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Mittwoch, 17. Juli 2019

Kapitel 92 - Luis' Trip


Sie fanden Alistair und Gisela auch in der nächsten Zeit nicht. Jana und Aan beschlossen daraufhin schließlich schweren Herzens, die Suche nach ihm aufzugeben. 
     Aan sprach danach mit keinem Wort an, was er Lu an den Kopf geworfen hatte und auch der tat das nicht. Stattdessen begann er, wieder bei der Organisation des Stammes zu helfen, und darüber war der Schamane ganz schön froh. Genauso wie er froh darüber war, dass Jana ebenfalls wieder die Alte wurde.


Es war eines Abends, zwei Tage, nachdem sie die Suche nach Alistair und Gisela aufgegeben hatten. Die alles verbrennende Sonne war endlich unter ihre Bettdecke verschwunden, aber es war immer noch drückend heiß. Ein Linderung bringender Regen ließ nach wie vor auf sich warten und deshalb opferte der Schamane des Uruk-Stammes an diesem Abend dem Geist des Wassers, um für seinen heilsamen Segen zu bitten.
     Jana hatte die Chance genutzt, ihm nachzugehen. Sie hatte lange darüber nachgedacht und nachdem der Schamane ihr und Aan letztens geholfen hatte, war sie sich sicherer denn je. Sie wusste inzwischen, dass es einen Posten der Hauptjägermeisterin, den Elrik ihr damals als Kind im Austausch gegen ihren Bogen versprochen hatte, niemals geben würde. Warum also nicht Schamane werden?


Sie wartete geduldig, bis Lu sein Gebet beendet hatte und ging dann zu ihm hinüber, um ihn von ihrem Plan zu berichten. Es war untertrieben, zu behaupten, dass er nur ein bisschen überrumpelt davon war.
     „Wie kommst du darauf, Schamanin werden zu wollen?“, fragte er sie.
     Er hatte ja schon bemerkt, dass Jana seinen Geschichten immer besonders ehrfürchtig lauschte, und sie war mit ihren Problemen und Sorgen auch immer zu ihm gekommen.


„Du bist immer so ruhig und nix kann dich aus der Ruhe bringen, Schamane“, sprach Jana mit leuchtenden Augen. „Das ist so großartig! So will ich auch sein! Ich will, dass die Leute mir zuhören. Ich will ihnen helfen, so wie du. Und ich will die Geschichten der Götter erzählen.“
      Lu erlebte selten solch einen Enthusiasmus bei Jana. Und das ging ihm nahe. Wenn er sie die letzte Zeit über sah, waren ihre Augen viel zu oft leer oder aber voller Wut. Sie waren so selten mit Freude erfüllt, wie in den Momenten, wenn sie mit ihrer Familie zu tun hatte oder jetzt in diesem Moment, als sie begeistert von den Göttern erzählte. Ihre Leidenschaft erinnerte ihn beinahe schon ein bisschen an ihn selber. Er hatte es vielleicht nie so nach außen hin gezeigt, aber was sie sagte, war es, was er fühlte, wenn er mit den Göttern sprach.


„Ich finde es wirklich großartig, wie verbunden du den Göttern bist, Jana, aber du weißt sicherlich auch, dass Luis ebenfalls Schamane werden will, oder?“, musste er jedoch anmerken. „Und er hat, im Gegensatz zu dir, sein ganzes Leben lang alles von mir gelernt, was es braucht, um meine Nachfolge anzutreten.“
     Sofort verschwand die Freude aus Janas Gesicht. „Oh, ich versteh schon. Ich hatte keine Chance Stammesführerin zu werden, weil ich nicht Tanns Tochter bin und Schamane kann ich auch nicht werden, weil ich nicht deine Tochter bin.“
     „Nein, so ist das nicht, Jana. Der Posten des Schamanen ist kein erbliches Amt. Denn du kannst jemandem beibringen, wie man andere anführt, egal ob er das dann auch gut macht oder nicht, aber du kannst niemandem beibringen, zu glauben. Das ist etwas, das von dir selber kommen muss. Es ist nur so, dass ihr euch beide jetzt zuerst beweisen müsst, bevor ich eine Entscheidung treffen kann, wer von euch es letztendlich wird. Das war alles, was ich damit sagen wollte, als ich Luis anführte.“
     Er wusste nicht, ob das richtig war, aber es war nur gerecht, dass jeder die Chance bekam, Schamane zu werden. Er konnte Luis nicht einfach bevorzugen, nur weil er sein Sohn war.


 „Oh, toll!“, war sie da wieder voll Begeisterung. „Ich werd – ja ich werd gleich mal Aan fragen, dass er mir dieses Schiff-Zeug beibringt. Dann kann ich deine Geschichten und alles aufmalen und vorlesen, wenn ich es brauche. Super! Jetzt weiß ich auch endlich, wofür das gut ist.“
      Woraufhin Jana entschwand. Lu freute sich ja, dass sie voller Tatendrang war, aber gleichzeitig grauste es ihm auch davor, mit Luis darüber reden zu müssen. Doch es musste sein. Er hatte das schon viel zu lange aufgeschoben.


Dennoch war ihm nach Weglaufen zumute, als er am nächsten Vormittag das Haus betrat, wo sein Sohn bereits auf ihn wartete. Luis stand mit dem Rücken zu ihm, aber er hätte auch keinerlei Notiz von ihm genommen, wenn er vor ihm gestanden hätte, wie er wusste.


Also nahm er allen Mut zusammen und rief ihn. Luis drehte sich daraufhin zu ihm, aber seine Augen verfehlten ihn knapp. „Ja, Vater?“
     „Es geht um deinen Wunsch, Schamane zu werden“, begann Lu zögerlich. „Ich muss dir sagen, dass Jana ebenfalls Interesse daran angemeldet hat, meine Nachfolge anzutreten.“


Luis starrte einen Punkt neben ihm an, dann brach er jedoch in Gelächter aus.
     „Was für ein schlechter Witz“, meinte er, bevor er still wurde und lauschte. „Warum sagst du denn nichts mehr?“
     „Das ist kein Witz, Luis. Sie meint das ernst.“
     „Ach, komm schon! Sie kann sich ja noch nicht mal eine der Göttergeschichten merken! Außerdem habe ich bei dir gelernt, seitdem ich klein war. Da kann sie doch jetzt nicht allen Ernstes ankommen und Schamane werden wollen! Das ist lächerlich! Sie weiß doch überhaupt nichts, was es braucht, um ein Schamane zu sein!“
     „Nun, du hast vielleicht jahrelang bei mir gelernt, aber Jana hat dafür etwas anderes, was ich befürchte, dir fehlt, um ein guter Schamane zu sein.“


„Und das wäre?“, fragte Luis patzig.
     „Verbindungen zu anderen. Du hast nicht wirklich viel mit den anderen Stammesmitgliedern zu tun.“ Lu schüttelte schwer den Kopf. „Nicht einmal zum Stammesführer hast du wirklich Kontakt. Du ziehst dich lieber zurück und bist für dich, aber um ein guter Schamane zu sein, reicht es nicht, nur das Wissen um die Götter und die Rituale mitzubringen. Als Schamane musst du auch den anderen Stammesmitgliedern mit Rat und Tat zur Seite stehen.“


Lu befürchtete schon lange, dass Luis das nicht würde tun können, aber er hatte sich bislang davor gescheut, mit ihm zu reden. Sich darum zu kümmern. Zuerst hatte er zu viel zu tun gehabt. Die Stammesführung, die er und Aan übernommen hatten, hatte ihn viel zu oft davon abgelenkt. Sogar von seinen eigentlichen Aufgaben. Der Fürsorge über den Stamm. Die Gottesrituale. Er war so beschäftigt gewesen, dass er jeden Abend todmüde ins Bett gefallen war und er nur gedacht hatte: Wie konnte Tann das all die Jahre nur aushalten?
     Er hatte es seitdem immer wieder bereut, Elrik überhaupt geholfen zu haben, die Führung zu übernehmen, aber was hätte er damals auch anderes tun sollen? Er hatte gehofft, dass Elrik schon noch in die Aufgabe hineinwachsen würde, für die er nicht bereit gewesen war, doch er hatte sich geirrt. Der Schamane hatte stattdessen von Anfang an den Löwenanteil an der Stammesführung erledigt, und er war erleichtert gewesen, dass Aan ihm dann irgendwann zu Hilfe gekommen war. Vor allen Dingen mit zunehmendem Alter war er froh gewesen, einige Dinge dem Jüngeren überlassen zu können.
     Doch obwohl er immerzu beschäftigt gewesen war, hatte er letztendlich auch einfach nur Angst davor gehabt, sich der Aufgabe zu stellen, Luis auf das Amt vorzubereiten, für das er so wenig bereit war, wie Elrik damals für seines. Deswegen hatte er es auch so lange wie möglich heraus gezögert, seinen Sohn übernehmen zu lassen, obwohl es längst an der Zeit dafür war.


„Du musst ihnen zuhören, wenn sie zu dir kommen und ihnen helfend zur Seite stehen“, fuhr er ruhig fort. „Und du bist auch die rechte Hand des Stammesführers. Glaubst du wirklich, dass du das kannst?“
     „Natürlich!“
     „Vielleicht traust du dir das zu, aber die Frage ist, ob die Anderen dir auch genug vertrauen, um zu dir zu kommen.“ Lu schwieg einen Augenblick, bevor er hinzufügte: „Bei Jana habe ich weniger Sorgen, was das angeht.“
      Luis wurde wütend. „Jana weiß nicht einmal, wie sie sich selber beruhigen kann. Sie schlägt die Leute höchstens nieder, wenn sie zu ihr kommen.“
      „Jana wird in ihrer Aufgabe als Schamane reifen, da bin ich mir sicher. Als ich jünger war, war ich auch nicht der Ruhigste. Ich war, im Gegenteil, schwierig, oft wütend und nicht sehr umgänglich. Aber als ich meine Bestimmung bei den Göttern fand, änderte sich das. Seitdem ich wusste, wo ich hingehörte. Und ich bin mir sicher, dass es Jana ebenfalls ändern wird. Sie wird älter. Sie wird weiser. Und sie wird ruhiger werden. Sie ist es bereits geworden.“


„Warte! Denkst du etwa wirklich darüber nach, sie zu deiner Nachfolgerin zu machen? Und was ist dann mit mir?“, war Luis plötzlich erschrocken.
      „Ich werde Jana die Chance geben, sich zu beweisen, aber auch du wirst die Chance erhalten, dich zu beweisen. Weißt du, du hast vielleicht keine Verbindungen zum Stamm, doch so, wie Jana die Geschichten und Rituale lernen kann, kannst auch du den Umgang mit anderen Menschen lernen.“
     Lu schwieg erneut, ließ seinem Sohn die Möglichkeit, etwas zu sagen, aber da er still blieb, erzählte er: „Weißt du, früher war ich nicht nur oft wütend, so wie Jana, sondern gab es eine Zeit, in der ich mich bewusst von allen anderen zurückgezogen habe. Ich wollte nichts mit ihnen zu tun haben und dachte, dass ich allein besser dran wäre. Aber dann hat mir Tann geholfen, als ich nicht damit gerechnet habe und er hat mir damit gezeigt, dass wir in einem Stamm zusammenhalten müssen. Seitdem wollte ich immer etwas für den Stamm tun; etwas tun, um mich bei Tann zu revanchieren. Ich habe mich deshalb geändert. Es hat lange gedauert, aber heute bin ich derjenige, der für andere da ist, der ihnen zuhört und ihnen versucht zu helfen. Und deshalb glaube ich, dass du es auch lernen kannst. Du musst es nur wollen.“


Er streckte Luis die Hand hin, die er nicht sehen würde. „Was sagst du dazu, dass ich dir helfe? Bei deinem ersten Schritt?“
     „Welcher erste Schritt?“
     „Die Wahrheit. Du solltest anfangen, ehrlich zu deinen Mitmenschen zu sein.“
     „Wieso ehrlich? Ich bin ehrlich!“, behauptete Luis uneinsichtig.
     Lu zögerte, aber dann tat er doch, was er sich einst vorgenommen hatte, nicht zu tun. „Ich weiß, dass deine Mutter dich das schon einmal gefragt hat, aber... Luis, sei ehrlich zu mir, wie viel kannst du noch sehen? Oder bist du bereits vollkommen blind?“
     „Wenn du mit Mutter geredet hast, weißt du ja, was ich ihr dazu gesagt habe, und ich werde auch dir nichts anderes sagen.“
     „Luis, bitte!“, bat Lu verzweifelt, und dann machte er es noch schlimmer, indem er sagte: „Es ist offensichtlich, dass du schlecht siehst. Alle können das sehen. Nicht nur ich. Das weiß ich.“


Er sah den Schrecken in Luis blinden Augen und da wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. 
     Luis hatte sich all die Jahre so viel Mühe gegeben, damit niemand bemerkte, dass seine Sicht immer schlechter wurde damit es sein Vater nicht bemerkte aber jetzt sollten es wirklich bereits alle wissen? Die Angst, dass es so sein sollte, die Scham darüber, ließ ihn jegliches Denken aussetzen lassen.
      „Weißt du was, wenn du so begeistert von Jana bist, gib ihr doch einfach den Posten! Ich will ihn nämlich nicht mehr!“, wehrte er ab, bevor er umdrehte und seinen Vater einfach stehen ließ.
      Wie sollte er jetzt auch noch Schamane werden? Jetzt, wo er nichts mehr sehen konnte und alle es wussten?


Und während Luis aus dem Haus stürmte, blieb Lu tief getroffen allein zurück. Jetzt zeigte sich also doch, was für ein schlechter Vater er war. Er hatte es immer befürchtet, dass es eines Tages dazu kommen würde. Schon, als Lulu ihn damals darum gebeten hatte, der Vater für ihr Kind zu werden. Er hatte versagt.


Luis derweil konnte nicht fassen, was er gerade getan hatte. Er hatte so lange gehofft, dass seine Sicht wieder besser - oder zumindest nicht schlechter - werden würde, aber das war nicht geschehen. Stattdessen war er vor ein paar Monden aufgewacht und seine Welt war von da an stockfinster gewesen. 
     Er hatte es, tief drinnen, bereits geahnt gehabt, dass es so kommen würde, wenn er ehrlich war, aber es hatte ihn dennoch zu Tode erschreckt, plötzlich überhaupt nichts mehr sehen zu können. Er war nur froh gewesen, dass er schon lange allein zurechtkam, auch ohne seine Augen.
     Also hatte er sich zusammengerissen, hatte seine Angst versteckt, so wie er auch seine Blindheit vor allen anderen zu verstecken versucht hatte. Er hatte schließlich verhindern wollen, dass vor allen Dingen sein Vater davon erfuhr, weil er doch wusste, dass es das dann mit seinem Traum, Schamane zu werden, gewesen wäre. Und jetzt hatte er ihn nicht nur vor den Kopf gestoßen, sondern war auch noch davongerannt wie ein kleines, beleidigtes Kind und… wo war er eigentlich?


Als ihm bewusst wurde, dass er keine Ahnung hatte, wo er sich gerade befand, erstarrte er. Die Angst hatte ihn mit einem Mal so fest im Griff, dass ihm trotz der heißen Sonne, die er auf der Haut spürte, eiskalt wurde. Wie sollte er nur wieder zurückfinden, wenn er nicht einmal etwas sehen konnte?
     Doch er kam gar nicht dazu, sich weiter darüber Sorgen zu machen, da sich eine Stimme im Folgenden daran machte, sein Herz vollkommen aussetzen zu lassen.  


„Hallo, du, hast du dich vielleicht verlaufen?“
     Luis drehte sich erschrocken in die Richtung, aus der die helle, fröhliche Stimme kam, aber er sah natürlich nichts.
     „Kannst du mich nicht verstehen?“


„Doch“, zwang er sich, zu sagen.
     „Oh, gut. Ich dachte, ich spreche vielleicht irgendetwas falsch aus. Ich komme nicht von hier, musst du wissen.“ Nach einem Moment, in dem er schon befürchtete, dass sie weggegangen war: „Ich bin übrigens Luna.“
     Er nannte ihr seinen Namen und da fragte sie: „Sag mal, Luis, kann es sein, dass du blind bist?“


„Ist das wirklich so offensichtlich?“
     „Oh, für mich schon, aber ich bin auch eine Priesterin“, erzählte sie fröhlich. „Und als solche ist es meine Aufgabe, den Hilfsbedürftigen zu helfen. Deswegen habe ich viel mit Leuten wie dir zu tun.“


Er war aber nicht hilfsbedürftig. Er wollte keine Hilfe. Von niemandem. Er versuchte, direkt in die Richtung zu schauen, aus der die Stimme kam und ein Gesicht aufzusetzen, das ihr das sagen sollte, aber sie war schon wieder ganz woanders. Sie war merkwürdig.
     „Könnte ich dich vielleicht etwas fragen?“ Sie wartete sein Nicken ab, dann: „Ich weiß, dass das vielleicht etwas merkwürdig klingen mag, aber weißt du etwas von einer großen, aufrecht gehenden Gestalt, die zwei spitze Ohren auf dem Haupt hat, langes Fell und Schnurrharre?“


Luis sagte ihr ein bisschen irritiert, dass er so etwas hier noch nie gesehen hatte. „Wieso fragst du überhaupt so etwas Merkwürdiges?“, fragte er danach.
     „Ich sagte dir ja schon, dass ich eine Priesterin bin. Und meine Göttin hat mir eine Vision von dieser Kreatur geschickt. Ich soll sie finden. Das Problem ist nur, dass ich nicht weiß, wo ich suchen soll, weil ich immer nur schattenhafte Umrisse von ihr in meinen Visionen  sehe.“ 
     Sie seufzte. „Und dann habe ich mich auch noch verlaufen“, berichtete sie und Luis dachte sich: ‚Da sind wir ja schon zwei.‘ „Ich war unterwegs zu einer Ortschaft, aber ich muss irgendwo falsch abgebogen sein. Ich weiß zwar, wie ich zurückkomme, aber ich wollte ja eigentlich vorwärts gehen und nicht rückwärts.“


Er hätte ihr gerne geholfen. Obwohl sie merkwürdig war und er momentan andere Sorgen hatte, war er dankbar für ihre Ablenkung. Aber er wusste ja nicht einmal, wo er selber eigentlich war. Er konnte ja nicht einmal das Meer hören.
     „Wenn du mir sagst, was du siehst, kann ich vielleicht herausfinden, wo wir gerade sind.“
     „Ähm… hier ist überall nur Wiese. Weit und breit.“ Hastig fügte sie hinzu: „Gestern kam ich aus einem Wald. Dort bin ich auch angelegt. In einem kleinen Dorf namens Bärenwald. Sie sagten mir, dass es hier irgendwo eine größere Ortschaft in der Nähe geben soll. Goldhain, glaube ich.“
      Eine weite Ebene und der Ort Goldhain. Das konnte nur jenseits der Berge sein, die ihr Tal einschlossen. Zu den Junggesellenfesten des Zoth-Stammes kamen manchmal Leute aus Goldhain. Aber wie war er nur hierhergekommen? Das war schon ein bisschen weit weg. Und er war, was viel problematischer war, noch niemals zuvor hier gewesen.


„Ähm… also ich weiß, wo wir ungefähr sind, aber ich habe keine Ahnung, wie wir nach Goldhain kommen. Oder sonst wohin…“, gab er beschämt zu.
     „Hm, das ist natürlich unglücklich. Ich sollte wohl doch lieber zurückgehen.“
     „Würdest du mich vielleicht mitnehmen?“, bat er sie schnell.


Eine Weile sagte sie nichts, bis seine Hand ergriffen und er nach vorne gezogen wurde. Er mochte es nicht, wenn man ihn plötzlich anfasste. So einfach aus dem Nichts. Er hasste es einfach, nicht sehen zu können. Genau deshalb hatte er wohl begonnen, sich von den Anderen abzuschotten. Damit sie ihm nicht zu nahe kommen konnten.
     Doch obwohl er ein wenig erschrocken war, störte es ihn diesmal nicht ganz so sehr.


„Wo kommst du eigentlich her, Luis?“, wollte sie jetzt wissen.
     „Von einem Stamm hier in der Nähe.“
     „Und warum bist du von dort weggegangen?“
     „Ich will nicht darüber reden…“, sagte er und kam sich dabei wie ein kleines, trotziges Kind vor.
     „Du bist also von Zuhause weggelaufen; ich verstehe“, kam Luna aber auch von allein drauf. „Na, ich bringe dich erstmal nach Bärenwald und vielleicht möchtest du es mir dann erzählen. Ich bin gut im Zuhören und Helfen.“
     Luis schwieg dazu nur. Er hatte eigentlich nicht vor, sich ihr zu offenbaren.


Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder stehenblieben. Luna hatte die ganze Zeit über seine Hand gehalten, was merkwürdig gewesen war. Bei jedem anderen hätte es ihn geärgert, aber bei Luna störte es ihn irgendwie nicht, dass sie ihm ihre Hilfe anbot.
     Während sie unterwegs gewesen waren, hatte er sein Bestes getan, um die Sache mit seinem Vater zu verdrängen. Er hatte sich lieber voll und ganz auf Luna und ihre wunderbaren Erzählungen konzentriert. Sie hatte von ihrer Mondgöttin erzählt und sie hatte dabei so leidenschaftlich geklungen, dass es selbst Luis berührt hatte. Sie hatte sich voll und ganz ihrem Glauben verschrieben. Sie lebte dafür. So sollte ein Schamane eigentlich sein. Er jedoch war so nicht, hatte er inzwischen erkannt.
     „Es wird bald dunkel, aber da vorne stehen bereits die ersten Bäume“, berichtete sie, als sie endlich wieder stehenblieben. Er fühlte sich inzwischen ein bisschen von der Sonne verbrannt. „Wir sollten hier wohl besser rasten. Es ist von hier aus noch ein gutes Stück.“


Er begleitete sie, aber er war ihr keine große Hilfe. Er konnte nur zuhören, wie das weiche, geräuschlose Gras dem zweigbrechenden Lärm des Waldes wich, als Luna ging, um Feuerholz zu sammeln. Manchmal glaubte er zu hören, wie sich etwas im Wald bewegte, obwohl er sich sicher war, dass Luna gerade stillstand, und er war jedes Mal alarmiert davon. Aber Luna beruhigt ihn immer wieder. Er wusste schon, warum er nicht gerne in Wäldern war.


Plötzlich bemerkte er, wie jemand vor ihm stand, und er machte ganz automatisch einen Schritt zurück. 
     „Ich bin es nur“, hörte er Luna sprechen. „Ich wollte dir nur sagen, dass ich genug Holz habe.“ Sie kicherte. „Entschuldige. Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber du bist ein niedlicher Kerl, weißt du das? Vielleicht kann ich dich ja auch zu deinem Stamm begleiten, wenn wir erstmal wissen, wo wir eigentlich sind. Vielleicht wissen deine Leute ja etwas über meine gesuchte Kreatur.“


Luis, der damit zu kämpfen hatte, nicht rot zu werden, sagte nichts dazu.
     „Gibst du mir deine Hand, damit wir zu unserer Lagerstelle gehen können?“
     Sie bekam Luis‘ Hand und als er ihre kleine Hand in seiner hielt, spürte er, wie er nun doch rot wurde. Ihre Hand war so kalt, dass er sich fragte, ob sie nicht fror.
     „Entschuldige, dass ich dich vorhin nicht gefragt habe, ob ich dich an die Hand nehmen darf. Ich bin manchmal etwas aufdringlich, sagt man mir oft.“
     „Schon gut. Das macht mir nichts.“


Sie ging ein Stück weit mit ihm, bevor sie seine Hand wieder losließ, was er bedauerte, damit sie ein Feuer machen konnte, wie sie erklärte. Aber auch dabei war Luis ihr keine große Hilfe.
     Kurz darauf spürte er die Wärme von Flammen auf seinem Gesicht und das vertraute Knacken von Holz war zu hören, das im Feuer verbrannte, während Luna erneut von ihren Göttern erzählte. Er mochte es, ihr zuzuhören.


Als das Feuer dann schließlich sicher brannte, spürte er, dass sie sich neben ihn setzte.
      „So, und möchtest du mir jetzt vielleicht erzählen, was dich bedrückt?“
      Er wollte nicht darüber sprechen. Er wollte am liebsten vergessen, was er bislang erfolgreich verdrängt hatte.
      „Tut mir leid, falls ich neugierig erscheine, aber ich glaube, das liegt einfach in meiner Natur als Priester, dass ich anderen helfen will“, sagte sie, als er still blieb.


„Ein Priester ist so etwas wie ein Schamane, oder?“, lenkte er ab.
      „Ja. Wo ich herkomme, gibt es nur einen und der ist immer ein Mann, weshalb ich bislang nur sein Helfer gewesen bin. Aber in den großen Städten, wo ich schon gewesen bin, gibt es viele Priester. Auch Frauen. Wie ist das bei deinem Stamm?“
     „Was ist eine Stadt?“, überging Luis ihre Frage.
     „Oh, das ist ein Ort, an dem viele Menschen leben.“
     „Mehr als in einem Stamm?“
     „Viel mehr! Mehr, als du dir wahrscheinlich vorstellen kannst!“
     „Wow, ihr Haus muss ja riesig sein.“


Da lachte Luna plötzlich. „Die Leute dort haben mehr als nur ein Haus. Sie haben viele Häuser und in jedem davon lebt meistens nur eine Familie. Es gibt Markstände, Arenen, in denen Kämpfe und Pferderennen stattfinden, Theater, Badehäuser und natürlich Tempel, in denen sie ihre Götter anbeten. Einfach alles, was man sich vorstellen kann.“
      „Das hört sich faszinierend an“, beschloss er, auch wenn er keine Ahnung hatte, wovon genau sie sprach.
      „Vielleicht nehme ich dich ja irgendwann mal mit dorthin.“
      „Ich befürchte, ich werde nur nicht viel davon haben. Ich sehe ja nichts.“
      „Unsinn! Auch wenn du nichts siehst, kannst du die Stadt erleben. Warte nur, bis du das erste Mal eine Aufführung in einem Theater gehört hast oder du in den wunderbar dampfenden Badehäusern gesessen hast. Ich werde mein erstes Bad darin jedenfalls nie vergessen.“


Und plötzlich fragte er sich, ob es nicht genau das war, was er machen sollte. Einfach mit Luna von hier fortgehen und ein neues Leben in dieser sagenhaften Stadt beginnen.
     „Würdest du mich wirklich mitnehmen?“, fragte er also nach.
     „Warum nicht?“ Doch dann wurde ihre Stimme so ernst, dass er augenblicklich auf den Boden der Tatsachen zurückkehrte. „Aber tu mir einen Gefallen und lauf nicht von Zuhause weg, ja? Ich habe schon genug Ausreißer gesehen, um zu sagen, dass es nie gut ist, vor seinen Problemen davonzulaufen.“
      Dazu sagte Luis nichts mehr und als auch Luna jetzt schwieg, beschlossen sie, schlafen zu gehen.


Luis erwachte, als sich plötzlich jemand auf ihn setzte. Er hatte gar nicht die Zeit, um festzustellen, ob es schon Morgen war oder noch immer Nacht, er war sofort alarmiert. Aber bevor er auch nur etwas tun konnte, spürte er plötzlich ein Paar Lippen auf seinen, was ihn vollkommen aus der Bahn warf. Einen Moment nur war er verwirrt, aber dann wurde ihm klar, dass das nur Luna sein konnte, die da auf ihm saß und ihn küsste.
     Schließlich löste sie sich kurz von ihm, um ihm etwas zwischen die Lippen zu schieben, das merkwürdig erdig schmeckte. Er wollte es herausnehmen und fragen, was es war, aber sie schob seine Hand weg und drückte gegen seinen Unterkiefer, um ihm zu signalisieren, dass er kauen sollte. Also tat er das, auch wenn es nicht gut schmeckte und er keine Ahnung hatte, was er gerade gegessen hatte.
     Als sie ihn im nächsten Moment aber wieder küsste, kümmerte er sich nicht um diese Frage. Sie küsste ihn innig, und auch wenn er sie gerne gefragt hätte, warum sie das so plötzlich tat, blieb er still und begann lieber zu genießen, was er zu spüren begann. Ihre Nähe, ihr schmaler, warmer Körper auf seinem. Die kleinen Finger an seinem Nacken, die leicht feucht und angenehm warm waren. Ihr langes Haar, das sein Gesicht kitzelte. 
     Sie lagen im Gras und während sie ihn küsste, fühlte sich sein Kopf merkwürdig leicht an. Als ob sich alles um ihn herum drehen würde.
     Und als sie sich schließlich auf ihn niedersenkte, glaubte er zu fliegen. 


Er hatte einen merkwürdigen Traum von einer Frau mit hellen Haaren. Sie stand vor ihm. Er hörte das Meer rauschen, sah den atemberaubenden Sternenhimmel und den vollen Mond über ihr. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, eine ruhige und leblose Puppe. Also war er zu ihr gegangen, um ihr ins Gesicht zu sehen.
      Doch gerade, als er sie erreicht hatte, fiel er in die Dunkelheit zurück.


Da wurde er plötzlich und unsanft wach. Er hörte Luna etwas zischen, das er nicht verstand und ein Gewicht verschwand daraufhin von ihm. Er versuchte, auf die Beine zu kommen, aber seine Welt drehte sich erneut um ihn und diesmal fühlte sich das überhaupt nicht gut an. Ihm wurde schlecht.
     „Geht es dir gut?“
     Er fasste sich an den Kopf und seine Welt kehrte in ihre Fugen zurück. Trotzdem brummte ihm sein Schädel gewaltig.
      „Nein…“, würgte er hervor.
     Er spürte Lunas Hand auf seinem Rücken, die selbst durch seine Kleidung hindurch kalt war.
      „Ich bringe dich besser ins Dorf.“


Er ließ es mit sich machen. Er hatte auch kaum eine andere Wahl. Sie führte ihn über eine Wiese, dann war wieder das Brechen von Zweigen zu hören, das heute ohrenbetäubend laut für ihn war. 
     Sie gingen eine ganze Weile, während Luis sich noch immer wie weggetreten fühlte. Als würde er noch immer träumen. Ein -, zweimal fiel er beinahe hin, aber Luna stützte ihn glücklicherweise.


Irgendwann hörte er schließlich dumpf Stimmen an sein Ohr dringen und der typische Geruch von Rauch und Mist stieg ihm in die Nase, der ihm signalisierte, dass sie wieder in ein von Menschen belebtes Gebiet gekommen waren. 
     Luna hielt an, sprach mit irgendwem, während er einfach nur noch schlafen wollte, dann ging es weiter und er hörte eine Tür gehen. Kurz darauf stoppte der Wind, der ihm bislang den widerlichen Mistgeruch in die Nase geweht hatte, der seinem Magen überhaupt nicht gefallen hatte.


„Setz dich! Ich besorg dir etwas Stärkendes“, drang Lunas Stimme zu ihm vor.
      Er wurde irgendwohin gesetzt und hörte jemanden umherlaufen. Stimmen, die einen weiten Raum füllten. Nach einer Weile kam Luna zurück und setzte ihm etwas vor, das ihm schon von Weitem in der Nase biss.


„Trink das!“
      „Ich glaube nicht, dass ich das will.“
      „Es wird dir guttun.“
      Er spürte, wie etwas seine Lippen berührte. Also öffnete er den Mund, aber was er dann schluckte, wollte er am liebsten sofort wieder ausspucken. Es brannte fürchterlich in seiner Kehle. Er musste husten und verschlucke sich beinahe an dem schrecklichen Gesöff. Immerhin brachte es aber seine Lebensgeister zu ihm zurück und er kam auf die Beine.


„Was… was ist das? Und was hast du mir vorhin eigentlich zu essen gegeben?“
      Er wollte sie eigentlich fragen, warum sie ihn überfallen hatte, aber da er wusste, dass sie wahrscheinlich Zuhörer hatten, musste das warten.
      „Das waren Pilze“, hörte er sie zögerlich sagen. Etwas aufgekratzt fügte sie hinzu: „Du solltest sie nie wieder essen! Hörst du?“
      Luis war verwirrt. Warum gab sie ihm diese Pilze überhaupt, wenn sie nicht wollte, dass er sie aß?


Doch er kam nicht mehr dazu, sie das zu fragen, weil sein Magen sich in diesem Moment entschloss, sich nun doch umzudrehen.


Er bekam ein sauberes Bett in einer stillen Ecke. Luna war gegangen, um sauberzumachen, was er angerichtet hatte, und er schämte sich dafür. Sie sollte das nicht wegwischen müssen. Er sollte das machen, aber er hatte ja schon Angst, wieder kotzen zu müssen, wenn er in die Senkrechte kam.
     Also war er liegengeblieben und nach einer Weile war er schließlich eingeschlafen.
     Erneut träumte er von der Frau mit den hellen Haaren und erneut wurde er geweckt, wenn diesmal auch nicht durch Lunas Stimme.
     Stattdessen rüttelte jemand an ihm und kurz darauf schmeckte er wieder den erdigen Geschmack, den er heute schon einmal gekostet hatte. Doch ihm war gerade überhaupt nicht danach. Weder nach Essen, noch danach, mit ihr zu schlafen. Er wusste, dass er es vorhin mit Luna getan hatte und er war noch immer vollkommen überwältigt davon. Er wollte sie ja auch nicht beleidigen, aber es ging ihm gerade einfach zu schlecht dafür. 
      Also schob er die Hand mit dem Pilz bestimmt von sich und schüttelte den Kopf. Er wollte sich erklären, aber da hatte sich Luna wortlos erhoben. Doch er wollte nicht, dass sie ging, also griff er auf gut Glück nach ihr und bekam sie am Arm zu fassen. 
      Als er den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, hatte er erneut den Pilz darin und diesmal schluckte er ihn. Da legte sich Luna wieder auf ihn. Er spürte ihren Kopf an seiner Brust, spürte, wie sie selber kaute und hörte dann ihren leisen Atem. Doch sie sagte kein Wort. Er liebte es, ihr nahe zu sein. Er liebte es, wenn sie bei ihm war. 
     Und während sein Kopf erneut eine Rundreise zu machen begann, schloss er die Augen und genoss.


Als er am nächsten Morgen erwachte, einen weiteren Traum von der Frau mit dem hellen Haar reicher, war er wieder allein, was ihn etwas betrübte. Doch sein pochender Kopf und sein tanzender Magen brachten ihn bald schon auf andere Gedanken.
     Als Lunas wunderschöne, fröhliche Stimme den Raum erfüllte, zwang er sich jedoch dazu, sich zusammenzureißen. Sie hatte gestern schließlich dieselben Pilze gegessen und sie war putzmunter. Er wollte nicht, dass sie ihn für einen Schwächling hielt.
     „Guten Morgen, Luis!“
     Er spürte, wie sein Bett nachgab, während sie sich daraufsetzte, und das Schwanken bereitete ihm nicht nur Kopfschmerzen.


„Wie geht es dir heute?“
     „Besser“, log er.
      Wenigstens hatte er keine Zeit dafür, in Verlegenheit wegen dem zu kommen, was sie gestern so alles getan hatten, wenn er sich davon abhalten musste, sich erneut zu übergeben.
     „Das freut mich“, hörte er sie sagen. „Ich habe mir schon Sorgen gemacht, als du gestern beinahe den ganzen Tag lang geschlafen hast.“
     „Tut mir leid, ich wollte nicht, dass du das wegmachen musst...“
     „Schon gut. Hauptsache, es geht dir besser. Komm, es gibt Frühstück. Du solltest etwas essen.“
     Er würde mit ihr überallhin gehen. Also nickte er, was er sofort wieder bereute, da ein böser Schmerz ihn daran erinnerte, dass er sich heute lieber zurückhalten sollte.


Nachdem er sich dazu gezwungen hatte, ein kleines Frühstück zu sich zu nehmen, wurde er von den Bewohnern des Dorfes in Augenschein genommen. Zumindest stellte er sich vor, dass sie ihn gerade alle anstarrten. Er konnte es ja nicht sehen. Und es war ihm schon ein bisschen peinlich. Auch, dass er gestern in ihr Haus gekotzt hatte.


„Ich bin ja froh, dass ihr sicher wieder hergekommen seid“, sagte die tiefe Stimme gerade, die sich schon die ganze Zeit mit Luna unterhielt. „Es ist ja so gefährlich hier in letzter Zeit geworden.“
      Luis hätte gerne gefragt, ob die beiden sich schon länger kannten. Luna hatte zwar erzählt, dass sie erst vor kurzem hierhergekommen war, aber sie wirkten so vertraut miteinander, was ihm ein bisschen sauer aufstieß.
      „Die Göttin wacht über mich, deshalb mache ich mir keine Sorgen. Ach ja, Luis“, hörte er Luna ihn ansprechen sprechen und er zuckte ertappt zusammen, als sein Name fiel, „das ist übrigens Maric, den du gerade hörst. Er ist der Bürgermeister hier und war so freundlich, uns aufzunehmen.“
     „Das ist ja selbstverständlich. Meine Leute sind Fremden gegenüber zwar ein bisschen misstrauisch eingestellt, seitdem wir ein paar schlechte Erfahrungen mit ihnen machen mussten, aber wie könnte ich so einem netten Mädchen wie dir meine Hilfe verweigern?“
     Flirtete dieser Mann etwa mit Luna?
     „Du bist eine gute Seele, Maric. Möge die Göttin dich und die deinen segnen!“
     „Ich hoffe, dass sie das tut. Meine Frau entbindet ja bald das erste Mal.“
     Er hatte eine Frau. Luis fiel ein riesengroßer Stein vom Herzen, als er das hörte.


Kurz darauf ging Maric dann wieder an die Arbeit, und zurück blieben Luis und Luna und eine unbehagliche Stille. Was dazu führte, dass er langsam aber sicher nun doch in Verlegenheit geriet. Er wollte sie gerne fragen, warum sie ihn immer wieder wortlos überfiel, ihm Pilze zu essen gab, die ihn fliegen ließen, von denen sie ihm später jedoch abriet. Nicht zu vergessen, dass sie mit keinem Wort erwähnte, dass sie miteinander geschlafen hatten. Aber er wusste einfach nicht, wie er sie das fragen sollte.


„Also, willst du mir jetzt erzählen, was bei dir los ist?“
     „Was meinst du?“, fragte er überfordert und ein klein bisschen ertappt. Ob sie wohl wusste, was er gedacht hatte?
     „Na, warum du von Zuhause weggelaufen bist.“
     Scheinbar nicht. Aber die Sorgen, die er gestern noch gehabt hatte, schienen ihm mit einem Mal so unwichtig. Also erzählte er ihr davon. „Mein Vater ist Schamane in unserem Stamm und ich wollte sein Nachfolger werden. Aber…“
     Er zuckte mit den Schultern und da fragte Luna: „Aber?“, als wäre das nicht ganz klar.
     „Ich habe mein Augenlicht verloren“, erklärte er also.
     „Na und?“
     „Wie, na und? Wie soll ich bitte die Geschichten des Stammes in Bildern verewigen oder die Rituale abhalten, wenn ich nicht sehen kann?“
     „Du könntest dir einen Helfer suchen. Viele der höheren Priester in den Städten haben Helfer, die ihnen zur Hand gehen. Ich war ja auch mal einer.“


Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Brust und da wusste er, dass sie direkt vor ihm stand. „Wichtig ist nur, dass dein Herz deinen Göttern gehört.“
     Momentan gehörte ihr Herz aber ihr. Bevor er sich davon abhalten konnte, hatte er ihre Hand ergriffen und die Worte sprudelten aus ihm heraus, bevor er sie aufhalten konnte.


„Ich hatte vorgestern so eine Angst vor der Zukunft. Ich habe meinem Vater gesagt, dass ich kein Schamane werden will und bin danach einfach weggelaufen. Ich wusste nicht mehr, was ich noch tun sollte. Wohin ich gehen sollte. Aber dann habe ich dich getroffen und du hast mich gerettet. Seitdem habe ich keine Angst mehr, weil ich weiß, dass du da bist. Du bist so wunderbar, Luna!“


„Luis…“ 
     Er wusste nicht, wie ihre Stimme klang. Sehnsüchtig? Ablehnend? Verunsichert? Er wusste es nicht. Und je länger er darüber nachdachte, desto mehr war er sich sicher, dass sie ablehnend geklungen hatte.
     Also setzte er sein Denken erneut aus, beugte sich vor und küsste sie. Er hatte sie die ganze Zeit schon wieder küssen wollen und er traf ihre Lippen glücklicherweise gleich auf Anhieb.
      Eine ganze Weile passierte nichts anderes. Er küsste sie, aber sie machte keine Anstalten, seinen Kuss zu erwidern oder die Arme um ihn zu schließen. Luis war erneut von ihr berauscht, doch er war gleichzeitig auch beunruhigt. Gestern noch hatte sie ihn doch auch so innig geküsst.


Und dann löste sie sich auch noch von ihm. Sie beendete ihren Kuss und er spürte, dass sie sich entfernte. Automatisch griff er nach ihr, aber er bekam sie diesmal nicht zu fassen. Er wusste nicht, was sie dachte, weil sie nicht sprach und er es nicht sehen konnte. Wie sehr wünschte er sich jetzt, ihr Gesicht sehen zu können. In diesem Moment verfluchte er seine Blindheit nur noch mehr.
     „Ich sollte dich zurück nach Hause bringen“, sagte sie schließlich mit fester Stimme. „Ich werde Maric fragen, ob er etwas von deinem Stamm weiß.“


Er hörte, wie sich leise Schritte entfernten, eine Tür ging und er war wieder allein. Und alles, was Luis blieb, waren Fragen. Was nur war gerade geschehen? Warum nur überfiel sie ihn, küsste ihn, schlief mit ihm, und stieß ihn jetzt von sich? Hatte er etwas falsch gemacht? Und wenn ja – was hatte er denn getan?


Während er sich das fragte und einfach keine Antworten darauf finden konnte, bemerkte er, dass er nicht mehr allein war. Jemand näherte sich ihm. War er nicht allein gewesen? Hatte er die Tür nicht gehört?
     Bevor er reagieren konnte, wurde er plötzlich umgeworfen. Er spürte, wie sich wieder jemand auf ihn setzte und dann war da wieder der vertraute Erdgeschmack. Wenn er ehrlich war, hatte er das Fliegen schon ein bisschen vermisst. Es fühlte sich gut an und es war so schön, seine Sorgen zu vergessen, während er flog.


Zusammen mit Luna.


Als sie fertig waren (glaubte er), erhob sie sich wieder wortlos. Seine Welt drehte sich noch fleißig und flog farbenlos um ihn herum, während er ein Zischen hörte, das vage an sein Ohr drang. Es war Lunas wunderschöne Stimme. Aber er konnte sie nicht verstehen. Klang sie wütend? Er war sich ziemlich sicher, dass sie wütend klang. Er hatte wohl tatsächlich etwas falsch gemacht. Wenn er sich nur daran erinnern könnte, was es gewesen war.
     Er öffnete den Mund, um sich zu entschuldigen, aber es purzelte nur ein Lachen heraus. Er war so glücklich, obwohl er besorgt sein sollte. Sollte er das? Er sollte lieber aufstehen und zusehen, dass er davonflog. Weg. Weit weg. Bis zum Sonnenuntergang und noch viel weiter. Vielleicht flog er bis zum Ende der Welt, vielleicht sah er sich auch die Stadt an, von der Luna erzählt hatte. Seine Flügel würden ihn überallhin tragen.
     Er erinnerte sich an die Farben des Sonnenuntergangs, an die Farben, die sein Vater immer zum Malen benutzt hatte. Seine Oma, als sie die Kleider gefärbt hatte. Kleine Finger auf kalkfarbenem Holz. Er riss an Tanjas schwarzem Haar, sah ihre blaue Augen, und sie steckte ihm einen spitzen Finger ins Ohr. Blondes, helles Haar, vom Mondlicht geküsst. Blaue Augen. Der Himmel, tiefblau und samtschwarz. Funkelnde Sterne, kleine, weiße Punkte. Verschwommene Schatten. Umrisse. Alles so unscharf. Weiße. Dann Dunkelheit. Alles umfassende, immerwährende Schwärze.


Auch als er die Augen aufschlug, war alles um ihn herum schwarz. Seine Welt, die für einen Moment nur die verlorenen Farben zurückerhalten hatte, war wieder schwarz und dunkel. Er fühlte eine widerliche Kälte auf seinem Gesicht, aber vor allen Dingen fühlte er die innere Kälte, die Leere, die nun von ihm Besitz ergriff. 
     Bevor er es verhindern konnte, waren seine nutzlosen Augen voller Tränen und er schrie.


Er weinte eine ganze Weile darüber, dass er nicht mehr sehen konnte. Dass der kurze Moment, in dem er es gekonnt hatte und in dem er glücklich gewesen war, vorbei war. Er wollte nichts sehnlicher, als erneut die erdigen Pilze zu essen und zu entfliehen. Aber als er nach Luna rief, blieb sie verschwunden.


Und als sie dann schließlich auftauchte, hatte er schon keine Tränen mehr.
     „Bist du wach?“, fragte sie vorsichtig.
     Sofort war er auf den Beinen, auch wenn seine Kopfschmerzen ihr bestes taten, ihn wieder in die Knie zwingen zu wollen. Er wollte nur noch in diese wunderbare, bunte Welt zurückkehren.
     „Bitte! Hast du noch so einen Pilz für mich?“, flehte er verzweifelt.
     „Ich habe dir doch gesagt, dass du die nicht mehr essen sollst!“, rügte sie ihn streng. „Vielleicht fühlst du dich jetzt toll dadurch, aber das wird sich ändern. Bald schon wirst du dich nur noch schlecht deswegen fühlen. Tu dir selber einen Gefallen und iss sie nicht mehr!“


Sie war so weit weg. Warum war sie so weit weg von ihm? Er wollte doch nur, dass sie bei ihm war. Also streckte er die Hände nach ihr aus. Aber sie blieb verschwunden.
     „Ich habe mit Maric gesprochen“, sagte sie kalt. „Er schickt jemanden zu deinem Stamm.“
     Warum nur war sie so sauer?
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Hier weiterlesen -> Kapitel 93 

Ich schrieb ja, dass es besser für Luis gewesen wäre, wenn er nicht vorgekommen wäre...

So viel will ich hier jetzt gar nicht dazu schreiben, da ich nicht zu viel verraten will, nur: Die schwarzen Bilder sind bewusst immer da, wo sie sind, weil man den zweiten Teil der Geschichte, nachdem Luis weggelaufen ist, nur durch die Augen einer einzigen Person sieht. Und wenn diese nicht da ist, sieht man es logischerweise aus Luis‘ Augen und da er blind ist, halt schwarze Bilder. Mir ist übrigens bewusst, dass Blindheit nicht gleich völlige Schwärze bedeuten muss, aber in Luis‘ Fall ist das so.
       Zudem wird den Wulfgar-Lesern der Ort "Bärenwald" vielleicht noch bekannt vorkommen. Es war der erste Ort, in dem Wulfgar damals gestrandet war. Der Ort, in dem Ura, Mari, Eren und das Dorfoberhaupt Dan (der scheinbar kein Oberhaupt mehr ist) gelebt haben. So als kleines Easteregg, weil es ansonsten natürlich keinerlei Relevanz haben wird, dass es Bärenwald ist.

Nächstes Mal dann geht es zum Stamm zurück, wo man inzwischen in Sorge um den Verschwundenen ist und sich daran macht, ihn zu suchen. Vielleicht finden sie unterwegs ja Alistair und Gisela. 

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