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Mittwoch, 9. Oktober 2019

Kapitel 98 - Visionen



‚Wann nur…‘


‚…bin ich endlich frei?‘





Tann nahm einen tiefen Zug der frischen Abendluft, die noch immer regenschwer roch und nach dem Salz des Meeres schmeckte. Er füllte seine Lungen, versuchte, sich zu erfrischen und die schweren Gedanken zu vertreiben, die ihn – mal wieder – befallen hatten.


Es funktionierte nur unzureichend, aber er beschloss trotzdem, zurückzugehen. Er war beinahe die ganze Nacht hier gewesen, bald würde der nächste Tag anbrechen und dann musste er wieder Zuhause sein. Er wollte schließlich nicht, dass man sich Sorgen um ihn machte.
      Es gab ja auch eigentlich nichts, worüber sie sich Sorgen machen mussten – worüber er sich Sorgen machen musste. Er hatte ein gutes Leben, wurde gebraucht und hatte wieder eine Aufgabe. Aber es änderte nichts daran, dass die Verzweiflung ihn trotzdem noch immer in regelmäßigen Abständen niederschlug.
      Und es war ja nicht nur das. In letzter Zeit hatte er das Gefühl, gefangen zu sein. Was merkwürdig war, da er eigentlich nie den Drang gehabt hatte, von hier fortzugehen. Hier war er Zuhause, hier, im Land seiner Vorfahren, wo auch seine Familie und seine Freunde waren.


Er war so mit der Frage beschäftigt, warum er sich dann fühlte, als müsste er das nächste Boot besteigen, dass er gar nicht merkte, dass er bereits Zuhause war und völlig sinnlos Richtung Stall ging. Und dass er nicht mehr allein war. Er hörte das verhohlene Schluchzen noch, bevor er sie sah. Es war Tanna, die am Grabhügel stand und gerade bitterlich weinte.


Er ging sofort zu ihr, fragte besorgt: „Tanna, was ist denn los? Ist irgendetwas passiert?“
     „N-nein, es ist alles gut“, stammelte sie, und Tann wusste, dass es gelogen war. Er hatte das selber viel zu oft in der Vergangenheit gesagt.
     „Du kannst mir ruhig sagen, was los ist. Du hast mir immer geholfen, als es mir nicht gut ging; da will ich dir auch gern helfen“, sagte er sanft, und als sie nicht antwortete, fragte er: „Ist es wegen Leah?“
     Volltreffer. Sie zuckte ertappt zusammen und machte dicht, verschränkte die Arme und ging auf Abstand.


„Ich habe doch gesagt, dass sie noch immer bei mir ist. Als Geist“, wiegelte sie ab.
     „Aber es ist trotzdem wegen ihr. Habt ihr euch gestritten?“
     „Nein, ich…“ Sie stocke, rang die Hände zum Himmel und da wusste Tann, dass sie endlich erzählen würde. „Ich kann ja nicht mal mit ihr sprechen! Wir versuchen es mit Händen und Füßen, zu kommunizieren, aber… ach, es ist einfach nicht dasselbe!“ Sie sah ihn an. „Kannst du dir vorstellen, wie schrecklich es ist, denjenigen, den du liebst, zu sehen, ihn aber nicht anfassen zu können?“
      Tann konnte. Nun, theoretisch konnte er Tanna ja berühren, aber er durfte es nicht mehr.


„Und dann ist sie ja nicht mal immer da“, lamentierte sie weiter, ohne auf seine Antwort zu warten.
     „Nicht?“
     „Nein. Geister sollen eigentlich gar nicht dauerhaft in der Welt der Lebenden bleiben. Es laugt sie aus, weshalb sie zurück ins Geisterreich müssen, um sich „auszuruhen“, sozusagen. Ich sehe sie am Tag vielleicht drei bis fünf Stunden, wenn es hinkommt.“
     „Das stelle ich mir schwer vor.“
     „Ja. Das ist es auch...“
     Tann zögerte. Das war seine Chance, um sie vielleicht endlich wieder für sich zu gewinnen. Aber es war kein sehr schöner Zug von ihm. Sicher, Leah war tot, aber dennoch schien sie noch immer an Tanna zu hängen, und die an ihr. Doch auch er war einsam.


„Nun, wenn es dir hilft“, entschied er sich schließlich für einen Mittelweg, „kannst du immer zu mir kommen, wenn du… nun ja… dich einsam fühlst.“
       Ein böser Blick von ihr traf ihn. Also fügte er hastig hinzu: „Wenn du wen zum Reden brauchst, meine ich. Oder eine Schulter zum Anlehnen. Daran ist ja nichts verkehrt.“


„Danke, Tann“, war sie besänftigt, aber sie sagte nicht, ob sie auch gedachte, auf sein Angebot einzugehen, was er schade fand.


Da es wenig später – mal wieder – regnete, fand Aans Lehrstunde an diesem Tag im Stall statt. Hier hatten sie noch Erdboden, den sie zum Schreiben benutzen konnten, nachdem Elrik vor einiger Zeit schon im Haus Holzböden hatte verlegen lassen. 
     Zu seinen Schülern zählten neben Gefährtin Jana seit heute auch Luis und seine Mutter. Worüber er, ehrlich gesagt, froh gewesen war. Seitdem die letzten Kinder des Stammes herangewachsen waren, hatte er nicht mehr unterrichtet, und er hatte sich gefreut, es wieder tun zu können. Doch Janas anfängliche Euphorie zu lernen war genauso schnell verflogen, wie sie gekommen war, als sie gemerkt hatte, dass sie nicht so gut darin war.
     Luis hingegen fiel das Lernen wesentlich leichter, aber sein Problem war es, dass er nicht sehen konnte. Er hatte erklärt, dass er mit den Fingern fühlen musste, was er schrieb, aber das war bei dem lockeren Erdboden ja überhaupt nicht möglich. Selbst mit Holz und Messer oder Tontafeln stellte er sich das nicht einfacher für den Blinden vor. 
     Aan musste jedenfalls erstmal mit Lulu abklären, was sie das am besten handhabten, weil mit Luis selber nicht gut darüber zu reden war. Deshalb ließ er seinen anderen beiden Schülern eine Aufgabe da, um draußen in Ruhe mit seiner Schwester darüber reden zu können.


Zurück blieben Luis und Jana, die noch immer arge Probleme mit diesem komischen Schreibzeug hatte. Sie konnte sich ja nicht mal die Geschichten der Götter merken, die Luis schon in- und auswendig kannte. Er war auch viel besser mit seinem Kopf als sie, das wusste sie. Auch jetzt noch versuchte er gerade, das Zeichen nachzumalen, das Aan ihnen heute gezeigt hatte. Doch da er nicht sehen konnte, was er tat, sah es sogar noch schlechter aus als ihr kläglicher Versuch.
     Es war am Anfang schon ein bisschen komisch gewesen, mit Luis zu tun zu haben, wo sie ihm doch den Posten als Schamanenlehrling streitig gemacht hatte. Aber sie war glücklicherweise kein Mensch, der lange unter schlechtem Gewissen litt.


Auch jetzt hatte sie keine Scheu, ihn anzusprechen und zu fragen: „He, Luis, warum willst du eigentlich kein Schamane mehr werden?“, fragte sie ihn.
     Direkt wie eh und je. Seitdem er von Zuhause weggelaufen war, traute sich kaum einer mehr, ihn auch nur anzusprechen.
     „Ich kann nichts mehr sehen, falls du das nicht mitbekommen hast.“
     „Na und?“
     „Müsstest du dich nicht eigentlich freuen, dass du keine Konkurrenz mehr hast?“, meinte er irritiert.


Sie lachte. „Konkurrenz ist super. Da bin ich viel motivierter, mich anzustrengen.“
     „Tja, ich muss dich enttäuschen: Ich habe nicht mehr vor, Schamane zu werden.“
     „Hätt ja nicht gedacht, dass du dich nicht mehr traust.“
     „Was soll das denn heißen?“
     „Dass ich dich in Grund und Boden schamanen würde“, antwortete sie grinsend.
     „So ein Wort gibt es nicht mal.“
     „Jetzt schon.“


Normalerweise ließ Luis es nicht auf sich sitzen, wenn man ihn herausforderte. Aber die letzte Zeit hatte seinen Kampfwillen einfach aufgefressen.
     „Wie auch immer“, erwiderte er desinteressiert, bevor er sich wieder seiner Aufgabe zuwandte.
     „Du warst damals viel stärker, weißt du das?“, ließ sie ihn jedoch nicht in Ruhe.
     „Mag sein.“
     „Ich fand’s immer total stark, dass du wusstest, was du werden willst. Tanja hat immer gesagt, dass so ein langweiliger Luschenposten gut zu dir passt. Aber sie hat keinen Schimmer! Schamane zu sein ist super!“
     „Warum willst du eigentlich so unbedingt Schamane werden?“


„Weil die Götter was Großartiges sind!“, antwortete sie, und obwohl er ihr Gesicht nicht sehen konnte, hörte er das Lächeln aus ihrer Stimme heraus. Die Bewunderung. „Das findest du doch auch, oder?“
     Er hatte die letzte Zeit nicht sonderlich viel an die Götter gedacht. Und wenn er es jetzt tat, fand er, dass sie einen ziemlich schwarzen Humor hatten für das, was sie ihm angetan hatten.
     „Ich fand es zumindest mal“, gab er deshalb zurück.
     „Siehst du, und deswegen warst du schon immer viel toller als Tanja!“


Er musste unwillkürlich schmunzeln. „Ich fand dich damals auch ziemlich stark. Ich wollte immer mit dir spielen, als wir Kinder waren“, gab er zu. „Aber du warst irgendwie immer woanders. Und… naja, meine Augen sind auch nicht besser geworden. Ich konnte irgendwann einfach nicht mehr mit dir mithalten.“
     „Aber wir sind trotzdem immer Freunde gewesen. Wir sind auch jetzt noch Freunde“, eröffnete sie ihm.
     Luis wusste erst nicht, was er dazu sagen sollte. Dann aber fiel ihm auf, dass dieses Gespräch das Erste war, das er seit langem führte, das ihm nicht unangenehm war. Jana war schon immer ein angenehm unkomplizierter Mensch gewesen.


„Stimmt“, stimmte er deshalb zu.
      „Gut, dann verrat mir doch gleich mal, wie du dir all das Zeug merken kannst. Das will mir einfach nicht in den Kopf.“
      Ja, sie war schon immer unkompliziert gewesen, und momentan schätzte Luis das mehr denn je.


Als der Unterricht vorüber war, ging er nach draußen und seine Schritte führten ihn ganz automatisch zu der Stelle, die er früher immer aufgesucht hatte. Er musste es gar nicht sehen, er wusste ganz genau, dass er vor dem Schrein stand. 
     Das Gespräch mit Jana hatte etwas in ihm ausgelöst. Er hatte erstmals wieder an die Vergangenheit denken müssen. Vor allen Dingen an seine Kindheit. Wie klar und deutlich damals alles für ihn gewesen war. Und damit meinte er nicht nur seine Sicht. Er hatte genau gewusst, was er wollte und auch seine immer schlechter werdenden Augen hatten ihn nicht davon abgehalten. Er hatte seinen Vater und sein Handwerk immer bewundert, und in diesem Moment fragte er sich, ob es wirklich nur das gewesen war, warum er überhaupt hatte Schamane werden wollen.
     „Wichtig ist nur, dass dein Herz deinen Göttern gehört“, kamen ihm Lunas Worte in den Sinn.
     Wenn er an sie dachte, tat es noch immer weh, aber auch sie hatte so voller Enthusiasmus über ihre Göttin gesprochen, wie Jana zuvor über ihre Götter.


Gedankenverloren trat er an den Schrein heran und als er den rauen Stein unter seinen Fingern spürte, war das für ihn so ein vertrautes und bekanntes Gefühl. Das war Sicherheit, Geborgenheit, seine Kindheit, und es fühlte sich so an, als würde er nach Hause kommen. Er konnte es einfach nicht erklären. Er spürte den kühlen Stein, der tagsüber von der Sonne erwärmt wurde, roch das erloschene Feuer und die Kräuter, die sein Vater bei seinem letzten Ritual verbrannt hatte. Er konnte ihn sogar dabei sehen. Zumindest war es ihm so.


Bevor er wusste, was er tat, hatte er sich vor dem Schrein niedergelassen, hatte zielsicher nach dem Feuersteinen und dem Zunder in seinem Beutel gegriffen, und im Handumdrehen brannte das heilige Feuer erneut. 
     Im nächsten Moment hatte er die Ritualkräuter, die er noch immer gewohnheitsgemäß bei sich trug, in die Flammen geworfen, so wie er es schon unzählige Male zuvor getan hatte. Ein herber Geruch begann sich daraufhin auszubreiten. Er kroch ihm in die Nase, erfüllte ihn. Die Hände zum Himmel gehoben, ein leichtes Summen angestimmt. Die Kälte des Herbstes an seiner Haut, der Wind, der das Gras zum Rauschen brachte. Er hörte die Apfelbäume ächzen. Das Feuer knistern. 
     Und dann war es ihm plötzlich, als würde er den Boden unter den Füßen verlieren.


Nur für einen Moment lang fiel er, bevor er wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Und dann war sie wieder da, direkt vor ihm. Die Frau mit dem hellen, vom Mondlicht geküssten Haar. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, wie damals auch, das Meer lautlos im Hintergrund. Doch sie war so weit weg. Warum war sie so weit weg? Und warum konnte er sie einfach nicht erreichen, egal, was er auch versuchte? Er schien sich immer mehr zu entfernen und im nächsten Moment fiel er in die Dunkelheit zurück.


Mit einem Ruck kehrte er in die Wirklichkeit zurück. Er spürte die Schwere seines Körpers und das Gras unter seinen Händen. Scheinbar war er hingefallen.
     Doch das war nicht wichtig. Viel wichtiger war die Frage, was er da gerade gesehen hatte. Diese Frau. Er hatte sie schon einmal gesehen. Damals, in einem Traum, nachdem er Luna getroffen hatte. Nachdem sie ihn das erste Mal überfallen und ihm diese merkwürdigen Pilze zu essen gegeben hatten, nach denen er sich noch immer verzehrte. 
     Aber was hatte das zu bedeuten, dass er sie jetzt erneut gesehen hatte? Das war es nämlich – er hatte sie gesehen. Er war nicht blind gewesen!


Auch die nächste Zeit versuchte Luis sich darauf einen Reim zu machen. Und er versuchte, sie noch einmal zu sehen. Aber obwohl er erneut Rituale abhielt, gelang es ihm nicht.


Stattdessen geschah etwas anderes mit ihm. Jedes Mal, wenn er den Göttern opferte, sah er etwas anderes. Auch wenn sehen der falsche Ausdruck dafür war. Manchmal wusste er plötzlich, welches Wetter der morgige Tag brachte.


An anderen Tagen konnte er vorhersehen, wenn eines der Tiere krank wurde. Selbst Banalitäten sah er.


Einmal beispielsweise sah er, wie Tanna stolperte und sich das Bein verstauchte, und genau so geschah es am nächsten Tag.


Wulfgar, der sich bei einem der Botengänge ein Hosenbein zerriss.


Malah, die bei einem Treffen mit Roah scherzte (und das ziemlich derb).


Oder einer der Hunde, der den Fisch gegessen hatte, den Dana fürs Mittagessen zurechtgelegt hatte.


Es war merkwürdig und es war ein bisschen beängstigend. Aber vor allen Dingen wusste er nicht, was er damit anfangen sollte. 
     Er hatte es bislang für sich behalten, da es nichts Ernsthaftes war, das er sah. Dennoch wusste er nicht einmal, ob er diese Dinge überhaupt weiter sehen sollte. Ob er weiter die Rituale abhalten sollte, um sie zu sehen.


Doch dann, eines Tages, sah er Tanjas Unfalltod voraus, und da war er schließlich gezwungen, einzugreifen.
     Also suchte er die ehemaligen Kindheitsfreundin auf, die noch immer mit Wirt Schutz vor Ort suchte, als sie gerade auf dem Hof war, um besagten Gatten mal wieder mit einem ihrer Monologe zu bedenken. Luis hoffte nur, dass außer ihnen niemand sonst anwesend war. Er hörte zumindest niemanden.


„Tanja, du hast einen Riss in deinem Holzbein. Du solltest es austauschen lassen“, erzählte er ohne Umschweife.
      „Woher willst du denn sowas wissen?“, kam jedoch nur unfreundlich zurück. „Du kannst ja nicht mal sehen!“
      „Ich weiß es einfach. Vertrau mir und tausch es aus.“
      Sie machte ein abfälliges Geräusch. „Ich wüsste nicht, warum ich das tun sollte. Du hast doch einen an der Klatsche!“
     „Weil es dir sonst eines Tages zerbrechen wird, du mit dem Kopf voraus auf einen Stein fällst und stirbst, deshalb!“, schoss er wütend zurück. Tanja hatte noch immer so eine unheimliche Art, ihn zu reizen.
     Sie lachte abfällig. „Ja, sicher!“


Woraufhin sich Wirt endlich einmischte. Hätte Luis nicht dank Tanjas Selbstgespräch gehört, dass da noch jemand sein musste, hätte er bislang nicht einmal bemerkt, dass er überhaupt zugegen war. Wirt war immer so ungemein ruhig, dass Luis ihn so gut wie nie hörte, wenn er nicht gerade am Laufen war. Das war ein bisschen nervig.
     „Lass mich dein Bein sehen“, forderte er.
     „Ach komm! Du glaubst das doch nicht etwa?“ Sie war einen Moment lang still, dann sagte sie unwillig: „Na schön! Aber nur, damit du dir keine Sorgen machst.“


Er hörte, wie Wirt mutmaßlich das Holzbein untersuchte, während Tanja genervt meinte: „Da ist ja gar nichts!“
     „Doch. Da ist ein kleiner Riss. Genau hier“, erklärte Wirt jedoch.
     „So ein kleines Ding!“
     „Ich werde dir trotzdem ein neues Bein machen.“
     „Na gut. Dann mach es wieder dran.“
     „Warte!“, rief Luis erschrocken. „Du willst doch nicht derweil dein altes Holzbein weiter tragen?“
     „Natürlich! Wie soll ich denn sonst laufen, bis mein Neues fertig ist? Du bist mir vielleicht lustig!“
     „Tanja, dein Holzbein ist kaputt und du solltest es nicht mehr tragen, wenn du nicht sterben willst!“, erwiderte Luis ernst.
     „Pff! Unsinn!“


Er hörte, wie sie sich in Bewegung setzte. Ihre Schritte waren nicht gleichmäßig. Noch mehr als es bei Wirt der Fall war. 
     Luis setzte ihr unverzüglich nach. Zumindest versucht er es. „Tanja! Ich sage dir das nicht aus Spaß!“
     „Du bist paranoid. Ich werde schon vorsichtig sein.“
     „Nein! Das wird nichts helfen! Du wirst sterben, wenn du dein Holzbein nicht ausziehst!“
     Er wusste nicht genau, wann es passieren würde. Wenn er ehrlich war, hatte er nie eine Ahnung, wann seine Vorhersehungen eintrafen. Aber bislang hatten sie meistens nicht lange auf sich warten lassen.
     „Es kann jede Minute passieren!“, rief er. „Bleib endlich stehen!“
     „Als ob du das so genau weißt! Du gehst mir auf die Nerven! Lass mich in Ruhe!“


Luis konnte nicht anders. Ihm blieb keine andere Wahl, als zu offenbaren: „Ich weiß es, weil es mir die Götter gesagt haben!“
     Ihr ungleichmäßiger Schritt verstummte. „Als ob! Du hast doch gar nichts mehr mit den Göttern am Hut. Also komm mir nicht so!“
     „Ich habe ihnen aber geopfert und da haben sie es mir gezeigt. Oder warum sollte ich sonst davon wissen, dass da ein Riss in deinem Holzbein ist, hm?“


Tanja war verstummt. Er hörte ein weiteres Paar ungleicher Schritte. Es war Wirt.
     „Gib mir dein Bein, Tanja!“, forderte er ungewohnt streng. „Mit Sehern spaßt man nicht.“
     „Sehern?“, gab Tanja verdattert zurück.
     „Ja. Wenn die Götter ihn erwählt haben, in die Zukunft zu sehen, müssen wir das ernst nehmen.“


Tanja erklärte sich daraufhin tatsächlich widerwillig einverstanden. Luis konnte erneut hören, wie sie das Bein entfernten, dann nahm Wirt seine Frau Huckepack und ihr Kichern war zu hören, während sie im Haus verschwanden. Wirt ließ ihm ein Wort des Dankes da, Tanja nicht. Nicht, dass er etwas anderes erwartet hätte. Er war einfach nur froh, dass das überstanden war und sie auf ihn gehört hatten.


Doch leider hatte er sich zu früh gefreut. Kaum, dass Tanja und Wirt weg waren, tauchte ausgerechnet sein Vater auf. Er war so in Gedanken, dass er ihn überhaupt nicht ankommen hörte.
      „Luis“, fing sein Vater an und erschreckte ihn damit beinahe zu Tode, „was du da gesagt hast… haben dir wirklich die Götter von Tanjas Bein berichtet?“


„Ja, das haben sie“, gab Luis genervt zu. „Aber du brauchst gar nicht zu denken, dass ich das noch einmal machen werde. Ich bin damit durch. Ich weiß gar nicht, warum ich es in erster Linie getan habe.“
     „Damit durch? Das ist doch nicht dein Ernst!“
     „Das ist es voll und ganz!“
     Er wollte gehen, aber sein Vater hielt ihn zurück. Luis war es ein leichtes, sich aus seinem Griff zu befreien. Er hatte nie bemerkt, wie kräftig er inzwischen im Gegensatz zu seinem schmächtigen Vater geworden war.


„Die Götter haben dir die Gabe gegeben, in die Zukunft zu sehen“, ereiferte der Schamane sich. „Wie kannst du dieses Geschenk derart mit Füßen treten?“
     War er etwa wütend? Sein Vater war noch nie wütend ihm gegenüber gewesen.
     „Geschenk? Sie haben mir mein Augenlicht genommen!“, warf Luis aufgebracht zurück. „Ich würde diese dämliche Gabe sofort gegen meine Sicht tauschen, wenn ich es könnte!“
     „Das kannst du aber nicht. Also solltest du lieber dankbar sein für das, was du hast, und es zum Wohle aller einsetzen.“
     „Nein. Ich bin durch mit diesem ganzen Götterkram. Das habe ich doch schon gesagt.“
     Er drehte ab. Er dachte, dass sein Vater aufgeben würde, so wie er das bislang immer getan hatte.


Doch diesmal nicht. Im nächsten Moment brach er tatsächlich wütend über ihn herein: „Wie kannst du es wagen, derart selbstsüchtig zu sein? Nach allem, was alle anderen immer für dich getan haben! Du benimmst dich wie ein kleines Kind! Schlimmer noch! Als Kind warst du vernünftiger als jetzt! Du hattest ein großes Herz, aber davon sehe ich überhaupt nichts mehr! Stattdessen suhlst du dich in Selbstmitleid und stößt alle von dir, die dir helfen wollen. Es ist schrecklich, was dir widerfahren ist, aber das gibt dir nicht das Recht, dich so aufzuführen! 
     Weißt du eigentlich, wie viel Kummer du allen bereitest? Vor allen Dingen deiner Mutter? Keiner wagt es mehr, dich anzusprechen, aus Angst, etwas Falsches zu sagen und dir zu nahe zu treten. Ich schäme mich für dein Verhalten, Luis! Ich war immer so stolz auf dich, aber jetzt bin ich nur noch enttäuscht! Ich habe anscheinend viel mehr als nur einen Fehler bei dir gemacht...“
     Er war einen Moment lang still, dann fügte er hinzu: „Wenn du es so sehr genießt, wie es momentan ist, dass du allein und für dich bist, dann solltest du vielleicht lieber gehen und irgendwo alleine leben. Dann bist du niemandem mehr Rechenschaft schuldig und kannst tun und lassen, was du willst, und musst niemandem mehr Kummer bereiten.“


Luis hörte, wie er sich entfernte. Und er konnte nichts sagen. Was sein Vater gesagt hatte, hatte ihn tief getroffen. Denn so sehr es ihm auch missfiel, er hatte recht.
     Aber was sollte er nur tun? Er fühlte sich so verstoßen, so verraten und allein, und das war seine eigene Schuld. Vielleicht war es wirklich besser, von hier wegzugehen und irgendwo einen Neuanfang zu wagen. 
     Als er noch darüber nachdachte, was er nun tun sollte, kroch ihm der typische Geruch der Ritualkräuter in die Nase und da wusste er, dass sein Vater nicht etwa gegangen war, sondern er vorm Schrein hockte und den Göttern opferte. Natürlich. Das tat er ja für gewöhnlich, wenn er nicht mehr weiter wusste und Rat suchte.


Doch als er den Rauch roch, geschah noch etwas anderes mit ihm. Ihm wurde so schwindelig, dass er beinahe von den Füßen fiel, und da wusste er, dass er erneut sehen würde. Und was er dann sah, erschreckte ihn zutiefst.


Denn es war die Totenfeier für Rahn, der an seinem schwachen Herzen gestorben war.


Als der schrille Schrei von Akara ertönte, war er längst wieder zurück und auf dem Weg zum Haus. Er dachte nicht nach, wohin er ging, aber er fand den Weg trotzdem. So als würde jemand ihn führen.


Und auch wenn er es nicht sah, wusste er genau, was geschehen war. Als er zur Tür hereinplatzte, lag Rahn schon längst am Boden.


Rahn war noch nicht gestorben, aber sein Zustand war kritisch. Selbst Sharla wusste nicht mehr, was sie noch für ihn tun konnten.
     „Es liegt in der Hand der Götter, ob er stirbt oder nicht“, sagte sie nur.
     Akara, die nicht eine Sekunde von der Seite des Kranken gewichen war, zuckte jetzt zusammen, und auch Neros Augen wurden groß vor Schreck.
      „Vielleicht… vielleicht braucht er nur ein bisschen Ruhe“, meinte der Jüngere hoffnungsvoll, doch Luis wusste es leider besser.


Es brachte nichts, sie alle anzulügen, also sagte er es ihnen: „Es tut mir leid, euch das sagen zu müssen, aber er wird sterben. Die Götter schicken mir seit kurzem Visionen und ich sah vorhin, dass er sterben wird.“


„Warum sagst du sowas?“, ging Akara ihn da tatsächlich wütend an. „Das ist gelogen! Rahn ist früher auch ab und an mal ohnmächtig geworden, aber er hat sich davon immer erholt! Und das wird er auch diesmal tun!“


„Luis lügt nicht“, kam ihm plötzlich Tanna zu Hilfe, und er konnte ganz genau die Angst in ihrer Stimme hören. „Es sind überall Geister bei meinem Bruder. Alle seine Verwandten, die darauf warten, ihn ins Geisterreich zu geleiten.“


Da brach Akara schließlich in Tränen aus, und die nächste Zeit war alles, was man hörte, ihr lautes Heulen und Schluchzen um den Mann, den sie liebte und den sie verlieren würde.
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Hier weiterlesen -> Kapitel 99

Nächstes Mal dann werden wir erfahren, ob sich Luis Vision bewahrheiten wird oder ob sie einen Weg finden werden, um Rahn zu retten.

Bis dahin, danke ich fürs Lesen und verabschiede mich!   

2 Kommentare:

  1. >:( >:( >:( >:( >:( >:( >:( >:( >:( >:( >:( >:( >:(

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    1. https://arijanith.blogspot.com/2019/10/kapitel-99-die-dinge-die-wir-tun-und.html
      :-) ?

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