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Mittwoch, 17. Februar 2021

Kapitel 133 - Was er nicht hätte hören sollen


Am Abend, nachdem sie einen ordentlichen Braten gehabt hatten, stand Tann nachdenklich am Feuer, als Tanna zu ihm stieß.
     „Na, gehst du heute runter oder wieder nicht?“, fragte sie ihn.
     Tann schüttelte den Kopf. Er war schon seit ein paar Tagen nicht mehr runter zum Handelsposten, zu seinem Stammtisch – zu Isaac – gegangen, und jetzt hatte er das weniger vor denn je. Er wusste einfach nicht, wie er sich Isaac gegenüber verhalten sollte.
     „Und du?“, lenkte er lieber von dem Thema, über das er nicht sprechen wollte, ab. „Du heute nicht bei deinem Bruder?“
     „Lu ist gerade zu seinem Schützling in den Stall gegangen. Es geht ihm wohl nicht gut.“
     „Eine Schande, was die Sucht aus einem gesunden jungen Mann wie ihm gemacht hat.“    
 

„Hm-hm“, stimmte Tanna zu. „Es ist gut, dass er versucht, davon loszukommen. Und sonst? Ich habe gehört, dass ihr heute ganz schön was erlebt habt bei der Jagd.“
     Also musste er ihr im Folgenden von den Erlebnissen des Tages erzählen, die er lieber vergessen wollte, aber nicht konnte. Natürlich verschwieg er ihr aber diesen ganz speziellen Part.
     „Und du hast Diana gesehen?“, fragte sie, und als er nickte, berührte sie ihn mitfühlend an der Schulter.
     „Und bei euch?“, wechselte er lieber schnell das Thema. „Bei euch was spannendes passiert?“
     „Ach, das übliche. Hochzeiten, Kochen, Schwangerschaften. Frauenkram.“
 

„Greta kam auch dazu und meinte, Lu wegen ihres Bruders angehen zu müssen“, nahm sie plötzlich Fahrt auf. „Hat ihn für alles die Schuld in die Schuhe geschoben und ihn bezichtigt, Wulfgar betrogen zu haben. Ist das denn zu glauben? So etwas dreistes!“
     „Sowas.“
     „Oh, und dann tauchte dein Freund auf, dieser Isaac“, hatte sie sich jetzt in einen Lauf geredet, und Tann horchte erstmals auf. „Hat sich splitterfasernackt ausgezogen und ist ins Wasser. Vor uns allen! Da hättest du mal sehen sollen, wie die alle gestarrt und gekichert haben! Wie die kleinen Mädchen, sag ich dir! Sharla meinte auch gleich, ihn mit Lann oder mir – mir! – verkuppeln zu wollen, weil meine Beziehung zu Leah ja nicht echt sein kann, da sie ja tot ist.“


Sie lachte höhnisch. „Aber Hana meinte, dass er angeblich nicht an Frauen interessiert sei, weil er sie abgewiesen habe. Sie sagte, dass er deswegen an Männern interessiert sein müsste, weil es ja unmöglich ist, dass ein Mann nicht an ihr interessiert sein könnte. Kannst du sowas glauben?“
     Tann wollte es gerne glauben.
     „Tatsächlich?“, begann er vorsichtig. „Das wusste ich ja gar nicht. Das hat er mir gar nicht erzählt.“
     „Ja, sie meinte, er hätte ganz verängstigt auf ihre Annäherung reagiert.“
 

So wie damals bei Ida.
     Tanna zuckte mit den Schultern. „Aber wahrscheinlich behauptet Hana das bloß, weil sie nicht damit klarkommt, dass nicht jeder Mann an ihr interessiert ist. Obwohl sie ja sagte, dass er bei einer anderen Frau auch so reagiert hätte. Der, die im Handelsposten zu Gast ist.“
     Tann war so sehr damit beschäftigt, diese Neuigkeit zu verdauen, dass er gar nicht sah, wie Tanna ihn plötzlich anstarrte.
 

„Ich wollte dir ja eigentlich sagen, dass du dich vielleicht mal an Lann halten solltest, aber dann fiel mir ein, dass du mir gar nicht erzählt hast, dass du ja bereits eine neue Freundin hast.“ Sie grinste von einem Ohr zum anderen. „Sag, wie ist denn ihr Name?“
     Und da war Tann doch wieder von der Frage abgelenkt, ob es tatsächlich möglich sein könnte, dass Isaac an Männern interessiert war. Von der Frage, ob er vielleicht tatsächlich eine Chance bei ihm haben könnte.
 

Wulfgar lachte lang und herzlich, wie er es seit viel zu langer Zeit nicht mehr getan hatte, nachdem Greta ihm erzählt hatte, dass Isaac angeblich an Männern, vielleicht sogar an ihm interessiert war.
     „Gefällt er dir denn nicht?“, fragte seine Schwester beunruhigt.
     „Doch, schon. Ich war damals sogar richtig verschossen in ihn, und ich hab wirklich gedacht, dass er mich auch mögen würde. Aber dann bin ich fast in sein Stelldichein mit seiner späteren Frau reingeplatzt.“ Er sah sie eindringlich an. „Er hatte mal eine Frau, Greta.“
     „Ich weiß. Aber das heißt ja nichts; das weißt du selber. Wenn du damals nicht weggegangen wärst, hättest du dir wahrscheinlich auch eine Frau nehmen müssen. Weil unsere Eltern das so wollten. Vielleicht ist es ihm genauso ergangen und er war eigentlich doch an dir interessiert.“


Plötzlich leuchteten ihre Augen, wie er es zuletzt gesehen hatte, als sie ihm damals von Lu erzählt hatte. Das gefiel ihm überhaupt nicht.
     „Stell dir mal vor, er hätte dich auch gemocht! All die Jahre hat sich sein Herz nach dir gesehnt, und jetzt ist er endlich wieder mit dir vereint! Jetzt hat er endlich eine Chance, mit der Liebe seines Lebens zusammen zu sein!“
     „So schwer es mir fällt, deine Euphorie dämpfen zu müssen, aber das ist nicht der Fall. Isaac ist nicht an mir interessiert. Das war er nie. Er ist nicht mal an Männern interessiert, egal, was du und die anderen Frauen auch glauben mögen.“
     „Und das weißt du so genau?“
     „Er hat mir das nicht gesagt und ich habe auch nicht nachgefragt, falls du das meinst.“
     „Also weißt du es gar nicht! Es kann also doch sein!“, unterbrach sie ihn aufgeregt.
 

„Ich weiß es natürlich nicht direkt, aber du kannst mir schon vertrauen, wenn ich dir sage, dass es so ist. Ich habe damals zwar keinen blassen Schimmer von solchen Dingen gehabt, aber inzwischen kann ich recht gut sagen, ob ein Mann potentiell an mir interessiert wäre oder nicht.“
     „Und woher?“
     „Ich hab das halt im Gefühl.“
     „Im Gefühl. So. So“, entgegnete sie, schüttelte den Kopf, dass er gleich wusste, dass sie nicht überzeugt war. „Das überzeugt mich nicht“, bestätigte sie es. „Wenn es so einfach wäre, dass man immer bemerkt, wenn jemand an einem interessiert ist, müssten wir dieses Gespräch nicht führen. Nein, ich glaube viel mehr, dass er einfach nur sehr vorsichtig ist und du es deshalb nicht bemerkt hast, dass er nicht an Frauen interessiert ist. Oder wie erklärst du es dir, dass er die Avancen von Hana und dieser anderen Frau abgewiesen hat?“


„Hör mal, Schwesterchen, ich weiß ja, dass du gerne denkst, dass es keine anständigen Männer gibt, aber da muss ich dich leider enttäuschen. Entgegen dem Mythos gibt es durchaus Männer, die nicht dauernd an Sex denken. Und es kommt auch vor, dass Mann Frau abweist, weil er nicht an ihr interessiert ist. Das heißt aber nicht gleich, dass er generell kein Interesse an ihrem ganzen Geschlecht hat. Und Isaac ist so einer. Weißt du, auf seiner Insel laufen sie fast alle unbekleidet herum, da hab selbst ich manchmal – heimlich – bei den Kerlen geguckt. Aber Isaac hat das nie getan. Weder bei den Frauen, noch bei den Männern. Er war zu allen immer höflich und anständig, weil er einfach nur überaus anständig ist. Das ist alles. Ich hab nicht mal bemerkt, dass er überhaupt an seiner Frau interessiert war, bis sie dann plötzlich zusammen waren.“
 

„Trotzdem hast du keine Beweise dafür, dass das auch wirklich so ist, außer deinem Gefühl. Du hast selber gesagt, dass du heimlich geguckt hast. Das kenne ich ja schon von dir, dass du das gut kannst, ohne, dass es jemand mitbekommt. Und so könnte es auch bei ihm sein. Dass es einfach niemand - auch du nicht - nicht mitbekommen hat.“
     Plötzlich stand sie wieder vor ihm, sah ihn aufgeregt an. „Du solltest also nicht einfach annehmen, dass es so ist, obwohl du es gar nicht weißt, sondern es herausfinden!“
     „Du solltest aber auch nicht einfach etwas annehmen, was du nicht sicher weißt. Und außerdem möchte ich eigentlich auch nicht herausfinden, wer von uns jetzt recht hat, weil ich gar kein Interesse mehr an ihm habe.“
 

„Naja, das kann ja wiederkommen…“
     „Nein. Wir sind nur noch Freunde, und so will ich auch, dass es bleibt.“
     Es war wieder wegen Lu, wusste Greta. Weil er sich noch immer Hoffnungen bei ihm machte und ihm nachlief. Dabei hätte sich Greta gewünscht, dass ihr Bruder sich endlich jemanden suchte, der besser zu ihm passte und der besser zu ihm war. Aber das sagte sie natürlich nicht. Sie wusste schließlich, dass Wulfgar sauer sein würde, wenn er erführe, was sie eigentlich über seinen heiligen Lu dachte.
     „Deswegen“, fuhr er fort. „Lass es gut sein wegen Isaac, ja?“
 

Während anderswo über ihn geredet wurde, war Isaac gerade dabei, den Raum zu suchen, den Cordelia mit ihrer Tochter Adelaide bewohnte.
 

Er hatte das erste Mal an diesem Morgen Bekanntschaft mit diesen beiden machen dürfen. Als er gerade den ersten Gang des Tages angetreten war, war er Zeuge von einem sehr lauten und sehr unfreundlichen Gespräch zwischen Cordelia und ihrer Tochter geworden. Oder besser gesagt, er war Zeuge davon geworden, wie die Mutter die arme Tochter angeschrien hatte, die währenddessen keinen Mucks von sich gegeben und nur verängstigt ihre Füße angestarrt hatte.
 

Obwohl die ältere Frau bei ihnen gewesen war, die Tann ihm damals abgenommen hatte – Ida, soweit er sich erinnerte – war er dazwischengegangen und hatte versucht, die Gemüter zu beruhigen. Doch die Mutter hatte ihn kaum ausreden lassen, war ihn barsch und laut angegangen, dass er sich raushalten solle, bevor sie einfach davongerauscht war.
     Er erinnerte sich noch, wie das Mädchen, noch immer ganz eingeschüchtert, ihn scheu angelächelt hatte, aber sie hatte kein Wort an ihn verloren. Ganz die Mutter, war sie stattdessen einfach gegangen.
 

„Was hat das Mädchen denn verbrochen, dass sie solch eine… laute Standpredigt verdient hat?“, hatte er Ida gefragt, obwohl er ein bisschen Angst vor ihr gehabt hatte.
     „Oh, nichts hat sie getan. Aber meine Schwester braucht auch keinen Grund, um ihre Tochter anzuschreien. Das arme Mädchen hat es wahrlich nicht leicht mit ihr. Ich habe schon so oft versucht, zu intervenieren, aber…“ Sie schüttelte heftig den Kopf, dass die Haare flogen. „Du hast ja selber gesehen, dass das vergeblich ist.“
      Isaac hatte das nicht verstehen können – er tat es immer noch nicht. Wie konnte man nur sein Kind derart schlecht behandeln?
 

Deswegen war er auch ein bisschen verstimmt gewesen, als er auf Eris‘ freundliche Bitte hin sein Morgengebet in eine schön abgelegene Bucht hatte verlegen wollen und dort ausgerechnet die laute Mutter am Strand vorgefunden hatte. Allein ihr hörbares Weinen hatte ihn auf sie aufmerksam gemacht, sodass er seine Sachen gleich anbehalten hatte und darum herumgekommen war, sich vor den Ortsansässigen zu entkleiden. Wie er dank Eris inzwischen wusste, galt es hier als „zutiefst peinlich und beschämend“, sich vor anderen so zu zeigen, wie der Schöpfer sie alle geschaffen hatte.
 

Obwohl die laute Mutter ihm höchst suspekt war, war er dennoch zu ihr hinübergegangen, hatte behutsam gefragt: „Alles in Ordnung?“
     Sie war heftig zusammengezuckt und so gestochen zurückgefahren, dass sie beinahe über ihre eigenen Beine gestolpert war. Ihre Augen und ihre Nase hatten rosa geleuchtet, aber ihr Gesicht hatte nach einem kurzen Schrecken gleich wieder Ablehnung gezeigt. Es hatte ihn viel zu sehr an Shana erinnert gehabt, dass sich ihm gleich ein Kloß im Hals gebildet hatte.
     „Was willst du von mir? Verfolgst du mich etwa? Lass mich in Frieden!“, hatte sie gefaucht.
     „Ich wollte nicht stören. Ich hatte nur die Sorge, dass dir vielleicht nicht ganz wohl ist.“
     „Mir fehlt nichts. Und jetzt verschwinde!“
     Sie hatte den Blick abgewandt, aber Isaac hatte es gesehen. Nur einen klitzekleinen Augenblick lang war es da gewesen, und er hatte es bemerkt.  
     „Ist es wegen deiner Tochter?“


Da war es erneut gewesen. Ertappt. Sie hatte ihre Maske sofort wieder aufgesetzt gehabt, aber er hatte gewusst, dass er recht mit dem gehabt hatte, was er zuvor in ihrem Gesicht zu sehen geglaubt hatte: Schuld.
     „Ich sagte, lass mich in Ruhe! Das geht dich nichts an!“
     „Als du sie letztens angeschrien hast, dachte ich wirklich, du wärst eine fürchterliche Mutter, dass du dein Kind so schändlich behandelst, aber so ist das gar nicht, habe ich recht? Eigentlich kümmerst du dich sehr um sie.“
     Sie hatte ihn angestarrt. Nicht gewusst, was sie auf ihre Entlarvung hatte sagen sollen.
 

„Ich weiß, wie das ist“, war es plötzlich aus ihm herausgeplatzt, und er war selber ein bisschen erschrocken darüber gewesen. „Manchmal… tut man Dinge, die sie nicht verstehen. Etwas, für das sie uns hassen. Um sie zu beschützen. Ich weiß, wie das ist“, hatte er monoton wiederholt.
     Er hatte es in ihren Augen gesehen. Dieselbe Schuld, die auch er trug, und da hatte er sich ihr einfach nur noch anvertrauen wollen. Doch sie hatte das scheinbar nicht so gesehen. So, wie er sich letztendlich keiner Fremden anvertraut hätte, würde auch sie das nicht tun. Sie war auf Abstand gegangen.
 

„Was willst du von mir?“, hatte sie wieder garstig gefragt. „Willst du mir etwa an den Rock?“
     „Nein!“
     „Du scheinheiliger Kerl! Glaubst du etwa, ich bin blöde? Ich weiß doch, was du willst! Bleib, wo du bist oder ich schreie!“
     Isaac war vorsichtshalber auf Abstand gegangen, und sie hatte ihn so böse angestarrt, dass er überlegt hatte, die Flucht zu ergreifen. Aber dann war doch sie es gewesen, die ihn hatte stehen lassen.
 

Er war ja froh gewesen, als sie fort gewesen war, musste er zugeben. Sie hatte ihn wirklich viel zu sehr an Shana erinnert gehabt.
     Auch wenn er nicht verleugnen konnte, dass sie ihn neugierig gemacht hatte. Hatte er wieder nur etwas falsch aufgefasst gehabt und war sie doch nur eine schlechte Mutter?
 

Oder hatte er recht gehabt?


Und wenn dem so war: Was war es, das sie verheimlichte?
 

Jedenfalls hatte es ihn nicht losgelassen, weshalb er jetzt, kaum, dass er von seinem Morgengebet zurückgekehrt war, auf der Suche nach ihr war. Die kleine Essensküche, in der sie für gewöhnlich um diese Zeit arbeitete, war nur von ihrer Tochter besetzt gewesen, die sie nach oben ins Wirtshaus geschickt hatte, wo sich die Zimmer befanden, in denen die Gäste und Angestellten des Handelspostens lebten. Das Wirtshaus selber war, wie gewöhnlich um diese Uhrzeit, leer, aber dafür hörte er schon, als er den oberen Treppenabsatz erreicht hatte, wo sich wohl das gesuchte Zimmer befand. Da war wieder einer am Schimpfen. Eine Frau.
 

Also ging er näher ran, aber als er vor der Tür stand, aus dem der Lärm kam, erstarrte er.
     „…verdammt noch mal, nicht so schwer sein, einen verfluchten Mann zu finden! Ich bin extra in diese hinterwäldlerische, gottverlassene Gegend gekommen, um ihn raus zu locken! Und ihr könnt ihn nicht finden! Wofür bezahle ich euch eigentlich? Wenn ihr ihn nicht findet, seid ihr als nächstes dran, das schwöre ich euch! Also findet ihn! Findet diesen vermaledeiten Hurensohn Elim endlich!“
     Er hörte leiseres Gemurmel, und schon als er den Anfang des Geschreis gehört hatte, war ihm klar gewesen, dass er das lieber nicht hätte hören sollen.
 

Doch anstatt zu gehen, war er geblieben, hatte gelauscht, und als sich jetzt die Tür öffnete, hatte er den Salat. Er wurde natürlich entdeckt. Da sah ihn plötzlich ein Mann mit feindseligen Augen an, den er zuvor noch nie hier gesehen hatte. Ihm folgt eine jüngere Frau, die noch ein halbes Kind war, wie es aussah. Und schließlich stieß die alte Frau namens Ida hinzu, der er doch eigentlich lieber aus dem Weg hatte gehen wollen.
 

Die ersten beiden sahen schon bedrohlich genug aus, aber auch wenn Ida lächelte, als sie ihn sah, wirkte sie noch gefährlicher, und es lief ihm bei diesem Anblick eiskalt den Rücken runter.
     Die beiden anderen sahen jetzt zu, dass sie wegkamen, während er allein mit Ida gelassen wurde.
     „Oh, ein Besucher“, begann sie zuckersüß, dass er am liebsten weglaufen wollte. „Was verschafft mir die Ehre deines Besuches?“
     „Ich wollte die Frau besuchen, die hier wohnt. Also die, die unten in der Küche kocht“, purzelte es beinahe auf Kommando aus ihm heraus.
 

„Meine Schwester?“, fragte sie überrascht. „Was hast du denn mit meiner lieben Schwester zu schaffen? Sag bloß, dass du ein Auge auf sie geworfen hast.“
     „N-nein! So ist das nicht! Ich will nur mit ihr reden.“
     Sie grinste amüsiert. Sie glaubte ihm nicht. Vielleicht spielte sie auch nur mit ihm; er konnte es nicht sagen.
 

„Meine liebe kleine Schwester ist gerade nicht da, aber was hältst du davon, wenn wir beide hinuntergehen und uns ein Schlückchen Wein gönnen, dass du mir erzählen kannst, was du von meiner lieben Schwester willst?“
     Das war keine Frage, wusste er. Er wollte alles andere, als das, aber er konnte gar nicht anders, als zu nicken. Er hatte plötzlich so eine unheimliche Angst vor ihr, obwohl er nicht  einmal wusste, warum. Also zwang er sich, sich zusammenzureißen. Was befürchtete er denn schon? Dass sie ihn wieder überfallen würde? Wahrscheinlich sah er nur Gespenster und das, was er nicht hätte hören sollen, war bestimmt nur ganz harmlos.
     Oder?
 

Es war nach dem Mittagessen, dass Wulfgar Lu abfing. Lu war ja ein bisschen überrascht, dass Wulfgar, der ihn die letzten paar Tage auffällig in Ruhe gelassen hatte, jetzt so plötzlich bei ihm auftauchte. Er war ja froh, dass sein ehemaliger Gefährte scheinbar gut über die Trennung hinweggekommen war und ihm nicht nachlief, aber gleichzeitig konnte er auch nicht verhindern, dass er tief drinnen ein bisschen verstimmt war. Denn er wusste ja, warum Wulfgar ihn in Ruhe gelassen hatte. Wo er die letzten paar Tage gewesen war: bei diesem Isaac.
     „Hey, Lu, ich muss dich mal um einen Gefallen bitten“, fing er ohne Umschweife an. „Da du ja jetzt Klein-Wulfs Vater bist, könntest du ihn vielleicht mal drum bitten, mich heute Abend zum Wirtshaus zu begleiten?“
 

„Warum?“, fragte Lu irritiert. „Willst du ihn etwa zu deinem… Stammtisch mitnehmen?“
     „So sieht es aus.“
     Lus Verstimmung wuchs. Er ahnte ja, auf was das hinauslief.
     „Ich werde ihn ganz sicher nicht darum bitten, dass er sich mit dir betrinken geht! Du weißt doch, dass er gerade versucht, trocken zu werden!“
     „Ich will ja auch nicht mit ihm trinken. Ich will, dass er sich endlich mit seinem Vater – ich meine mit Isaac ausspricht.“
     Er hatte es ja geahnt.
     „Ich glaube nicht, dass das momentan so eine gute Idee ist.“
     „Warum nicht?“
     „Weil er gerade gar nicht in der Verfassung dazu ist, sich mit… ihm auseinanderzusetzen. Du hast doch selber gesehen, wie schlecht es ihm momentan geht.“
 

„Deswegen ja. Ich glaube, dass es ihm helfen wird, vom Alkohol loszukommen, wenn er sich endlich mit seinem Vater ausspricht. Also, seinem alten Vater, meine ich“, fügte er rasch hinzu. „Du denkst doch auch, dass Isaac ein Grund ist, warum er überhaupt das Trinken angefangen hat, oder?“
     „Da hast du recht. Aber ich sehe trotzdem nicht die Notwendigkeit dazu. Es geht ihm vielleicht gerade schlecht, aber er schlägt sich dennoch gut. Er gibt nicht auf. Kämpft. Und ich bin mir sicher, dass er es diesmal schaffen wird. Aber wenn er jetzt mit diesem Isaac konfrontiert wird, dann habe ich eher die Sorge, dass er wieder rückfällig werden könnte. Verstehst du?“
     „Ich verstehe das, aber… es geht mir, ehrlich gesagt, nicht nur um ihn.“
     Lu konnte nicht verhindern, dass er missbilligend die Lippen schürzte. „Du kannst das Wohl von diesem Isaac doch nicht über sein Wohl stellen!“
     „Das mache ich doch auch gar nicht“, versuchte Wulfgar zu beschwichtigen. „Du missverstehst mich, Lu. Lass mich dir erklären, bevor du mich gleich verurteilst. Siehst du, ich mache das nicht nur für Isaac, sondern auch für Klein-Wulf selber. Damit du das sehen kannst, musst du erstmal verstehen, wie wichtig den Leuten von Lao-Pao – das ist der Ort, wo die beiden herkommen – “
     „Ich weiß das.“
 

„Du musst also erst mal verstehen, wie wichtig denen dort die Familie ist. Ich kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass auch hier die Familie das Wichtigste ist, aber dort ist das noch viel mehr der Fall. Sie ist ihnen heilig – nein göttlich. Das geht so weit, dass eine Familie wie eine Person gesehen wird. Heißt, dass alle Familienmitglieder für die Leistungen und Verfehlungen eines einzelnen verantwortlich gemacht werden. Verbricht jemand was, hat die ganze Familie des Geschädigten ein Recht auf Vergeltung, ebenso müssen alle Familienmitglieder des Täters bezahlen. Was sie tun, indem sie entweder für den Täter kämpfen, selber sühnen oder dem Beschuldigten die ultimative Strafe angedeihen lassen – den Tod. Ja, selbst für kleine Dinge wie Diebstahl kann man dort leicht von seiner eigenen Familie getötet werden.“
 

„Eine ganz besondere Bindung innerhalb einer Familie wird dabei dem Vater mit dem Sohn und der Mutter mit der Tochter zugedacht. Es gibt dort ein Sprichwort, das sagt: „Sieh dir den Vater an und du kennst den Sohn, sieh dir die Mutter an und du kennst die Tochter.“ Das heißt, dass sie glauben, dass alle Eigenschaften des jeweiligen Elternteils auf das Kind übergehen. Ohne Wenn und Aber. Ist dein Vater ein schlauer Mann, musst du das als Sohn auch sein, ist deine Mutter hübsch, musst du das als Tochter auch sein. Andersherum heißt das aber auch, dass einer Tochter, deren Mutter eine Lügnerin ist, niemand dort je vertrauen wird. Ebenso kann der Sohn eines untreuen Vaters vergessen, jemals selber einen Partner zu finden.“
 

„Die Kinder können solche Makel nur loswerden, indem sie das jeweilige Elternteil töten oder sich von ihm lossagen. Aber danach müssen sie auch jemanden finden, der bereit ist, sie in ihre Familie aufzunehmen, denn familienlos zu sein – ob man jetzt von den Eltern verstoßen wurde oder sich selber von ihnen losgesagt hat – ist dort die größte Schande.  
     Verstehst du, was ich damit sagen will? Wulf hat dieses Risiko auf sich genommen, die größte Schande, indem er die Verbindung zu seinem Vater – Isaac – gekappt hat. Dass er das gemacht hat, bedeutet, dass etwas Gravierendes vorgefallen sein muss. Etwas, das ihn so sehr belastet hat, dass es ihn zum Trinken gebracht hat.“
 

Lu brauchte eine Weile, um all das zu verarbeiten, dann fragte er: „Und was soll das sein?“
     „Ich weiß es nicht. Ich habe versucht, es von Isaac zu erfahren, aber er hat es mir nicht gesagt. Er verheimlich mir etwas, das kann ich sehen. Und deshalb bitte ich dich darum, Wulf dazu zu bekommen, heute Abend mit mir zum Wirtshaus zu gehen, damit er und Isaac sich aussprechen können.“
     Lu nahm sich die Zeit, gründlich nachzudenken. Er sah Wulfgars Argumente, aber er hatte einfach Sorge, dass die ganze Aktion nach hinten losgehen würde und Wulf am Ende mehr Schaden als Nutzen davontragen würde. Und das konnte er nicht zulassen. Nicht, wo er ihm doch versprochen hatte, auf ihn aufzupassen. Nicht, wo er doch jetzt sein Vater war.
     „Tut mir leid, aber als sein Vater habe ich die Pflicht, auf ihn achtzugeben. Und ich denke immer noch, dass das kontraproduktiv für seinen Entzug sein wird.“
 

„Dann tu es für mich“, kam Wulfgar plötzlich an.
     „Für dich? Was hast du denn jetzt damit zu schaffen? Ich weiß ja, dass dieser Isaac dein Freund ist, aber…“
     „Es geht mir nicht um Isaac. Es geht mir um seine ganze Familie. Weißt du, als ich damals dort gelebt habe, habe ich mich immer ein bisschen als Teil dieser Familie gesehen. Und als ich das Isaac letztens sagte, sagte er mir, dass er mich auch immer als Teil seiner Familie gesehen hat. Weißt du, was das bedeutet? Isaac ist als ältester Sohn des alten Familienoberhauptes das neue Familienoberhaupt, und indem er das gesagt hat, hat er mich offiziell zum Teil seiner Familie gemacht. Das ist eine große Ehre für mich als Außenstehenden.“
     „Aber du hast doch schon eine Familie“, merkte Lu an.
     „Ich kann gut und gerne Teil mehrerer Familien sein. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass das jetzt auch meine Familie ist. Und wenn es in meiner Familie so drunter und drüber geht, wenn etwas so sehr im Argen ist, kann ich nicht einfach stillsitzen, verstehst du? Ich muss etwas machen.“
 

Lu verstand das, auch wenn er das nicht gerne sah. Nicht nur, dass er es nicht gerne sah, dass Wulfgar so viel mit Isaac zu tun hatte, wollte er Wulf ja auch nicht damit hineinziehen. Er war immer noch der Meinung, dass es zu früh war, um ihn mit Isaac zu konfrontieren.
     Aber er sah auch, wie wichtig das Wulfgar war, und – verdammt noch mal, er benahm sich ja beinahe wie ein eifersüchtiger Liebhaber – weshalb er schließlich nachgab.
 

„In Ordnung. Ich werde mit ihm reden.“
     „Danke, Lu. Das bedeutet mir viel.“ Wulfgar lächelte, dass es Lu irgendwie ein bisschen naheging. Dann sah er aber plötzlich so aus, als wäre er lieber ganz woanders, und da schwante ihm schon böses. „Und da gibt es noch was…“
     „Was denn?“
     „Würdest du auch mitkommen? Wenn ich Klein-Wulf einfach so mitnehme, wird das nicht anders laufen als die vielen Male, wo ich versucht habe, mit hm zu reden. Aber wenn du dabei bist, wird er sich vielleicht zurückhalten.“
     Lu wollte alles andere, als mit Wulfgar zu diesem merkwürdigen Isaac gehen zu müssen. Es war noch immer merkwürdig für ihn, mit seinem ehemaligen Gefährten zu tun zu haben. Ihm so fern zu sein.
     Aber nichtsdestotrotz würde er ihm diesen Gefallen tun. Das war er ihm schuldig. 
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Soviel will ich jetzt gar nicht mehr schreiben, da ich sonst wahrscheinlich spoilern würde ohne Ende. Ich wollte das Kapitel eigentlich auch gleich nach dem eigentlichen enden lassen, nämlich nachdem Isaac gehört hat, was er nicht hätte hören sollen, aber dann hätte sich das ein bisschen mit dem nächsten Kapitel gebissen. Denn nächstes Mal kommt Jade zu Besuch, doch ihre Gedanken sind gerade ganz woanders, sodass sie leider nicht daran denken wird, irgendjemanden wegen der ganzen Sache mit Nila und seinem Mord an Lin Bescheid zu sagen.
 
Bis dahin, danke euch fürs Vorbeischauen, passt auf euch auf, und ich verabschiede mich!

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