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Mittwoch, 14. August 2019

Kapitel 94 - Die Dinge, die wir tun, und deren Auswirkungen VI



Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich dich das erste Mal getroffen habe. Oder sollte ich besser sagen: wie ich mit dir aneinander geraten bin? Du hattest einen Bogen in der Hand und hattest auf mich angelegt. 
     Ich hatte gedacht, dass mein letztes Stündlein geschlagen hätte. Ich kannte schließlich die Geschichten über euch. Ich habe gesehen, was ihr mit Tann gemacht habt. Den Hass, den ihr in sein Herz gepflanzt habt, dass der Mann, den ich einst geliebt hatte, langsam davon aufgefressen wurde und verschwand.


Doch du hast nicht geschossen. Du standest nur da und hast mich mit misstrauischem Gesicht gefragt: „Hast du meinen Vater gesehen? Ich bin auf der Suche nach ihm. Er ist ein älterer Mann und er war sehr krank, als ich ihn zurückließ, um Hilfe zu holen.“
     Ich wusste, wer du warst. „Die Frau von Dia Hell, die nie spricht“, haben dich alle genannt. Das hat mich immer ein bisschen geärgert. Als ob du keinen Namen hättest. Ich war selber viel zu oft nur „die Frau von Tann“ gewesen.
     Aber an diesem Tag hast du gesprochen.


Ich sagte dir: „Dein Vater ist doch sicher bei dir zu Hause. Ich habe ihn erst vorhin gesehen.“
     Ich sollte erst viel später deine zweite Seite kennenlernen; erfahren, was dieses Monster von Dia Hell dir angetan hatte. An diesem Tag jedoch wusste ich das alles noch nicht. Ich sah dich, eine energische, starke und entschlossene Frau, und du hast mich von Anfang an beeindruckt.
     Du hast mich angesehen, als ob ich den Verstand verloren hätte, aber dann hast du den Bogen runtergenommen und mir erlaubt, dich zu begleiten.


Ich erhielt die Chance, dich kennenzulernen. Wir haben den ganzen Wald zusammen abgesucht, du und ich. Ich wollte sowieso nicht nach Hause. Dort, wo mich nur wieder Hass und Streit erwartete. 
     Wir liefen im Kreis, bis es dunkel wurde, als würdest auch du den Wald nicht verlassen wollen, und dann hast du ein Feuer angemacht.


Wir haben uns auf den Boden gesetzt, der noch nach dem letzten Regenschauer gerochen hat, der am Tag davor niedergegangen war, und du hast du mir von deinem Leben erzählt. Von den Reisen, die du mit deinem Vater zusammen unternommen hast. Die Orte, die ihr gesehen, die Menschen, die ihr getroffen habt. Es war faszinierend. Du hast mich fasziniert. Du warst so voller Leben und Elan. Da war ein Feuer in deinen Augen, das ich bei mir längst erloschen glaubte. Ich hatte gedacht, dass dies mein Leben war, auszuhalten und zu bestehen, aber du hast mir gezeigt, dass es das noch nicht gewesen war. Dass da noch so viel mehr sein konnte, wenn ich es nur wollte.


Ich wollte dich danach so unbedingt wiedersehen, aber ich fand dich nicht mehr.


Da war plötzlich eine Fremde. Die starke Frau, die ich bewundert habe, war verschwunden und an ihrer Stelle war eine zerbrochene Gestalt erschienen. Aber obwohl du mich kaum angesehen hast, habe ich es gesehen.


Das Feuer in deinen Augen, tief versteckt. Es war noch immer da. Du warst noch immer da. Und manches Mal solltest du auch tatsächlich hervorkommen. Befreit von den Fesseln, die Dia Hell dir auferlegt hat.


Da habe ich einen Entschluss gefasst. Ich würde dich beschützen und dafür sorgen, dass du eines Tages wieder frei sein würdest. Dass du wieder lächeln kannst.


Jetzt lächelst du wieder und deine Augen sagen mir, dass du frei bist. Aber ich kann das Gefühl einfach nicht loswerden, dass ich dennoch versagt habe.


Letztendlich konnte ich nichts für dich tun. Letztendlich warst du es, die mich befreit hat. Und jetzt bist du fort.


„Du! Das ist deine Schuld!“, sagte plötzlich jemand zu ihr. Es stand einer direkt vor ihr, das Gesicht eine wütende Maske, aber sie konnte einfach nicht sagen, wer es war. Es drang nicht zu ihr durch. Es kam ihr alles so irreal und weit entfernt vor. „Sie hat gesagt, dass sie sich umbringt, wenn du sie verlässt! Du miese…!“


Eine blaue Wand erschien vor ihr, verdeckte die Wut. Doch Tannas Augen waren bereits wieder zu dem zusammengekrümmten Körper zu ihren Füßen zurückgekehrt. Es war alles, was sie noch sehen konnte. Und als sie es schließlich erkannte, als sie verstand, was geschehen war, hielt sie nichts mehr.


Mit einem Aufschrei war sie bei Leah, drückte sich vergeblich an den viel zu kalten Körper, bis ihre eigenen Sachen durchnässt waren. Sie wollte, dass das Leben, die Wärme in ihre Liebste zurückkehrte, aber sie wusste auch, dass das nicht geschehen würde. Sie hatte es gesehen. Ihren Geist, der inzwischen längst verschwunden war. 
    Doch sie wollte es nicht einsehen. Wollte es nicht hören. Sie ignorierte es, wie auch den Schrei, der in diesem Moment durch den anbrechenden Morgen hallte.    


„Der Geist! Da ist er! Da ist er wieder!“
     Nyotas Stimme war wie ein eiskaltes Messer, das in ihr Fleisch schnitt und sie aus einem Alptraum erweckte. Nur, dass der Alptraum in die Realität übergeschwappt war und nicht enden wollte, als sie jetzt einem anderen Geist ins böse Gesicht sah.
     „Dia Hell…“, entwich es ihr fassungslos. „Du… du warst es…“
     Der Geist ignorierte sie, sein Finger anklagend in die Ferne gerichtet. Tanna brauchte eine ganze Weile, bis sie das erkannte und endlich nachsah, auf was er zeigte. 


Tanna wirbelte herum und richtete ihren eigenen Finger auf Hana, die noch immer unschuldig am Rande der Versammlung stand. 
     „Er zeigt auf dich!“, rief sie wütend. „Was hast du getan?“


Hana sah nun selber erschrocken aus, aber so schnell, wie der Schrecken auf ihr Gesicht gewandert war, verschwand er davon auch wieder. Sie wusste, was sie getan hatte und sie wusste, dass es an der Zeit war, es zu erzählen. Also tat sie es.


„Ich habe Dia in meiner Kindheit getroffen, als er selber noch fast ein Kind war. Er kam schwach auf die Welt und war oft krank, weshalb seine Eltern ihn aussetzen wollten, wurde mir erzählt.“


„Er hatte eine große Schwester, Cleo, die das jedoch nicht einsehen wollte. Sie nahm ihn und lief mit ihm fort, als sie selber kaum älter war als ich damals. Sie hatten es danach schwer, bis sie schließlich in einem benachbarten Stamm unterkamen und dort ein neues Zuhause fanden.


„Dia war ein fürchterlich weinerlicher Kerl, als ich damals mit Vater zusammen auf der Durchreise zu diesem Stamm kam.“


„Er klebte wie verrückt an seiner Schwester, hat sich nichts allein getraut, und sie hat ihn immer bemuttert und beschützt. Und Cleo; sie war gerade frisch mit dem ältesten Sohn ihres Häuptlings liiert. Aber sie wollte keine Mutter werden. Sie wollte frei sein. So wie wir. Wir haben uns sofort verstanden.“


„Ich habe sie immer zu Ausflügen in die Wildnis verleitet und ihr kleiner Bruder ist uns wie eine Klette gefolgt, obwohl er sich jedes Mal vor Angst beinahe in die Hosen gemacht hat.“


„Und eines Tages gerieten wir dabei in die Fänge von…. ich weiß es nicht. Vielleicht waren es Menschenfresser.“


„Sie nahmen uns gefangen und… töten Cleo vor unseren Augen.“


„Ich war vor Angst wie gelähmt, aber Dia… er war so klein und schmächtig, doch als er sah, dass seine geliebte Schwester tot war, ist er durchgedreht. Er hat einen unserer Wärter überwältigt und… es waren zwei Männer, die größer waren als er, aber er hat sie einfach niedergemacht. Es war Wahnsinn. Er war so schnell und wendig. Sie haben ihn einfach nicht bekommen.“


„Ich habe mich in dem Chaos davongemacht, und das war mein Glück. Als Dia mit unseren Entführern fertig war, wollte er nämlich auf mich losgehen. Er ist mir hinterher, aber in der Nähe war ein Fluss und da bin ich reingesprungen. Ich konnte zum Glück schwimmen. Er nicht. Er ist am Ufer zurückgeblieben und hat mich beschimpft. Sein Schreien hat mich ewig verfolgt.“


  Cleo sie… als ich dich sah, Akara, dachte ich, ich würde ihr ins Gesicht sehen. Du siehst ihr so verdammt ähnlich. Aber das ist auch nicht verwunderlich. Dia war das gespuckte Ebenbild seiner Schwester.“


Akara hatte das nie gewusst. Ihr Vater hatte es ja auch nie erzählt. Er hatte nie von seiner Vergangenheit erzählt und sie hatte nie nachgefragt. Niemand hatte das. Für sie war er von Anfang an immer ein durch und durch böser Mensch gewesen. Zu denken, dass er früher mal eine verängstigte Heulsuse gewesen war, wäre ihr nie in den Sinn gekommen.
     Es war nicht so, dass sie plötzlich Mitleid mit ihm bekam. Dafür hatte er sich einfach zu viel zu Schulden kommen lassen. Egal, was ihm auch widerfahren war, niemand sollte die Dinge tun, die er anderen angetan hatte.
     Aber dennoch warf es ein neues Licht auf ihren Vater. Und die Frage, die sie sich schon seit dem Tag stellte, an dem Anya sie am Brunnen angeschrien hatte: Warum hatte er ihre Schwester missbraucht und sie verschont? Die Schuldgefühle darüber hatte sie manchmal beinahe in die Verzweiflung getrieben.
     Konnte es wirklich sein, dass er sie in Ruhe gelassen hatte, weil sie seiner Schwester, die er so geliebt hatte, wie aus dem Gesicht geschnitten war? 


„Ich wusste nicht, was aus ihm geworden ist“, fuhr Hana fort, „aber wenn er ein schlechter Mensch geworden ist, dann bin ich wahrscheinlich dafür verantwortlich. Weil ich seine Schwester dazu verleitet habe, in ihren Tod zu gehen… Es tut mir leid. Es ist wohl besser, wenn ich wieder von hier fortgehe.“
     Niemand sagte etwas dazu, und bald schon war nur noch das Weinen der Hinterbliebenen zu hören.


Am Folgetag fand Leahs Bestattung statt, und nicht nur ihre. Ihr Vater war ihr nämlich noch am selben Tag ins Grab gefolgt. Das Urgestein Cain, von dem manche schon geglaubt hatten, dass die Götter ihm Unsterblichkeit verliehen hätten, war schließlich doch von ihnen gegangen.
     Trotz anfänglicher Skepsis ihr gegenüber, hatte man Tanna zur Beerdigung kommen lassen, auch wenn sie nur kurz dagewesen war, und sogar Tanja hatte sich eingeschmuggelt.


Tann, Malah, Jana, Aan und Elrik wohnten der Zeremonie vom Rande ihres eigenen Hofes aus bei. Natürlich war niemand von den Nachbarn eingeladen worden und sogar ihre Grabbeigaben hatten die Hells entschieden abgelehnt.


„Tanna… wie geht es dir?“, empfing Tann die Zurückkehrende nach der Zeremonie sogleich mit einem besorgten Gesicht.
     „Den Umständen entsprechend. Aber das wird vorbeigehen“, erwiderte Tanna ernst. Als sie in die betroffenen Gesichter ringsum sah, rang sie sich ein wehleidiges Lächeln ab. „Ihr braucht nicht so mitleidig zu gucken. Ich gehe mit dem Tod anders um als ihr. Ich bin traurig, dass ich Leah nie wieder in den Armen halten kann, aber dennoch hat sie mich nie verlassen. Sie ist da und wartet auf mich. Und sie ist endlich von ihrem Wahnsinn befreit. Ich kann sie zwar nicht verstehen, aber das sehe ich. Sie ist glücklich.“
      Das stimmte. Auch wenn Leahs Geist gerade bei ihren Kindern auf ihrer eigenen Beerdigung war, war sie nicht wie die Geister anderer Toter verschwunden. Weil sie sich dazu entschlossen hatte, zu bleiben, wie Tanna wusste. Bei ihr.


Dennoch war es nicht so, dass Leahs Tod sie kalt ließ. Sie kräuselte die Nase und presste durch zusammengebissene Zähne hindurch: „Wir sollten lieber zusehen, dass wir uns um Dias Geist kümmern.“
    „War er es wirklich?“, wollte Elrik wissen.
    „Natürlich war er es!“, ereiferte sich Jana. „Nyota hat ihn doch gesehen!“
    Normalerweise war es so, dass niemand außer den Geistersehern die Verstorbenen sehen konnte. Aber manchmal konnten auch Verwandte ihre toten Angehörigen sehen und in ganz seltenen Fällen konnten sich Geister für kurze Momente sogar Fremden zeigen. Das hatte ihr Vater Tibit ihr zumindest so erzählt.
     Trotzdem war es ungewöhnlich, dass Tanna Dia bislang nicht gesehen hatte. Als würde er nicht gesehen werden wollen.


„Und wie werden wir ihn wieder los?“, fragte Elrik weiter.
     „Das weiß ich leider auch nicht. Ich habe meinem Vater damals leider nicht so gut zugehört, wie ich es hätte tun sollen, als er von den Geistern erzählt hat.“
     Und jetzt war er nicht mehr da, um ihn fragen zu können. Nicht einmal mehr sein Geist. Seitdem es Tann besser ging, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Auch die anderen Geister nicht. Manchmal tauchten Diana, Dala, Tuck und Tara noch um Rahn herum auf, aber momentan schien sein Herz glücklicherweise so stabil zu sein, sodass auch sie wegblieben.
      „Du warst damals ja auch noch sehr jung“, versuchte Tann sie zu trösten, was unnötig war. „Mach dir keinen Kopf.“
     „Das tue ich aber! Ich will Dia Hell von dieser Welt verbannen für das, was er Leah angetan hat!“
     Sie wussten noch immer nicht, was geschehen war, mutmaßten anhand von Leahs vorherigem Verhalten aber, dass sie selber in den Brunnen gesprungen war. Aus Angst, dass ihr Peiniger zurückgekehrt war. Warum aber ausgerechnet sie ihn gesehen hatte, wussten sie auch nicht.


„Vielleicht weiß unser Schamane ja, wie wir einen bösen Geist vertreiben können“, hatte Malah die Idee.
     Lu war noch immer auf der Suche nach Luis, der nach wie vor verschwunden war. Jana sah sofort getroffen aus, als sie ihn erwähnte.
     „Jana, vielleicht solltest du bei den anderen Stämmen mal anfragen“, schlug Tann ihr vor, als er das sah. „Vielleicht wissen die ja etwas.“


Jana nickte eifrig und war sofort losgezogen. Aan, der ja nicht glaubte, dass irgendein magisches Ritual Dia Hell vertreiben würde, sah ihr nach und schwieg, bis sie weg war.
     „Wir sollten trotzdem schauen, ob wir ihn irgendwie anders loswerden“, sagte er. „Es hat auf jeden Fall irgendetwas mit dieser Hana zu tun, dass er nach all der Zeit plötzlich aufgetaucht ist.“
     Dia Hell war erst aufgetaucht, seitdem sie hier war. Und seitdem sie zum Handelsposten zurückgegangen war, war auch er ruhig geblieben.
     Doch wie sie das für sich benutzen konnten, wussten sie auch nicht.


Derweil machte sich Tanja Sorgen um Wirt. Nachdem er sie damals von sich gewiesen hatte, als Leah sich schon einmal das Leben hatte nehmen wollen wegen ihrer Mutter, hatte sie eine geradezu panische Angst, dass er es wieder tun würde.
     Die ganze Beerdigung über hatte sie an seinem Arm gehangen und ihm immer wieder verängstigte Blicke zugeworfen, während Wirt so abwesend war, wie schon lange nicht mehr. Der Tod seiner Mutter und seines Großvaters hatte vor allen Dingen ihn sehr schwer getroffen. Sie alle wussten, was für eine besondere Verbindung er zu ihnen gehabt hatte.


Auch nach der Beerdigung änderte sich das nicht. Er saß am Brunnen, wo seine Mutter gestorben war, war weggetreten und sprach mit niemandem.
     Tanja wollte ihm helfen. Doch sie konnte sich ihm noch immer nicht nähern. Sie wusste inzwischen, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Wie hätte sie auch nicht. Wirt war ein liebevoller und guter Kerl, der immer zu ihr gestanden hatte, obwohl sie durchweg gemein zu ihm gewesen war. Und selbst als sie es eingesehen hatte, dass es so war, hatte sie sich trotzdem lange Zeit geweigert, das auch zu akzeptieren. Sie hatte lange versucht, jemand anderen zu finden. Jemanden, der besser war als Wirt. Doch es gab niemand besseren als ihn.
     Und jetzt, wo er plötzlich so leblos erschien, war ihr angst und bange, dass sie ihn verlieren könnte. Jetzt wollte sie nur noch zu ihm gehen und sich ihm offenbaren. Aber sie wusste einfach nicht, wie sie das tun sollte. Da war noch immer diese unsinnige Barriere in ihr und der plötzliche Zweifel, ob er sie überhaupt haben wollen würde. Sie hatte nie daran gezweifelt, aber inzwischen fragte sie sich immer öfter, was er eigentlich an ihr finden sollte. Sie war gemein und egoistisch, selbstverliebt und sie hatte eine widerliche Persönlichkeit. Alles, was Diana –was all die Leute immer über sie gesagt hatten, stimmte.


„Was soll ich nur tun? Ich habe so eine Angst um ihn“, fragte sie den Geist, der neben ihr stand. Es war Leah, Wirts tote Mutter.
     „Du weißt, was du tun musst“, hörte sie die hallende Geisterstimme sagen. „Du musst von jetzt an für ihn da sein. Denn ich kann es nicht mehr. Ich bin es nie gewesen. Ich habe ihn und meine anderen Kinder im Stich gelassen.“
     „Aber… ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Ich kann einfach nicht…“


„Du musst aber. Mein armer Junge hat seinen Lebenswillen schon vor viel zu langer Zeit verloren“, erzählte Leah traurig. „Er hat lange Zeit nur für mich durchgehalten, aber jetzt, wo ich nicht mehr da bin, glaubt er, dass seine Aufgabe vorbei ist. Dass niemand mehr ihn braucht.“
      Ich brauche ihn aber!“, entwich es Tanja erschrocken.
     „Aber das weiß er nicht. Er glaubt, dass du auch ohne ihn zurechtkommen wirst. Er glaubt, dass du ihn eigentlich verabscheust.“
     „Das… stimmt aber doch nicht.“
     „Dann sag es ihm. Es ist deine letzte Chance, sonst wird mein Junge bald schon wieder bei mir sein. Und so gern ich ihn auch um mich habe, ist es dafür noch zu früh.“


Im nächsten Moment war sie verschwunden und als sie neben Wirt wieder auftauchte, bemerkte Tanja auch Cain, der bereits neben seinem Enkel stand. Und das erschreckte sie. Sie wusste ja, was es bedeutete, wenn die Geister sich anfingen, um einen Lebenden zu scharen.
     Sie hatte die Geister immer schon gesehen, und sie hatten auch zu ihr gesprochen. Damals, als kleines Kind, hatte sie sie ignoriert, weil sie Angst vor ihnen gehabt hatte. Und später hatte sie sich eingeredet, dass sie gar nicht da waren. Sie hatte sie jedenfalls nie sehen wollen und hatte geglaubt, dass etwas mit ihr nicht stimmte, wenn sie sowas sah. 
     Erst, seitdem sie wusste, dass sie das von ihrer Mutter hatte, hatte sich das geändert. Sie wollte zwar nach wie vor nichts mit den Geistern zu tun haben, aber immerhin nahm sie jetzt wieder Notiz von ihnen. Von ihren Großeltern, von Diana, die ihr immer wieder sagte, dass sie sich endlich einen Ruck geben sollte, und auch von Leah.


Also gab sie sich einen Ruck und ging zu Wirt hinüber. Es war an der Zeit, sich zu ändern. Für jemanden, der ihr so wichtig geworden war, wie noch nie zuvor etwas in ihrem Leben. Sie wollte nicht mehr ohne ihn sein. Nie wieder.
     „Wirt?“
     Doch er sah sie nicht an. Es schnürte Tanja beinahe die Kehle zu bei diesem Anblick.


Sie ging vor ihm auf die Knie und nahm seine Hand in ihre, strich vorsichtig darüber.
     „Es tut mir leid, dass deine Mutter gestorben ist“, sagte sie behutsam. „Aber ich habe ihr versprochen, an ihrer statt auf dich aufzupassen. Ich werde von nun an für dich da sein.“


Da entzog Wirt ihr seine Hand wieder, was ihr Angst machte. Als er jetzt den Kopf schüttelte, musste sie gegen ihre aufkommenden Tränen ankämpfen.
     „Warum nicht?“, fragte sie mit brechender Stimme.
     Ein winziges Lächeln verirrte sich auf sein Gesicht, doch es war nicht echt. Seine Augen gingen noch immer durch sie hindurch. „Du musst dich nicht um mich kümmern. Ich weiß, dass ich dich langweile.“
     „Wie kommst du auf sowas?
     „Du hast es gesagt. Du sagtest, ich sei langweilig und hässlich, und du hast recht.“
     Er hatte es nicht vergessen, was sie vor so langer Zeit über ihn gesagt hatte, als er es nicht hatte hören sollen. Es war für sie wie ein Schlag in den Bauch. Ihr blieb die Luft weg. Was hatte sie sich überhaupt dabei gedacht, so etwas Dummes zu sagen?


„Oh, Wirt, ich hatte doch keine Ahnung, was ich da sagte! Ich kannte dich doch gar nicht und…“ Verlegen murmelte sie: „Du bist auch nicht hässlich. Im-im Gegenteil. Ich… also… was ich damit sagen will, ist… du bist ein guter und toller Kerl und ich…“
     Sie konnte es einfach nicht sagen und sie hasste sich so dafür. Warum konnte sie es nur nicht?


 Leah geriet ihr ins Sichtfeld und als sie Wirt nun wieder ins Gesicht sah, wusste sie, dass er bald zu ihr gehen würde, wenn sie nichts unternahm. Er war schon so lange traurig und er hatte bislang nur für seine Mutter durchgehalten. Doch Tanja wollte nicht, dass er sie verließ. Die Vorstellung machte ihr so eine Angst, dass sie glaubte, selber sterben zu müssen.


„Ich liebe dich, Wirt!“, brach es schließlich aus ihr heraus, bevor sie ihm um den Hals fiel und sich an ihn klammerte. „Bitte bleib bei mir!“
     Sie spürte, wie er zusammenzuckte, aber dann lange Zeit einfach nur gar nichts tat, während sie nur bangte und hoffte und mit ihrer Angst zu kämpfen hatte.


Erst, als er schließlich die Arme um sie schloss und sie hörte, wie er zu weinen anfing, fiel die Angst von ihr ab.
     Wirt weinte an diesem Tag ein letztes Mal um seine Mutter und seinen Großvater, aber danach weinte er nie wieder.


Er begann von da an wieder zu lächeln, für seine Frau Tanja und nur für sie, aber ansonsten blieb er so ruhig wie eh und je.


Und auch Tanja veränderte sich. Wo sie zuvor Greta alle Konkurrenz gemacht hatte, wurde sie ruhiger und vernünftiger.


Ihre bissige Art schaffte sie zwar niemals wirklich abzulegen, und sie wollte nach wie vor nichts von anderen Menschen wissen, aber auf ihren Zukünftigen ließ sie nichts kommen. Wenn jemand schlecht über den stillen Wirt redete, verteidigte sie ihn mit Händen und Füßen.


Kurz darauf ging sie zu ihrem Bruder, dem Stammesführer, und erklärte, ausziehen zu wollen.


Denn sie würde Wirt heiraten und er würde ein Haus für sie beide bauen.
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Hier weiterlesen -> Kapitel 95 

Ich habe lange überlegt, ob ich Cain und Leah sterben lassen sollte. Vor allen Dingen bei Cain fiel mir das schwer, da Leah ja immerhin als Geist erhalten bleibt und sie jetzt endlich frei von ihrem Wahn ist. Aber letztendlich war es unvermeidlich. Leah hat zu sehr unter Dia gelitten, sodass sie dem Wahnsinn verfallen ist und Selbstmord begangen hat, als sie ihren ehemaligen Peiniger wiedergesehen hat. Sie war gar nicht mehr genug bei Verstand, um zu verstehen, dass er nur ein Geist und damit schon tot ist. Und da Leah gestorben ist, musste zwangsläufig auch ihr Vater gehen, da auch er nur noch für seine Tochter durchgehalten hat.

Jetzt kennen wir also auch Dias Vergangenheit und den Grund, warum er so voller Hass auf alles und jeden war. Tann hatte damals nur das Pech, ihm über den Weg zu laufen, nachdem seine Schwester getötet worden war und er durch die Gegend geirrt ist. Einen richtigen Grund hatte das also nie. 
Diesen Rückblick wollte ich ursprünglich gar nicht bebildern, aber dann hat mammut so viele tolle Steinzeitsachen gemacht, dass ich sie unbedingt mal verwenden wollte. Auch die schöne Welt, Urduna, in der ich die Bilder geschossen habe, stammt von ihr. Zu finden ist sie hier.

Nächstes Mal dann erreicht ein Reiter aus Bärenwald endlich den Stamm, und es wird die erste Hochzeit in der Gegend gefeiert.

Bis dahin, danke fürs Vorbeischauen, und bis zum nächsten Mal!
 

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