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Mittwoch, 15. September 2021

Kapitel 148 - Deine Stimme

 
Als Luna das Uruk-Haus betrat, erlebten Tann und Lu ein klitzekleines Déjà-vu. Sie kam genauso hereingeflogen, klagend und mit sorgenvollem Blick, wie Greta am gestrigen Tag. Sie sank auch genauso dramatisch am Bett des Bewusstlosen zusammen, nahm seine Hand und strich behutsam darüber.
     „Ach, Vater! Was ist nur geschehen? Ich habe gesehen, dass du verletzt bist, aber…“ Sie sah mit ihren strahlend hellblauen Augen in die Runde, die Lu wie Pfeile trafen. „Was ist passiert?“
     Tann wollte an Lus statt antworten, bevor der sich wieder wie der Märtyrer, der er war, ins Schussfeld stellte und den Schuldigen hervorkramte, aber Isaac, der inzwischen wieder vollends auf den Beinen war, war schneller als er.


Er war sofort bei ihr, sie hielten sich an den Armen und redeten hastig und mit besorgten Gesichtern in ihrer Muttersprache aufeinander ein. Schließlich wandte Luna sich ab, ging zu ihrem Vater ans Bett zurück, kniete an seiner Seite nieder und legte eine Hand auf seine Stirn. Einen Moment verweilte sie in dieser Position, dann zog sie erschrocken die Hand zurück und sprang auf.


„Und?“, fragte Isaac, sodass es wieder alle verstehen konnten.
     „Sein Geist ist schwach. Wie zu erwarten. Aber er wird immer schwächer, ist überall verteilt, zerrissen. Er rinnt wie Sand durch die Finger.“ Sie schüttelte entgeistert den Kopf. „Wenn er nicht zurückfindet, wird er sterben.“
     „Wie lange noch?“
     „Höchstens noch ein paar Tage, wenn das so weitergeht, schätze ich. Keine Woche…“


Da herrschte erstmal entsetzte Stille, bis Lu auf der anderen Seite vom Bett in die Knie ging. Er zitterte am ganzen Leib, sah elend und panisch aus, schüttelte immer wieder den Kopf und versuchte, nach seinem ehemaligen Gefährten zu langen. Doch er erreichte ihn nicht. Wagte nicht, ihn zu berühren.


„Er muss aufwachen“, sagte Luna plötzlich, sah ihn fest in die Augen. „Wenn wir ihn rufen, wenn du ihn rufst…“
     „Ich habe ihn schon so oft gerufen“, berichtete Lu mit tränenerstickter Stimme. „Doch er hat mich nicht gehört. Aber… vielleicht hört er ja dich…“
     „Ich kenne meinen Vater noch nicht allzu lange, aber wenn ich eines über ihn erfahren habe in dieser Zeit, dann, dass du ihm das Wichtigste auf der Welt bist. Wenn er jemandes Stimme hört, dann die deine.“


Sie streckte die Hand nach ihm aus. „Lass ihn uns gemeinsam rufen.“
     Lu sah in die blauen Augen, die er bislang immer mit Misstrauen und Unwillen angesehen hatte, und es war das erste Mal, dass er seinen Wulfgar in ihnen sah. Dass ihr vertraute und er froh war, dass sie da war. 
     Also ging er zu ihr, legte seine Hand in ihre, weich und kalt, und sie begannen gemeinsam nach Wulfgar zu rufen.


Er sah in die flackernden Flammen, die keine Wärme ausstrahlten und keinerlei Geräusch von sich gaben. Er wusste, dass sie gar nicht da waren. Dass er sie sich nur einbildete. Doch sie gehörten dazu bei einer Rast. Die Flammen eines Lagerfeuers, deren Wärme das Leben bewahrte. Auch wenn hier nichts zu bewahren war. An diesem toten Ort, an dem nichts lebte. Nicht das Mädchen, das neben ihm auf den weißen Boden stand, der überall und nirgends war, nicht einmal er selber. Vielleicht saßen sie beide auch, wer wusste das schon.


„Ich muss zurück“, wiederholte er tonlos.
     Es war sein Mantra. Immer und immer wieder. Schon seit Tagen, seitdem er in dieser immer gleichen Einöde nach einem Weg zurück auf die andere Seite suchte, der einfach nicht zu finden war.
     „Ich muss zurück…“
     „Wozu?“, drang eine Stimme, die er kannte, in seine Gedanken.
     Er richtete trübe Augen auf das Mädchen neben sich. Wie hieß sie noch gleich? Mari?
     „Ich weiß nicht… Ich… muss zurück… muss Lu…“
     „Er braucht dich doch gar nicht mehr. Er hat dich alleingelassen. Das weißt du doch.“
     „Ich weiß…“
     „Komm, lass uns gehen. Es wird Zeit.“


Eine kleine Hand, beinahe dunkel in der strahlenden Helligkeit, die seine Welt war. Er starrte darauf, verstand nicht, was er dort sah.
     „Er wird Zeit…“, murmelte er, wandte den Kopf in die andere Richtung, weg von ihr, doch da war nur Helligkeit. Leere. In ihm, überall um ihn herum.


Er griff nach der Hand, ging ein paar Schritte. Blieb stehen. Lauschte.
     „Was ist?“
     Er hörte eine Stimme, die ihn rief. Er bildete sie sich ein. Wie üblich. Wenn er sich in die Richtung drehte, aus der sie kam, war dort nichts. Er ging weiter. Blieb wieder stehen. Lauschte erneut.
     „Ich höre etwas“, erklärte er.
     „Das bildest du dir ein.“
     „Ich weiß…“
     Sie zog an ihm, aber er blieb stehen. Ein beklemmendes Gefühl hatte ihn befallen, kroch an ihm herum. Er bekam eine Gänsehaut. Wer rief da nach ihm? Kannte er die Stimme? Er kannte die Stimme, konnte sie aber nicht zuordnen. Warum konnte er sich nur nicht erinnern?
     „Komm!“
     „Ich will nicht…“
     „Du musst. Es wird Zeit.“


Er ließ ihre Hand los. Und plötzlich erinnerte er sich. Erkannte die Stimme, die ihn rief. Eine ungeheure Angst in ihm. Er lief auf sie zu, ließ das Mädchen, das er einst verloren hatte, einfach zurück.
      „Lu!“, hörte er sich laut rufen.
     Er antwortete. Ein Stimmengewirr. Da war noch jemand anderes. Er lief, aber er lief nirgendwohin, fand den Weg nicht. Wie üblich.
     „Wulf! Wulfgar! Komm zurück!“
     „Ich will ja, aber… aber wie?“
     „Wulfgar!“
     „Vater!“


Er griff nach den Stimmen, griff ins Leere. Er durfte sie nicht verlieren. Musste sich an sie klammern wie ein Ertrinkender an eine Rettungsboje, damit er sie und sich selber nicht vergaß. Sie waren sein Anker. Sie wollten, dass er zurückkam. 
     Und dann sah er ihn vor sich.


„Lu!“
     Er stand vor ihm, die Augen weit aufgerissen. Wulfgar kam vor ihm zum Stehen, völlig außer Atem und erschöpft. Legte eine Hand auf die Wange seines Liebsten. Und plötzlich – plötzlich waren die Augen voller Tränen, eine Hand an seiner. Er spürte die Wärme. Blinzelte in Dunkelheit und verscheuchte sie.


„Wulf…“, hörte er den Anderen sanft sagen. Ein Feuerschein erhellte ihn von der Seite. Er hörte ein Scheit knacken. „Du bist zurück.“
     Er war zurück, ging ihm auf. Er war wach.
     Ein heller Schein tauchte neben Lu auf.


„Luna! Du bist auch da? Ich... habe dir doch gesagt, dass du nicht herkommen sollst, während…“
      Er hustete trocken, und da erschien ein drittes Gesicht. Er erkannte Tann, der Lu eine Schale reichte, die dieser sofort an seine Lippen setzte.
      „Hier! Trink!“
     Sein Hals kratzte fürchterlich, und die Schmerzen und der bohrende Hunger in seinen Eingeweiden kamen ganz plötzlich. Er wollte sich aufrichten, aber er konnte es nicht. Seine Muskeln antworteten nur mit einer fürchterlichen Schwäche, die er zuletzt gespürt hatte, als er von einem Pfeil angeschossen im Tempel von Eridu darniedergelegen hatte.
     „Bleib liegen!“, hörte er eine Stimme, die ihm bekannt vorkam. „Seht zu, dass er liegen bleibt. Ich will ihn mir erst ansehen, bevor wir ihn aufrichten.“
     Er hörte ein Schaben.


„Alistair?“
     „Hallo, Wulfgar. Wie geht es dir?“
     „Verzeih den Ausdruck, aber: Scheiße.“
     „Ich schaue mir die Naht nochmal an, und dann kann ich hoffentlich sagen, dass das vorbeigehen wird.“


Wulfgar nickte und ließ Alistair gewähren, während sein Blick zu Lu hinüberglitt, der noch immer mit tränenüberströmtem Gesicht zu ihm sah. Um ihn zu beruhigen, lächelte er, und er musste sich nicht einmal dazu zwingen. Obwohl er sich fürchterlich fühlte, war es dennoch die Erleichterung und die Freude, Lu unversehrt wiederzusehen, die überwiegte.


„Ich hasse es, dass ich nicht mal allein zum Pinkeln rausgehen kann“, beschwerte Wulfgar sich und seufzte. Dank der winterlichen Kälte verließ sein Atem seinen Mund in kleinen, weißen Wölkchen.
     „Willst du nicht lieber wieder reingehen?“, fragte Lu besorgt, der neben ihm auf dem Baumstamm saß und unruhig hin und her rutschte. „Es ist doch ziemlich kalt hier draußen.“
     „Frierst du?“
     „Nein.“
     „Dann bringen mich keine zehn Pferde wieder da rein. Ich würde am liebsten die ganze Nacht hier draußen bleiben. Ich habe lange genug drinnen im Bett gelegen. Schlimm genug, dass ich nicht mal allein rausgekommen bin.“
     Sie hatten ihn auf einen Schemel hieven und zu zweit nach draußen tragen müssen.
     „Du hast doch gehört, was Alistair gesagt hat. Wenn du erstmal wieder zu Kräften gekommen bist, kannst du auch anfangen, vorsichtig das Laufen zu üben. Also komm erstmal zu Kräften.“
     „Ich habe mir vorhin den Bauch vollgeschlagen. Ich habe Energie für zehn! Lass mich wenigstens aufstehen.“
     „Nein!“, rügte Lu ihn streng. „Du bleibst sitzen und ruhst dich aus!“
     „Ich habe verdammte drei Tage lang nichts anderes getan.“


Jetzt war der Moment gekommen, in dem Lus Mundwinkel zu Boden fielen. Wulfgar hatte es befürchtet, dass es früher oder später dazu kommen würde.
     Also kam er ihm zuvor und sagte: „Hör mal, Lu, ich muss mich bei dir entschuldigen. Nur weil ich dir beweisen wollte, dass ich mich ändern kann, habe ich uns beide in Gefahr gebracht und dich dazu gezwungen, zu töten. Ich hätte das verhindern können. Ich hätte diesen Kerl leicht aufhalten können, ohne dass was passiert. Das war dumm – total dämlich – von mir, und es tut mir unendlich leid. Keine Worte können ausdrücken, wie leid mir das tut.“
     Er ließ den Kopf hängen, wandte den Blick ab. „Vielleicht hattest du recht damit, als du sagtest, ich solle aufhören, in der Vergangenheit zu leben. Ich muss aufhören, dir hinterher zu laufen. Sonst bringe ich dich nur in Gefahr.“ Er sah ihn wieder an. Festen Blickes, obwohl er nicht sagen wollte, was er sagen würde. „Ich verspreche dir, dass ich dir von heute an nicht mehr nachlaufen werde. Ich werde dich von heute an in Ruhe lassen.“
     Er wollte hinzufügen, dass es wahrscheinlich das Beste sein würde, wenn er wieder von hier fortgehen würde, während er innerlich hoffte, dass Lu ihn aufhalten würde, aber seine Stimme brach ihm einfach weg. Er hatte zu große Angst davor, dass Lu es nicht tun würde. Dass er einfach still bleiben und ihn gehen lassen würde.


„Nein“, hörte er Lu plötzlich sagen, und als er ihn ansah, trafen ihn schuldbeladene Augen. „Ich bin es, der sich bei dir entschuldigen muss, dafür dass ich dich in diese Situation gebracht habe. Und nicht nur in diese.“


„Als ich sah, dass Rufus darauf und daran war, dich zu töten, hatte ich Todesangst. Nicht um mich, sondern um dich. Ich wollte nicht, dass du stirbst. Ich wusste, dass ich dich retten musste; es gab gar keine andere Möglichkeit, selbst wenn es hieß, dass ich ihn dafür töten muss – was ich nicht getan habe, also gib dir nicht die Schuld daran. Er hat überlebt.“ 


 
„Seitdem weiß ich, wie du dich damals bei dem Räubervater gefühlt hast. Ich dachte, ich hätte verstanden, warum du es getan hast, aber das hatte ich nicht. Jetzt aber verstehe ich es. Und es tut mir so schrecklich leid, dass ich dich damals überhaupt in diese Situation gebracht habe, indem ich mich dort hingestellt habe und mein Leben geben wollte. Ich habe dich nicht nur dazu gezwungen, mich zu retten, sondern dir auch wehgetan, weil ich einfach dazu bereit war, zu sterben und dich zurückzulassen.“  


Wulfgars Unterlippe zitterte inzwischen beträchtlich. Er hob die Hände zu ihm, wahrscheinlich wollte er ihn umarmen, doch dann fiel ihm auf, dass er das nicht mehr tun durfte, also ließ er sie wieder sinken, berührte ihn nur unschlüssig am Arm. Lu fühlte die Hitze, die davon ausging. Er bekam eine Gänsehaut.
     „Ist schon gut. Lass uns einfach nicht mehr drüber reden, ja?“
     „Wulf?“, begann Lu wieder das nervöse Hin – und Herrutschen.
     „Hm?“


„Ähm… Ich weiß, was ich gesagt habe… Also… Ich würde verstehen, wenn du nicht mehr willst…“
     „Was denn?“
     „Hm, also du hast ja gesagt, dass du dich ab jetzt von mir fernhalten willst… Willst du… Willst du das wirklich?“
     Wulfgar verlagerte unbehaglich das Gewicht. „Nein. Aber – “


„Ich will das auch nicht!“, platzte Lu inbrünstig heraus und rutschte näher an ihn heran. Er schmiegte sich zaghaft an ihn. „Ich hatte so eine Angst um dich, dass du stirbst. Da ist mir bewusst geworden, dass ich mir einfach kein Leben ohne dich vorstellen kann. Nein, schon davor. Oh, Wulf, ich habe dich so schrecklich vermisst, als du weg warst. Ich war so einsam ohne dich. Bitte, kannst du mir noch eine Chance geben?“
     „Machst du Witze?“, fragte Wulfgar mit großen Augen.
     „Über so etwas würde ich niemals spaßen“, entgegnete Lu ernst.


Und da hatte Wulfgar nun doch die Arme um ihn geschlungen, küsste ihn und drückte ihn dabei so fest an sich, dass es Lu ein bisschen wehtat. Aber er sagte nichts. Er lag einfach nur in den Armen des Mannes, den er liebte, ließ sich von der Erleichterung und der Freude durchfluten, spürte die so lang vermisste Wärme des Anderen, die sich nun langsam auch in ihm breitmachte, und dann, nach drei durchwachten Nächten, schlief er endlich – völlig erschöpft aber selig – in Wulfgars Armen ein.
      So kam es, dass Wulfgar und Lu wieder zusammenfanden, und obwohl Lu nicht zu seinen alten Göttern zurückgefand, hatte er dafür einen neuen Glauben und einen neuen Gott gefunden.


Während ein Großteil des Stammes noch mit Frühstücken beschäftigt war, schlüpfte Alaric unbemerkt nach draußen.


Er hatte bislang bei Luna gehangen, mit der zusammen er auch hergekommen war, doch er hielt diese schrecklich angespannte Stille einfach nicht mehr aus, die herrschte, wenn der blinde Kerl, der sie gestern erwartet hatte, zugegen war. Der Blinde bekam einfach nicht den Mund auf, stotterte wie ein Blöder vor sich hin, und Luna, die sonst nie Probleme mit dem Reden hatte, schien merkwürdig eingeschüchtert von ihm.


Da hatte er sich gleich doppelt gefreut, als Wulf (der Jüngere) aufgetaucht war, den er so sehr bewunderte. Zumindest bis der die angespannte Stille auch bemerkt hatte und sich wie ein bockiges Kleinkind zwischen Luna und den Blinden gestellt hatte, um ebenfalls, wenn auch grimmig, zu schweigen.


Daraufhin hatte er zu Wulfgar (dem Älteren) gehen wollen. Sein großer Held, der nicht nur ihm während ihrer Flucht mehr als einmal das Leben gerettet hatte und der immer der Erste gewesen war, der sich bei Gefahr gemeldet hatte. Wegen ihm war Alaric auch eigentlich hergekommen.
     Aber als er dann gesehen hatte, dass dieser komische, dürre Kerl, der gestern so um ihn geheult hatte, an ihm geklebt hatte, hatte er ganz schnell Reißaus genommen. Er hatte noch gehofft, dass dieser Lu wenigstens nur ein besonders hässliches Mädchen mit Bart war, aber dem schien wohl nicht so. Es verstörte ihn auf jeden Fall ein bisschen, dass da zwei Männer beisammen waren.


Trotzdem war er tags darauf wieder nach draußen geflohen, um all den fremden Gesichtern zu entkommen, die ihm fortwährend neugierige Blicke zuwarfen. Mal mehr und mal weniger unverhohlen. Sie hatten ihn freundlich aufgenommen, wie Luna auch, aber ansonsten waren sie nur mit Gucken beschäftigt. Keiner hatte ihn wirklich angesprochen, und er selber war auch nicht der Gesprächigste. Er konnte reden, wenn er wollte. Aber er bevorzugte, zu schweigen. Zu schweigen und zu beobachten.


Auch jetzt beobachtete er, als er geradewegs in einen lautstarken Streit hineingeriet. Da standen zwei auf dem Hof: Einer mit einem dunkleren Teint und schwarzen Locken, der aussah, als gehöre er eigentlich in südlichere Gefilde, und ein Mädchen in prächtigen Kleidern und mit Farbe im Gesicht, die gerade heftig aufeinander einredeten.
     Alaric hörte dem Streit, in dem es darum ging, dass der Dunkle, der Nero hieß, von der Stammesführerin, die Malah hieß, verlangte, dass irgendein Nila bestraft gehörte – und zwar jetzt und sofort – eine Weile zu, dann hatte er genug gehört und ging weiter.


Er wollte ein bisschen die Gegend erkunden. In der Ferne sah er das Meer träge im Sonnenlicht glänzen, doch seine Gedanken wurden abgelenkt, als er eine Frau näherkommen sah, die geradewegs daher kam, wo er hinwollte. Es war eine Ältere, mit schwarzem Haar und in ein farbenprächtiges Gewand gekleidet, wie er es hier nicht erwartet hätte.


Er beachtete sie nicht weiter, wollte an ihr vorbeihuschen, unerkannt wie er das immer tat, aber sie bemerkt ihn. Bemerkte ihn und sah ihn an. Starrte ihn an. Ihre Augen, die dieselbe Farbe wie frische Erde hatten, waren weit aufgerissen. Und dann schrie sie. Lang und durchdringend, und er erstarrte.


Im nächsten Augenblick war sie zu ihm gestolpert und hatte ihn an sich gedrückt. Und unter ihren Schluchzern hörte er sie immer und immer wieder einen Namen sagen: „Ragna…“


Lu kam durch den Hintereingang ins Haus hinein und stellte sich neben Wulfgar, schob etwas missbilligend den Hocker zur Seite, auf dem sein Gefährte eigentlich hatte Platz nehmen sollen. Entgegen Alistairs Anweisung lief er bereits wieder munter durch die Gegend.
     „Sie glaubt also, dass er Ragna ist?“, fragte er und warf einen Blick zu Lulu, die mit ihrem gestern angekommenen Gast in der Küche saß, seine Hände hielt.
     „Hm“, machte Wulfgar grimmig.
     „Und was hat er dazu gesagt?“
     „Er hat gesagt, dass er zwar nicht so heißt, aber er auch nicht weiß, wo er herkommt. Er sagt, er hat keinerlei Erinnerung an seine Kindheit.“
     „Glaubst du ihm das?“


„Ich glaube, dass er das glaubt, ja.“
     „Und du? Glaubst du, dass er Ragna ist?“
     „Nein“, kam unverzüglich zurück.
     „Was bringt dich zu diesem Schluss?“
     Zumal die Möglichkeit bestand, dass dieser Alaric tatsächlich der totgeglaubte Ragna war. 


 
Sie hatten Ragna damals zur See gelassen und der Regen hatte verhindert gehabt, dass sie sein Totenschiff hatten anzünden können. Es war also möglich, dass Ragna, wenn er nur scheintot gewesen war, später wieder an Land gespült worden war und dann mit Gedächtnisverlust als Alaric aufgewachsen war. Zumal er ihm ähnlich sah. 
     Aber Lu wollte das lieber nicht anmerken. Er wollte keine alten Wunden bei seinem Gefährten aufreißen. Er hatte ja am eigenen Leib mitbekommen, wie schwer es damals für ihn gewesen war, seinen Sohn zu verlieren.


„Ich hatte das Vergnügen, eine Weile mit diesem Alaric zu tun zu haben, und deshalb kann ich mit Sicherheit sagen, dass er nicht mein Ragna ist“, erklärte Wulfgar.
     „Verstehe. Aber Lulu glaubt es.“
     „Ja.“ Er senkte den Blick. „Sie will es glauben.“
     „Was wirst du also machen? Willst du mit ihr darüber reden?“
     Wulfgar schwieg, dachte nach. Dann sagte er: „Wozu? Ich glaube nicht, dass es irgendjemandem schadet, wenn sie das glaubt. Zudem – sie wird sowieso nicht auf mich hören. Weil sie es glauben will. Lulu und Ragna hatten immer eine ganz besondere Bindung zueinander, weil sie sich so ähnlich waren. Sie hat nie aufgehört, unter seinem Tod zu leiden, das weiß ich.“


Lu lenkte den Blick wieder in die Küche, wo Lulu gerade herzlich und warm lächelte. „Ich hoffe, du hast recht.“
     „Ich auch. Und wenn nicht, wird der Kerl mich mal richtig kennenlernen.“


Währenddessen war Malah zu ihrem Bruder in den Stall geschlüpft, wo er seit seiner Rückkehr einen großen Teil seiner Zeit mit irgendwelchen Strafarbeiten verbrachte. Er zeigte sich dabei erstaunlich fleißig, aber wahrscheinlich lag das nur daran, dass er dauerhaft unter Aufsicht von irgendjemandem stand. Meistens waren das seine Großeltern. Rahn, Jana oder Jin hatte Malah jedoch auch schon gefragt. Es waren Leute, denen sie genügend vertraute, dass sie ihren Bruder fair behandeln würden, und die sich notfalls auch ihrer eigenen Haut zu erwehren wussten. Es ging hier schließlich um Nila, und da konnte man nie vorsichtig genug sein.
     Malah löste ihre Großmutter Tanna ab, was einen erleichterten Ausdruck auf Nilas Gesicht brachte. Er hatte es ganz besonders ungern, wenn er von ihr bewacht wurde, weil sie ihn – ständig – belehrte, kritisierte und ihm aufzeigte, was er momentan und sowieso alles in seinem Leben falsch gemacht hatte. Sie ließ ihn richtig spüren, dass er es verbockt hatte.


Nachdem das Tor hinter Tanna zugefallen war, stellte Nila augenblicklich die Mistgabel beiseite und lehnte sich lässig an einen Pfeiler, sah Malah desinteressiert entgegen.
     „Gibt’s endlich Essen?“, fragte er gelangweilt und übersah Malahs grimmigen Gesichtsausdruck dabei geflissentlich.
     „Essen! Du hast gerade ganz andere Probleme, um die du dir Sorgen machen solltest, Nila! Du wirst dich bald für deine… Taten verantworten müssen! Und für das, was du getan hast… ich kann nicht einmal sagen, dass dich dafür nur die Verbannung erwartet…“
     Er zuckte mit den Schultern. „Brumm mir doch einfach ein paar Arbeiten als Strafe auf, und gut ist.“
     „So einfach ist das nicht…“
     „Warum? Du bist doch die Stammesführerin und entscheidest über sowas. Was wollen die Anderen schon machen, wenn du es einfach so bestimmst?“
     „Zum einen würde ich jegliches Vertrauen und jegliche Glaubwürdigkeit verlieren“, zählte sie auf. „Und du weißt auch, dass jeder gegen die Beschlüsse des Stammesführers Einspruch erheben kann, wenn er nicht damit einverstanden ist. Dann kommt der Fall vor die Stammesversammlung, die darüber entscheiden wird, und genau das wird auch in deinem Fall passieren.“


Er trat unruhig von einem Bein aufs andere. „Aber wenn du mich unter deinen Schutz stellst – “
     „Du verstehst es nicht!“, fuhr sie dazwischen. „Wenn ich das mache, könnte ich gestürzt werden! Du weißt, dass jeder mich herausfordern kann, um meine Position zu übernehmen, und dann bin ich keine Stammesführerin mehr! Dann zählt mein Schutz rein gar nichts mehr!“
     „Wer sollte dich denn herausfordern wollen?“, entgegnete er unbeeindruckt. „Es wollte in erster Linie ja nicht mal jemand außer du Stammesführer werden.“
     ‚Außer ich, aber das muss sie ja nicht unbedingt wissen, dass ich ursprünglich vorgehabt hatte, sie zu stürzen.‘
     Als Malah jetzt aber mit unglücklichem Gesicht schwieg, wurde er nervös.
     „Nero…“, sagte sie schließlich bloß.
     „Nero? Was will der denn?“


„Er will, dass du bestraft wirst, natürlich. Du hast ja selber gesehen, wie wütend er auf dich war.“
      Er lachte nervös. „Aber er hat gar nicht das Zeug dazu, dich herauszufordern. Er würde nie gegen ein Mädchen kämpfen.“
      „Nila, er kam vorhin zu mir und hat mir gedroht, dass er mich herausfordern wird, wenn ich dich nicht endlich anklage und bestrafe. Er will vor der Stammesversammlung beantragen, einen Wettkampf mit mir austragen zu dürfen, anstatt zu kämpfen. Solch einen, wie ihr Jungs ihn immer im Sommer zu Ehren der Götter veranstaltet. Bogenschießen, Speerwerfen, Laufen, Jagen und Fischen. Ohne Kämpfe. Und ich muss dir nicht sagen, dass Nero das gewinnen wird. Du weißt, dass er bislang jeden Wettkampf gewonnen hat, seitdem er daran teilnimmt.“
      „Aber wenn er das gewinnt, muss er ja den Stamm anführen. Das kann doch nicht sein Ernst sein, dass er…“
      „Er ist bereit dazu. Sogar in der jetzigen Situation, in der wir uns vielleicht bald einem Krieg gegenübersehen. Das habe ich ihm auch gesagt, aber er war sich dessen völlig bewusst. Und er sah nicht so aus, als ob er nur spaßen würde.“


Und manchmal fragte sie sich, ob sie es nicht einfach dazu kommen lassen sollte. Ob sie nicht einfach Nero übernehmen lassen sollte. Vielleicht stellte er sich als Anführer besser an als sie. Denn bislang hatte sie sich während ihrer Führerschaft nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Im Gegenteil. Sie hatte so viele Fehler gemacht, und jetzt standen sie kurz vor einem Krieg, während ihre oberste Sorge war, ihren Bruder zu beschützen.   
     Doch als Nila sie jetzt mit einem Blick abwarf, der ihr sofort ein schlechtes Gewissen bereitete, verwarf sie den Gedanken wieder. Er hatte wirklich Angst. Denn wenn Nero tatsächlich Stammesführer werden würde, wäre das sein Todesurteil. Das wussten sie alle.


„Aber ich habe euch wertvolle Informationen gebracht!“, warf er ein. „Das muss doch etwas wert sein!“
     „Vielleicht kannst du deswegen auch noch darauf hoffen, dass du nur verbannt wirst.“
     „Nein, du verstehst das nicht!“
     Plötzlich stand er vor ihr, sein Gesicht eine Fratze der Angst, packte sie an den Armen. Doch obwohl er sie einst mit dem Messer bedroht hatte, zuckte Malah nicht einmal mit der Wimper. Sie konnte nicht anders, als ihrem Bruder zu vertrauen.
     „Ich kann nirgends hingehen!“, rief er verzweifelt. „Ida wird mich umbringen lassen, wenn du mich nicht beschützt! Bitte, Malah, du bist doch meine Schwester! Meine Familie! Du hast gesagt, dass ich immer zu dir kommen kann!“
     Das hatte sie. Aber wie sollte sie das anstellen?


Sie befreite sich aus seinem Griff, drehte sich weg, seufzte schwer und sagte streng: „Hör zu, Nila, ich werde morgen die Stammesversammlung einberufen, und du wirst vor ihr alles gestehen, was du verbrochen hast.“
      „Bist du wahnsinnig?“
      Sie wirbelte herum, funkelte ihn wütend an. „Nein, ich versuche dir zu helfen! Und dafür muss ich erst einmal die anderen Stammesmitglieder hinter mich und dich bringen, bevor wir das nach außen tragen. Die Situation mit dem Ahn-Stamm ist gerade verzwickt genug, falls du das nicht mitbekommen hast! Wenn wir Reinard in die Schuhe schieben können, dass er dich dazu gezwungen hat, Lin zu töten…. Er hat dich doch dazu gezwungen, oder? Sag mir, dass er dich dazu gezwungen hat, Nila!“
      „Natürlich hat er das!“


„Gut. Dann haben wir auch etwas gegen Reinard in der Hand. Das ist wertvoll. Für deine Verteidigung und später auch gegen den anderen Stamm. Aber erstmal klären wir das intern. Also – du stellst dich vor die Versammlung und wirst erklären, dass du Lin getötet hast, aber das im Auftrag von Reinard geschah, weil er dich damit erpresst hat, dass er sonst allen das mit Nara erzählt. Und dann wirst du erklären, dass dir leidtut, was du Nara angetan hast und du niemals wolltest, dass sie stirbt und du jetzt natürlich die Verantwortung für sie und euer Kind übernehmen und Nara heiraten wirst!“
      „Warte, für das Kind? Das Kind ist doch tot!“
      „Nein, ist es nicht, wie sich herausgestellt hat. Sie ist immer noch schwanger.“


Er sperrte den Mund auf, brachte aber kein Wort heraus, sondern starrte sie nur verstört an.
     „Hast du das verstanden?“, fragte sie nach, als von ihm nichts mehr kam.
     „Ich… Du kannst doch nicht von mir verlangen… Ich kann doch unmöglich die Vaterschaft für eine Missgeburt übernehmen! Das kannst du nicht von mir verlangen!“   
      Jetzt war es Malah, der der Mund aufklappte. Sie öffnete und schloss ihn ein paarmal, suchte nach Worten, die es in dieser Situation einfach nicht zu geben schien.
     „Wenn du nicht mein Bruder wärst, Nila, ich schwöre, ich würde dich einfach eiskalt im Regen stehen lassen und dich Nero überlassen!“, zischte sie wütend. „Nara ist meine Freundin, verstehst du das? Du solltest froh sein, dass ich dir überhaupt helfe, nach dem, was du ihr angetan hast! Ich sollte dich eigentlich da rüberschicken, dich ausliefern, dass du sie um Verzeihung anflehst und sie auf Knien darum anbettelst, dass sie dich nimmt! Du kannst nämlich froh sein, wenn dich hier überhaupt noch jemand nimmt, nach dem, was du dir geleistet hast!“  


Sie schüttelte den Kopf, zügelte ihre Wut und fuhr ruhiger fort: „Du hast so jemanden wie sie gar nicht verdient. Vielleicht ist es besser, wenn ich dir gleich den Umgang mit ihr verbiete. Vor allen anderen.
     Nichtsdestotrotz wirst du vor der Versammlung reumütig sein und sagen, dass du sie heiraten willst. Du wirst es tun, egal ob du sie letztendlich heiratest oder nicht. Und wenn du das alles getan hast und geschworen hast, von nun an ein rechtschaffenes Leben führen zu wollen, werde ich ein gutes Wort für dich einlegen, anmerken, dass du uns über Idas Pläne erzählt hast. Dann werde ich vorschlagen, dich unter Arrest zu stellen und dir Strafarbeiten aufzubrummen, so wie jetzt, bis du bewiesen hast, dass du deine Lektion gelernt hast. Und wenn alles gut geht und die Anderen zustimmen, werden wir sehen, was wir weiter wegen Reinard, dem Ahn-Stamm und Nara tun werden. Hast du das verstanden?“
     Nila nickte hastig. Das gefiel ihm ganz und gar nicht, aber er hatte keine andere Wahl, wenn er überleben wollte. 
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Damals, als ich Kapitel 113 geschrieben habe, in dem Lu sich von Wulfgar getrennt hat, musste ich mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass sie ja wieder zusammenkommen werden, um das durchzuziehen. Und auch wenn der Weg bis dahin nicht einfach war, sind sie es jetzt wieder. Aber es war auch irgendwie klar, dass ich sie nicht getrennt lassen würde, oder? Immerhin erfreut sich dieses Paar nicht nur bei mir großer Beliebtheit.
      Mir ist übrigens bewusst, dass Wulfgar nach seinem Koma eigentlich nicht so schnell wieder herumlaufen könnte, aber das schreiben wir einfach mal wieder der künstlerischen Freiheit zu.
 
Auch den Ragna-Sim konnte ich nicht so einfach verschwinden lassen, also darf er ab jetzt als Alaric hier mitspielen, und was bietet sich da besser an, als dass Lulu glaubt, dass er ihr Sohn mit Amnesie ist? Ob er das jetzt wirklich ist oder nicht, will ich hier übrigens nicht verraten.
 
Und zum Schluss noch zu Nara und Nila: Eigentlich wollte ich Nara das Kind verlieren lassen, aber es hat sich letztendlich einfach mehr angeboten für die Entwicklung der Story, dass sie es behält. Ob Nila es wohl jetzt endlich schaffen wird, zu ihr und ihrem gemeinsamen Kind zu stehen? 
 
Das nächste Mal dann trifft Alaric auf jemand ganz besonderen, wir sehen Nara wieder, die Hilfe von unerwarteter Seite bekommt, und die Kriegsplanung geht weiter.
 
Bis dahin, danke euch fürs Vorbeischauen, passt auf euch auf, und ich verabschiede mich!

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