     „Es wäre aber wesentlich unauffälliger, wenn ich alleine gehen würde. Jade ist meine Nichte. Es ist nichts dabei, wenn ich sie besuche und so tue, als würde ich Göttersegen oder sowas verteilen, aber du hast dort eigentlich nichts verloren.“


Wulfgar machte ein unglückliches Gesicht. „Trotzdem… ich kann dich einfach nicht allein lassen. Als ich es das letzte Mal getan habe, ist alles den Bach runtergegangen und ich habe dich verloren. Wenn ich dich damals nur nicht alleingelassen hätte…“
     „Selbst wenn du geblieben wärst, hätte das nichts geändert. Ich wäre nur wütend gewesen, dass du meinen Willen ignorierst, und dann hättest du wahrscheinlich die Räuber getötet anstatt ich. Es wäre so oder so auf dasselbe hinausgelaufen. Du warst einfach chancenlos.“   
     „Ja, mag sein, aber ich hätte dich vielleicht vor den Sklavenhändlern beschützen können. Ich will einfach nicht, dass wieder was passiert, nur, weil ich nicht da bin! Bitte, Lu, lass mich mit dir kommen! Reinard wird wahrscheinlich eher misstrauisch sein, wenn du ohne deinen anhänglichen Beschützer auftauchst.“


Lu seufzte. „Ach, Wulf, ich wünschte wirklich, du würdest dir endlich einen anderen suchen.“
     „Ich will aber keinen anderen!“
     „Das sagst du jetzt, aber du versuchst es ja nicht mal. Du bist genauso stur wie Tann.“ Lu zögerte ein bisschen, bevor er unwillig vorschlug: „Schau, was ist denn zum Beispiel mit diesem Isaac? Der scheint dich ja… zu mögen.“
     „Aber doch nicht so. Wir sind nur Freunde.“


„Sicher? Wulfgar erzählte da aber was anderes“, sagte Lu, und er konnte nicht verhindern, dass er missbilligend dabei klang.
     „Naja, ich will dich nicht anlügen, damals hatte ich schon was für ihn übrig. Aber als ich es ihm sagen wollte, bin ich quasi in… ein Stelldichein mit seiner Frau gelaufen. Das war… ziemlich unschön für mich…“ Er räusperte sich verlegen. „Außerdem – selbst wenn Isaac was für mich übrig hätte, ich hab nichts mehr für ihn übrig. Nicht so. Ich wollte immer nur dich.“


„Immer? Wir haben uns damals nicht gerade gemocht, bevor du das erste Mal von hier fortgegangen bist.“
     Wulfgar schmunzelte ganz unpassend. „Ja, schon. Aber ich hab dich trotzdem nie vergessen können. All die Jahre nicht. Ich wollte immer nur dich.“ 


„Weißt du noch, wie du damals nach dem ersten Junggesellenfest Angst hattest, dass ich nur an deiner Seite bin, weil ich keine andere Auswahl hatte?“, konnte jetzt auch Lu nicht verhindern, nostalgisch werden. „Ehrlich gesagt hatte ich damals dieselbe Befürchtung, was dich angeht. Dass du mich nur genommen hast, weil du keine andere Auswahl hattest.“

 
„Du bist mein Traummann, Lu“, versicherte Wulfgar ihm inbrünstig. „Das warst du schon seit dem ersten Mal, als ich dich gesehen habe. Ich wünschte nur, ich hätte damals ehrlich zu mir und dir sein können. Nicht so ein Idiot. Das hätte mir viel erspart.“


„Und ich wünschte, ich hätte damals besser auf deine Offenbarung reagiert. Ich war nicht besser als Jin, als er das mit mir herausgefunden hat. Ich war nur so überrumpelt davon, weil ich nie gedacht hätte, dass du so bist wie ich. Ich wusste einfach nicht, was ich zu dir sagen sollte. Das tut mir bis heute leid.“


Wulfgar versuchte, für ihn zu lächeln. „Hey, lass uns nicht mehr von unseren dummen Jugendverfehlungen reden. Ich denke sowieso viel lieber an die Zeit, nachdem ich von meiner Reise wiedergekommen bin.“ Sein gezwungenes Lächeln mutierte zu einem waschechten Grinsen. „Wie du immer meine Nähe gesucht hast. Wie du immer rot geworden bist und so verschmitzt gelächelt hast, wenn ich dich auch nur an der Schulter oder so berührt hab.“
     „Ja, das waren schöne Zeiten“, fand auch Lu.
     „Ich frage mich nur, wo sie plötzlich hin sind…“


Da sah Lu nach oben, direkt in Wulfgars traurige Augen, und für einen Moment war es, als wären sie tatsächlich in der Vergangenheit. Da war er wieder, der Mann, den er einst geliebt hatte, dem er alles hatte anvertrauen können. Seine Stütze, sein Anker.
     Bevor er sich versah, spürte er, wie seine Wangen heiß wurden, aber so schnell, wie es gekommen war, verflog es wieder und wich Ernüchterung. Und diese Mischung aus Aufregung und Ernüchterung, die seinen Magen brodeln ließ, fühlte sich nicht gut an. Er war so zerrissen. Noch immer. Wollte am liebsten zurück an Wulfgars Seite, zurück in eine Zeit, die vergangen war. Und dann war da gleichzeitig auch immer der Schrecken. Die Augen des toten Räubervaters, Wulfgars kaltes Gesicht. Das Gesicht eines Fremden. Und dann wollte er nur noch vor dem Anderen davonlaufen.


Auch jetzt trat er einen Schritt zurück, und Wulfgar, der die vorige Spannung des Augenblicks gespürt hatte, griff ganz automatisch nach ihm. Aber er bekam ihn nicht zu fassen und der Moment verstrich. Erneut hatte Lu sich vor ihm verschlossen.
     „Wir sollten weitergehen“, war Lu wieder distanziert. „Es wird nicht heller, und diese ganze Sache ist dringend.“
     Wulfgar nickte, obwohl er einen Kloß im Hals hatte und hätte heulen können. Aber er folgte.
Zumindest, bis er beinahe mit Lu zusammenstieß, der keine drei Schritte weit gekommen war.


Als Wulfgar nachsah, warum er so plötzlich stehengeblieben war, sah er einen Mann vor ihnen stehen. Einen Mann mit einem Schwert in der Hand. 
     Augenblicklich sprang er vor Lu und schob seinen ehemaligen Gefährten schützend hinter sich. Doch bei seinem Anblick verfinsterte sich das Gesicht des Fremden nur noch mehr.
     „Wulfgar Blum!“, knurrte dieser und richtete das Schwert auf ihn. „Endlich habe ich dich gefunden! Endlich wirst du bezahlen für das, was du getan hast!“
     „Wer bist du denn?“
     „Das kann dir egal sein! Alles was du wissen musst, ist, dass jetzt dein letztes Stündlein geschlagen hat!“
     „Und was genau soll ich getan haben, um das zu verdienen?“  
     „Du hast meinen Meister getötet!“, fauchte der Andere.
     Da trat Lu hinzu und riet: „Rufus?“


Er war gewachsen, sah schmutzig und abgerissen aus, aber er war es ganz eindeutig.
     „Wer ist Rufus?“, fragte Wulfgar verwirrt.
     „Er ist… war Julius‘ Sklave.“
     „Dann solltest du mir doch dankbar sein, dass ich deinen Meister um die Ecke gebracht habe, da du ja jetzt frei bist.“
     „Frei!“, spukte Rufus aus. „Als ob ich je frei wäre! Ich war sein Lieblingsdiener! Was glaubst du, was seine… Schwester mit seinem Liebling getan hat, nachdem er tot war? Sie hat mich eingesperrt, hat mich gedemütigt! Ich musste hungern und die schlimmsten Arbeiten verrichten! Dann hat sie mich an alte Männer verkauft, mich aus dem Haus geworfen und mich von Sklavenjägern wieder einfangen lassen. Sie sagte, sie würde das immer wieder tun, bis es ihr langweilig würde. Wenn ich nicht entkommen wäre, würde ich jetzt ein Brandmal auf der Stirn tragen, das mich als Entflohenen kennzeichnet! Ich habe es gehasst, was ich für Julius tun musste, aber ich hatte ein Dach über dem Kopf, immer zu Essen und eine Familie! Und jetzt habe ich gar nichts mehr! Ich bin ein Entflohener! Ein Gesuchter! Und daran bist allein du schuld!“


„Das ist schrecklich, was dir zugestoßen ist, aber jetzt bist du in Sicherheit“, versuchte Lu, die Situation zu entschärfen. „Du kannst gern bei uns bleiben.“
     „Du! Wenn du nicht aufgetaucht wärst, wäre das alles nie passiert! Wenn ich mit dem da fertig bin, dann bist du als nächstes dran!“
     Wulfgar schob Lu wieder hinter sich, knurrte: „Du wirst Lu kein Haar krümmen!“
     „Halt mich doch auf!“


Ohne weitere Worte ging Rufus auf Wulfgar los, und weil der sein Schwert abgelegt hatte, hatte er doch geschworen, nicht mehr zu kämpfen, konnte er nichts tun, außer auszuweichen. Er schubste Lu aus dem Gefahrenbereich, rief ihm zu, Hilfe zu holen, und fokussierte sich dann gänzlich auf seinen Gegner. Glücklicherweise schien Rufus kein geübter Kämpfer zu sein. Seine Angriffe waren plump und unkoordiniert.
     Wulfgar machte einfach einen Ausfallschritt zu Seite, ließ den Schwerthieb an sich vorbei ins Leere gehen und griff dann nach dem Handgelenk seines Angreifers. Er bekam es beinahe zu fassen, aber als Rufus merkte, dass er es hier mit einem Gegner zu tun hatte, der ihm selbst unbewaffnet überlegen war, machte auch er schnell einen Schritt zur Seite, entzog sich Wulfgars Griff. Und bevor der reagieren konnte, war Rufus an ihm vorbeigelaufen, und Wulfgar erkannte zu spät, was er vorhatte: Er zielte auf seine Achillesferse. Auf Lu.


Wulfgars Denken setzte an diesem Punkt vollkommen aus. Er überließ sich ganz seiner Angst und seinen Instinkten, sprang zwischen seinen ehemaligen Gefährten und die todbringende Klinge, versuchte, sie zu fassen zu bekommen, aber sie zerschnitt ihm einfach die Handfläche. 
     Das erste, was er spürte, außer Angst, war ein widerliches Brennen in seinen Eingeweiden. Er sah in Rufus‘ wutverzerrtes Gesicht, spürte sein eigenes Blut, das seine Hände rutschig machte, sodass es ihm unmöglich war, die Klinge zu fassen zu bekommen. Er musste alles aufbieten, was er an Kraft noch besaß, um sein Bein zu heben, damit er Rufus von sich treten konnte. Zwar klappte es, der Andere stolperte zurück, aber blöderweise behielt er sein Schwert und sein Gleichgewicht.


Wulfgar presste die Hände auf die freigewordene Wunde, warf einen raschen Blick über die Schulter, nur, um mit Entsetzen festzustellen, dass Lu noch immer da war. Er hatte sich kein Stück weit bewegt und sah der Szene entgeistert vom Boden aus zu.
     „Lu!“, zischte er. „Verschwinde endlich!“


Rufus versuchte jetzt einen weiteren Angriff, dem Wulfgar entgegengehen wollte, aber als er sich in Bewegung setzte, fand er plötzlich keinen Halt mehr auf den Beinen. Sie klappten ihm immer wieder weg, sodass er auf den Knien hilflos seinem Untergang entgegensehen musste.
     ‚Wenigstens greift er Lu nicht mehr an‘, war das Letzte, was er unsinnigerweise dachte.


Es war die Angst. Die Angst, die Lu damals von Wulfgar davongetrieben hatte, und es war die Angst, die auch jetzt zur Triebfeder seines Handelns wurde. Als er sah, wie Rufus das Schwert hob, direkt auf Wulfgars Kopf zielte, und sein ehemaliger Gefährte sich dabei nicht regte, dachte er: ‚Ich will das nicht.‘
     Er konnte nicht ohne Wulfgar leben, erkannte er.


Also sprang er schreiend nach vorne, warf sich gegen den Angreifer, der scheinbar nicht damit gerechnet hatte und so überrumpelt war, dass Lu es schaffte, nahe genug an ihn heranzukommen. Seine Hände waren völlig taub, sodass er es nicht spürte, sondern nur in Rufus‘ Augen sah, was er getan hatte. Doch der Schrecken, den er darüber hätte empfinden sollen, erreichte ihn nicht. Denn der Schrecken, Wulfgar zu verlieren zu können, war noch viel größer. 
     Also holte er noch einmal aus, stach ein zweites Mal zu. Das Messer in seiner Hand wurde rutschig, aber er stach weiter zu. Einmal, zweimal, dreimal. Immer in dieselbe Stelle, bis das Schwert des Anderen dumpf polternd zu Boden fiel und Rufus zurückstolperte.  


Lu griff das Schwert mit klammen Fingern, richtete es auf den verletzten Angreifer. Seine Beine zitterten, wie es auch die Klinge tat, die keine Sekunde stillhalten konnte. Rufus, der vor seinen Augen immer wieder verschwamm, hatte jetzt auch die Hand auf seiner Wunde, so wie Wulfgar, und starrte darauf, dann zu ihm zurück. Wütend. Fassungslos. Der Fleck an seiner Schulter hatte inzwischen seinen ganzen rechten Ärmel und die Brust rot gefärbt. Aber selbst, als er schwer nach hinten fiel, ließ Lu ihn nicht aus den Augen, nahm die Klinge nicht von ihm.
     Erst, als etwas an ihm zog, dass er fast umfiel, und er Wulfgar sah, der Bauch genauso rot wie Rufus‘ Schulter, kam er wieder zu sich und ließ das Schwert fallen.


Sofort war er bei dem Verletzten, und es war ihm, als würde er sich in einem seiner Albträume wiederfinden, die er bei Scipionen immer gehabt hatte.
     „Wir müssen deine Wunde verbinden!“, rief er sich zur Raison. „Schnell!“
     Er wollte sich daran machen, seinen Überwurf in Streifen zu reißen, aber Wulfgar zog schon wieder an ihm.
     „Lu“, krächzte er schwer. „Es tut mir so leid…“
     „Sprich nicht!“
     Lu schluckte schwer, schluckte trotzig die Tränen und begann, eine Bandage für Wulfgar herzustellen. Seine Hände zitterten so sehr, dass es ihm kaum gelang.
     „Ich wollte doch nie, dass du – “


„Ich sagte, spricht nicht!“, fuhr er dazwischen. „Schone lieber deine Kräfte. Du musst es schließlich noch nach Hause schaffen. Ich bekomme dich nie und nimmer allein von hier weg.“
     „Es… hat keinen Sinn, Lu“, sagte Wulfgar schwach, präsentierte ihm die Wunde, die er nicht sehen wollte. „Ich war schon in einige Kämpfe verwickelt… und weiß, dass ich… das hier nicht überstehen werde…“
     Lu ignorierte ihn. Arbeitete unentwegt weiter. Also legte Wulfgar ihm mit letzter Kraft die Hand auf den Arm, zwang ihn, seine Arbeit zu unterbrechen und ihn anzusehen. Es kostete ihm alles, seinem Liebsten nicht seine Tränen zu zeigen, sondern für ihn zu lächeln.
     „Lass es gut sein, Lu… Es ist in Ordnung…“
     Doch Lu schlug seine Hand weg. „Ich sagte, du sollst nicht sprechen! Du sturer Esel!“ Und fuhr seine sinnlose Arbeit fort. Den Kampf gegen seine Tränen, ihm die Sicht zu vernebeln, verlor er jetzt dennoch.


Und Wulfgar ließ ihn von da an machen. Er brauchte sowieso all seine Kraft, um bei Bewusstsein zu bleiben.
     Als Lu ihn schließlich notdürftig verbunden hatte, hatte er kaum noch die Kraft dazu, aufzustehen, aber er tat es dennoch. Für seinen Liebsten. Er stützte sich auf ihn, beinahe so wie damals, als er sich das Bein gebrochen hatte, und ging, obwohl ihm immer wieder schwarz vor Augen wurde. Aber für Lu kam er immer noch einmal zurück. Ging immer noch einen Schritt. Denn er hatte sich geschworen, für Lu alles zu tun und bis ans Ende der Welt für ihn zu gehen.


Rufus hatte nicht diese Willenskraft. Als seine Welt begann, die Farben zu verlieren, hatte er niemanden bei sich, für den es sich durchzuhalten lohnte. Er war, im Gegenteil, voller Bedauern über all das, was er verloren hatte. Seine Heimat. Seine Familie.
     ‚Schon wieder…‘
 

Doch kurz bevor er ins Dunkel fiel, erschien ein Gesicht vor ihm, und er dachte, einen wahrhaften Engel vor sich zu haben, der gekommen war, um ihn zu holen. Und in diesem Moment konnte er endlich loslassen.


Wulfgar fand sich in einer Umgebung wieder, die ihn blendete. Er brauchte eine ganze Weile, bis er überhaupt erkannte, dass er bereits wieder sehen konnte. Denn da war einfach mal nichts vor seinen Augen. Nur Helligkeit. Schneeweiße, blendende Helle überall um ihn herum.
     Er war so erschrocken darüber, dass er für einen Moment glaubte, das Gleichgewicht zu verlieren. Aber obwohl er es letztendlich verlor und stolperte, fiel er nicht hin. Er traf auf keinen harten Boden, denn es gab überhaupt keinen Boden. Keinen Boden, keinen Himmel, nichts. Es war, als würde er im Wasser schweben, aber als er vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, versank er nicht etwa, sondern konnte mit Leichtigkeit laufen.
     „Hallo?“, probierte er, aber seine Stimme klang dumpf, erstickt. Niemand hörte sie. „Hallo? Ist hier jemand?“, versuchte er es trotzdem weiter.
     „Hier bin ich, Wulf-Papa!“


Er wirbelte herum, sah ein kleines Gesichtchen vor sich, das er so lange nicht mehr gesehen hatte. Die Augen, die ihn das letzte Mal leer und leblos angesehen hatten, waren jetzt wieder voller Leben.
     „Mari!“
     Er war mit drei Schritten bei ihr, packte sie unter den Achseln, hob sie in die Höhe und wirbelte sie herum. Ihr Haar, ihr Kleid bewegte sich kein bisschen, aber sie kicherte so unbeschwert, dass er für einen Moment seine Sorgen vergessen konnte.
     „Mari, du bist wieder da! Du lebst!“, stellte er fest und wischte sich verstohlen eine Träne aus den Augenwinkeln. „Wie ist da möglich?“


„Gar nicht“, sagte sie mit bedauerndem Gesicht. „Ich bin immer noch tot.“
     „Aber wie kannst du dann hier sein?“ Er stockte, musste schwer schlucken, bevor er wieder sprechen konnte. Er begann, sich langsam zu erinnern. „Bin ich… etwa auch tot?“
     „Noch nicht. Aber du wirst es bald sein, wenn du nicht zurück findest. Deswegen bin ich hier. Um dich auf die andere Seite zu führen, wenn es so weit ist, und dir bis dahin Gesellschaft zu leisten. Es warten drüben auch schon alle auf dich.“
     „Aber… nein, ich kann doch nicht tot sein!“, rief er entgeistert. „Lu! Ich muss zurück! Ich muss ihn beschützen vor…“
     Er brach ab. Er hatte Lu bereits beschützt. Oder besser gesagt, er hatte es nicht getan und Lu hatte ihn beschützen müssen. Er hatte Lu dazu gebracht, für ihn zu töten. Die Schuld, die sich nun widerlich in seinem Magen zusammenknäulte, nahm ihm die Worte und ließ ihm schlecht werden.


„Ich muss zurück!“, wiederholte er schließlich abgehackt, blickte Mari fest in die Augen. „Ich würde noch gerne länger hier bei dir bleiben, glaube mir, das will ich wirklich, aber ich muss zurück. Kannst du mir den Weg zurück zeigen?“
     „Ich fürchte, so einfach ist das nicht“, entgegnete sie mit unglücklichem Gesicht. „Ich kenne den Weg hinüber auf die andere Seite, ins Jenseits, aber nicht auf jene, zu der du willst.“
     Er nickte, schluckte erneut einen Kloß in seinem Hals hinunter. „Dann werde ich es eben selber versuchen müssen, den Weg zu finden.“ Er streckte die Hand aus. „Begleitest du mich?“
     Sie ergriff seine Hand, verschränkte die kleinen Finger in seine, lächelte. „Dafür bin ich hier.“
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 So viel will ich jetzt gar nicht hierzu schreiben. Nur zwei Sachen: Zum einen ist mir bewusst, dass sowohl Rufus als auch Wulfgar viel zu schnell in die Knie gegangen sind. Bei den Verletzungen hätten sie durchaus noch länger auf den Beinen bleiben können (vor allen Dingen Rufus), aber für Storyzwecke ist es jetzt halt etwas schneller gegangen. Und bei Rufus erkläre ich das auch damit, dass er einfach keinen Lebenswillen mehr hat. Er hat aufgegeben, weil er jetzt erreicht hat, was er errichen wollte und kein Ziel mehr im Leben hat.

Und zum zweiten zu Rufus selber: Er war Julius' Lieblingssklave, wie man ja schon erfahren hat. Der, der laut Klein-Wulf "das Spielzeug von diesem Julius-Typen" war und der laut Samuela von Julius geschlagen worden ist (was Julius natürlich dementiert hat). Hier sieht man ihn in Kapitel 102 im Hintergrund mit seinem Meister. Und hier mal in groß mit den anderen Sklaven. Zudem war er der Erzähler im Special zum Dreijährigen, der von der "Dichterin" die Geschichte von Narcissus und Echo und der Rache erzählt bekommen hat. Damals war er gerade auf der Suche nach Wulfgar, um sich an ihm zu rächen.
 
Nächstes Mal machen sich Wulf und Malah auf, um einen Arzt für Wulfgar zu holen, und es wird eine unerwartete, zweifache Familienzusammenführung geben.
 
PS: Wie ihr seht, habe ich übrigens schon wieder einen neuen Header. Ich hatte ja gedacht, dass ich den letzten länger behalten würde, habe mich dann aber dagegen entschieden, da ich ja nicht weiß, ob mir Headerbilder ab jetzt auf meine 15 freier Upload GB hier angerechnet werden (und ja, ich weiß, dass das viel ist, aber ich bin da sehr eigen und ärgere mich jetzt schon darüber, dass mir natürlich gleich nach der Deadline des unendlich freien Uploads eingefallen ist, dass ich vergessen habe, diverse Bilder hochzuladen....).   
 
Bis dahin, passt auf euch auf, und ich verabschiede mich!

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